Dispute

Über Sinn und Zweck von Schule und ihr Bezug zum Arbeitsmarkt.
Der falsche pädagogische Ansatz der kognitiv-selektierenden Schule in Deutschland



Hallo Harald,

habe den artikel aufmerksam gelesen.

Ich finde deine analyse im ersten teil richtig.

Deine Alternative ist aber falsch, denn:

  • ein mindesteinkommen im staatlichen sektor würde jede motivation sich (weiter) zu qualifizieren untergraben

  • schule z.bsp. würde überhaupt keinen sinn mehr machen (macht sie zur zeit eh kaum noch)

  • du gehst von der alten marxistischen logik aus: freiheit ist die einsicht in die notwendigkeit, leider hat der untergegangene sozialismus in der ddr und der sowjetunion diese these widerlegt

  • woher hast du die zahl von 400 milliarden steuerhinterziehung?

  • selbstbestimmung und staat passt nicht zusammen

  • wer beurteilt wie, was jemand leistet?

  • was geschieht mit denjenigen, die jedwede leistung verweigern?

  • ist nicht Hartz IV mit den 1 Euro - Jobs deinem Modell schon sehr nahe?


  • Das Problem vereinfacht ist: der sozialismus ist gescheitert und der kapitalismus fährt vor die wand, das auszuhalten ist nach günther hees nur mit gottvertrauen möglich, und das fehlt uns beiden..... leider!

    liebe grüsse Josef

    Rot's Fröntle!!!

    Zitat aus dem Artikel Die große Lüge

    Ich behaupte, dass für jeden Menschen eine für die Gesellschaft nützliche Aufgabe gefunden werden kann, die er selbst für sinnvoll hält, die ihn fordert und deren Bewältigung ihm das Selbstbewusstsein gibt, ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu sein. Die Arbeitsunwilligkeit eines Teils der Arbeitslosen reflektiert weniger deren Charakterlosigkeit als die Tatsache, dass diesen Menschen keine Aufgabe gestellt wird, mit der sie sich identifizieren können. Wenn der staatliche Arbeitssektor entsprechend organisiert wird, wird auch die Arbeitsunwilligkeit zurückgehen. Ein riesiges, bisher kaum genutztes, aber sinnvolles Betätigungsfeld wäre z.B. die Straßenbetreuung von der Baumpflege bis hin zur Tätigkeit eines streetworkers, die der Verantwortliche – und das ist wichtig - in Eigenregie und selbstbestimmend organisieren kann Der staatliche Arbeitssektor hat nicht die Funktion des Versorgungsstaates. Er ist auf das selbstbestimmte Tun seiner Mitglieder angewiesen. Es geht nicht um die Verbeamtung eines großen Teils der Gesellschaft, die in einer hierarchischen Struktur die Eigeninitiative unterdrückt und die Menschen zu Versorgungsempfängern macht. Wer nichts leistet, dem steht auch nichts zu. Aber jeder Mensch, der entsprechend seiner Fähigkeit eine gesellschaftlich nützliche Aufgabe erfüllen kann, soll auch das Recht bekommen diese zu erfüllen, mit dem Anspruch auf ein Mindesteinkommen.


    Lieber Josef,

    wunderbar! Du gehörst neben Rube zu meinem 2. Leser, der endlich einmal reagiert und Stellung bezieht. In der Sache allerdings habe ich Einwände gegen deine Einwände.

  • ein mindesteinkommen im staatlichen sektor würde jede motivation sich (weiter) zu qualifizieren untergraben
  • schule z.bsp. würde überhaupt keinen sinn mehr machen (macht sie zur zeit eh kaum noch)


  • Mir ist nicht ganz klar, warum ein Mindesteinkommen im staatlichen oder kommunalen Sektor jede Motivation sich (weiter) zu qualifizieren, untergraben soll. Ich verstehe nicht, warum überhaupt die Höhe des Gehalts die Motivation zur Weiterbildung erzeugen soll. Wenn wir Lehrer uns zur Fortbildung entschließen und diese gar einfordern, so doch nicht deshalb, um in eine höhere Gehaltsstufe zu kommen! Uns interessiert doch primär die Qualität unserer Arbeit und nicht deren Bezahlung, die allerdings hoch genug ist, dass wir nicht nach mehr Geld gieren müssen. Wenn überhaupt, dann wäre nur eine zu schlechte Bezahlung, die keinen ausreichenden Lebensstandard mehr ermöglicht, ein Motivationsgrund zur Höherqualifikation. Aber ein solcher Grund wäre doch der am wenigsten wünschbare. Wir wünschen uns doch keine Lehrer, die sich nur deshalb qualifizieren, um auf der Karriereleiter voranzukommen oder um mehr Geld zu bekommen. Zweifellos gibt es diese Spezies auch in unserer Berufsgruppe. Aber sind denn ausgerechnet diese Typen die besseren Lehrer?

    Mich wundert, dass du den Anreiz der Gehaltshöhe als den eigentlichen Motivationsgrund zur Leistungsbereitschaft siehst und dir der Sinn von Schule gar abhanden kommt, wenn dieser Anreiz fehlt. Zeigen wir denn nur Leistungsbereitschaft, wenn wir dafür Geld bekommen und mehr Leistungsbereitschaft mit höherem Gehalt? Das tun wir doch nur dann, wenn uns die Arbeit zur Fron wird und diesen Verlust an Lebensqualität durch Geld kompensieren müssen, um wenigstens die Freizeit auf anspruchsvollere Art genießen zu können.

    Aber muss denn jede Arbeit zur Fron werden? Gibt es nicht auch Arbeit, die Freude bereitet, die einen ausfüllt, mit der man/frau sich identifizieren kann, in der die gestellte Aufgabe zur eigenen Aufgabe gemacht werden kann, in der sich der Arbeitende verwirklichen kann? Meine These wenigstens ist, dass die Höhe der Bezahlung um so weniger eine Rolle spielt, je mehr sich der Arbeitende in seiner Arbeit verwirklichen kann. Ich denke, du wirst meiner These gar nicht widersprechen wollen. Du bezweifelst offensichtlich nur, dass Staat und Kommune derartige Arbeitsplätze zur Verfügung stellen können.

  • selbstbestimmung und staat passt nicht zusammen


  • Warum passen Selbstbestimmung und Staat nicht zusammen? Am Lehr- und Lernort Schule zeigt sich doch, wie Beides zusammenpassen kann. Trotz aller staatlicher Richtlinien bleibt dem Lehrer (dem Schulpsychologen, dem Sozialpädagogen) doch ein großer Gestaltungsraum, in dem er sich verwirklichen kann. Das gilt ebenso für den Schüler, der den Lernort Schule nur dann als Ort der Entfremdung erfährt, wenn etwas schief läuft, wenn er die Lerninhalte nicht mehr zu eigenen machen kann, wenn Schule zur Fron für Lehrer und Schüler geworden ist, und das ist dann der Fall, wenn weder Lehrer noch Schüler Einsicht in die Notwendigkeit ihres Tuns haben und ihre Tätigkeit nur noch als Zwang erfahren, weil sie ihrer Rolle nicht gerecht werden oder gerecht werden können, wenn sie überfordert sind. Aber ist das der Nomalfall? Trotz aller Schulmüdigkeit gilt doch: der Schüler lernt gerne, wenn der Lehrer gerne lehrt und vice versa.

    Eben sowenig wahr ist es (was deine Auffassung von Schule nahe legt), dass der Schüler nur lernt, wenn er Noten bekommt. Meine Erfahrung ist, dass nur die schlechten Schüler nach Noten gieren. Der Schüler schielt um so weniger nach guten Noten, je mehr er von der Sache gepackt ist und diese zu seiner eigenen Sache macht. Die guten Noten kommen dann automatisch. Aber sind Noten überhaupt so wichtig? Sind sie nicht gar kontraproduktiv, wenn es darum geht, intrinsisch zu motivieren? Die Waldorfschulen zeigen uns doch, dass Schule auch ohne Noten gut funktionieren kann.

    Es kann ja sein und es ist ja offensichtlich auch so, dass die Wirtschaft keinen Wert mehr auf gereifte Persönlichkeiten legt, sondern nur noch auf Menschen, die in ihrem Interesse optimal verwertbar sind. Und es wird sicherlich zu einem Problem, wenn unsere Schüler im Vergleich zu anderen Ländern auch in ihren verwertbaren Fähigkeiten nur noch unterdurchschnittliche Leistungen zeigen. Wenn allerdings der Staat daraus die falsche Konsequenz zieht, die Lernökonomie zu straffen, die nichtverwertbaren Leistungen streicht, die Schulzeit verkürzt, sie mit dem Kindergarten beginnen lässt, den Input erhöht, um einen messbar höheren Output zu erzielen, dann legt er auf die Reifung der Persönlichkeit, die sich nicht beschleunigen lässt, keinen Wert mehr und wir sind sehr schnell bei jenem restringierten Begriff von Schule angelangt, der dir vorzuschweben scheint (ich kann mir eigentlich gar nicht vorstellen, dass du wirklich so denkst).

    Möglicherweise sind deine Worte gar nicht so gemeint, wie ich sie verstanden habe. Wahrscheinlicher ist, dass du bei deinem Einwand gegen die selbstbestimmte Tätigkeit gar nicht an die Lehrer dachtest, auch nicht an dich als Sozialpädagogen, sondern an unsere Klientel, an der wir uns tagtäglich die pädagogischen Zähne ausbeißen, an die 40% des Jahrgangs nämlich, die mit und ohne Hauptschulabschluss auf dem Lehrstellenmarkt keine Stelle mehr finden und die Hauptbetroffenen kommender Arbeitslosigkeit sein werden. Dass ich nun ausgerechnet für diese Gruppe von Menschen, an deren Lern- und Arbeitshaltung wir Lehrer tagtäglich verzweifeln, gerade auch ich verzweifelt bin, und die so schwer intrinsisch zu motivieren sind, eine selbstbestimmte Tätigkeit einfordere, erscheint ja nun nicht nur dir als reichlich lebensfremd.

    Dennoch halte ich an meiner Forderung fest, weil ich zutiefst davon überzeugt bin, dass wir das Potential unserer Schüler nur zu einem sehr geringen Teil in der Schule haben aktivieren können. Das liegt u.a. auch daran, dass wir Lehrer als Mittelschichtsozialisierte über den kognitiven Wahrnehmungskanal senden und empfangen, über den unsere Schüler aus der Unterschicht gar nicht verfügen. Vieles von dem, was wir lehren, geht deshalb im wörtlichen Sinne verschütt. Wir erreichen unsere Schüler nur noch unzulänglich. Die Hauptklientel unserer Schüler wird durch ein ausgeprägtes dichotomes Bewusstsein bestimmt: ihr da oben, die so und so alles bestimmen und wir hier unten, die nichts zu sagen haben und nichts wert sind. Das individuelle Selbstbewusstsein der Mittelschichtenkinder ist ihnen völlig fremd.

    Mir ist das dieser Tage wieder durch den sehr sehenswerten Dokumentar-Film „Rhythm is it“ bewusst geworden. Hier arbeitet ein englischer Tanzpädagoge mit Berliner Hauptschulklassen an der Aufführung von Strawinskys orchestralem Werk „Sacre du Printemps“, das vom Verständnis und vom Musikgeschmack der Hauptklässler unendlich weit entfernt ist. Und nun erleben wir das unglaubliche Wunder, wie es dem Tanzpädagogen gelingt, aus einem Haufen desinteressierter, kichernder, sich nichts zutrauender Bewegungskrüppel eine sehenswerte Tanztruppe zu machen, die das Leben und das Selbstbewusstsein der einzelnen Tänzer qualitativ verändert. Das geht natürlich nicht ohne harte Arbeit, vor allem nicht ohne Krise, die jeder Schüler zu durchstehen hat. Der Tanzpädagoge peitscht ganz bewusst seine Tänzer bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit, so dass die anwesenden Kuschelpädagogen es kaum noch aushalten und eingreifen wollen. Aber ohne Krise und Meisterung dieser Krise ist Selbstbewusstsein nicht zu haben. Am Ende hat sich für die Kinder nicht nur eine ihnen bisher verschlossene Musik- und Bewegungswelt geöffnet, ihr Selbstwertgefühl hat sich derart gesteigert, dass z.B. ein Mädchen aus der Tanzgruppe, dessen Hauptschulabschluss gefährdet war, nunmehr davon spricht, den Realschulabschluss anstreben zu wollen. Ein Film also, von dem wir Gesamtschullehrer sehr viel lernen können. Offensichtlich gelingt es der Schule nur noch auf ungenügende Weise das Leistungspotential der Schüler zu aktivieren. Wenn allerdings unser selektierendes Schulsystem den größten Teil unserer Jugendlichen kognitiv überfordert und die kognitiv Überforderten unter- oder gar nicht mehr fordert, brauchen wir uns über das schlechte Abschneiden unserer Schüler in der PISA-Studie nicht mehr zu wundern. In Polen machen 80% des Jahrgangs das Abitur, bei uns dagegen nur 30%. Das sollte zu denken geben.

    Ich bleibe also bei meiner These: die Leistungsbereitschaft eines jeden Menschen steigt, je mehr er sich mit seinen Fähigkeiten in die ihm gestellte Aufgabe einbringen kann, je größer der Gestaltungsraum der Arbeit ist, die er noch beeinflussen kann. Sie sinkt, je entfremdeter die zu leistende Arbeit ist, je weniger er und seine Fähigkeiten gefragt sind. Darüber hinaus glaube ich, dass jeder Mensch unabhängig von seiner kognitiven Intelligenz über Fähigkeiten verfügt, die er zu Nutz und Frommen der Gemeinschaft einsetzen könnte, wenn sie denn gefragt würden. Das Problem ist nicht der Mangel an Leistungsbereitschaft (den viele Lehrer immer wieder ihren Schülern unterstellen), sondern der Mangel an sinnvollen Aufgaben, die den Menschen fordern, an denen er wachsen kann und deren Bewältigung ihn erfüllen.

    Die Privatwirtschaft kann diesen Mangel nur teilweise und noch dazu unvollkommen beseitigen. Selbst dort, wo sie den Menschen ein interessantes, abwechslungsreiches Betätigungsfeld anbietet und die Menschen gerne arbeiten, so sind diese nur von Interesse, so lange der Profit stimmt. Stimmt er nicht mehr, so verlieren die Menschen ihren Arbeitsplatz, so qualifiziert sie auch sein mögen. Die Persönlichkeit und deren Fähigkeiten haben in der Privatwirtschaft prinzipiell keinen Selbstzweckcharakter. Sie sind hier immer nur bloßes Mittel zum Zweck der Profitmaximierung. Beim Industrieproletariat spielt die Persönlichkeit und deren Fähigkeit so und so keine Rolle. Der Arbeiter kann sich prinzipiell nicht in seiner Arbeit verwirklichen. Für ihn ist deshalb die Höhe des Lohnes der einzige Motivationsgrund seiner Arbeit.

    Allein der öffentliche Arbeitssektor könnte den Mangel prinzipiell beseitigen, in dem er sinnvolle Aufgaben stellt, die die Persönlichkeit und deren Fähigkeiten fordern und zwar zum Zweck des Allgemeinwohls und nicht zum Zweck partikularer Profitinteressen. Dass der Staat dieser Aufgabe nur sehr unvollkommen, noch dazu immer weniger nachkommt, will ich dir ja gern zugestehen. Im hierarchisierten Beamtentum hat sich der Staat eine perfekte Institution geschaffen, um die Leistungsbereitschaft seiner Staatsdiener zu minimieren. Der Fehler ist nicht das Beamtentum als solches, sondern dessen Hierarchisierung, die jede Eigeninitiative erstickt und in der jede Persönlichkeit zum Störfaktor wird.

    Dennoch wird ja gerade in der Schule sichtbar, wie wichtig die Persönlichkeit des Lehrers und dessen Fähigkeiten sind (trotz Klippert!) und je unersetzbarer er wird, je mehr er Persönlichkeit ist. Der Lehrer ist ja nicht nur Unterrichtstechnologe, der den Schülern einen Lehrstoff zu vermitteln hat (auf diesem Feld ist er in der Tat ersetzbar, notfalls sogar durch eine Maschine), sondern Vorbild, Anstoß und Kommunikationspartner im Individuationsprozess seiner Schüler, den er auf entscheidende Weise vorantreiben, aber auch behindern kann. Hier ist die Persönlichkeit des Lehrers fast schon von schicksalhafter Bedeutung für den Schüler, ein Aspekt übrigens, auf den in der Ausbildung zum Lehrer gar kein Wert gelegt wird. Leider, denn der beste Unterrichtstechnologe kann trotzdem zur Katastrophe für die Entwicklung und den Reifeprozess des Schülers werden. Nun ist allerdings die Reifung zur Persönlichkeit ein lebenslanger Prozess und durch keine Ausbildung erlernbar. Aber welche Persönlichkeit in der Schule geeignet und welche nicht, das erkennt man auf Anhieb und ist jedem intuitiv klar.

    Was ich damit sagen will? Nicht jede Persönlichkeit kann jede Rolle im öffentlichen Dienst annehmen, selbst wenn sie es will und das formale Zertifikat dafür hat. Ich z.B. nie die Rolle des Direktors. So kann auch nicht jeder Bewerber schon die Rolle des Streetworkers einnehmen, wenn ihm das nötige Persönlichkeitsprofil dafür fehlt. Ein Hauptschüler mit oder ohne Hauptschulabschluss kann dagegen durchaus über dieses Persönlichkeitsprofil verfügen und diesen Job bestens erfüllen.

    Ich halte nach wie vor an dem Gedanken fest, dass für jeden arbeitswilligen Arbeitslosen, der auf dem Arbeitsmarkt keine Arbeit mehr findet, im öffentlichen Arbeitssektor eine Aufgabe gefunden werden kann, die ihn fordert, die er bewältigen kann, die ihm das Selbstwertgefühl gibt, ein nützliches Glied der Gemeinschaft zu sein. Was auf keinen Fall geschehen darf, ist, dass die zu vergebende Arbeit als bloße beschäftigungstherapeutische Maßnahme aufgefasst wird, die nur den Sinn hat den Arbeitslosen von der Straße wegzubekommen, für den Arbeitsuchenden aber überhaupt keinen Anreiz bildet.

  • wer beurteilt wie, was jemand leistet?


  • In der Regel werden diejenigen die Leistung zu beurteilen haben, denen die Dienstleistung zugute kommt, bei den Streetworkern also die betreute Straße selbst und nicht irgendwelche Kommunalbeamte und Kontrollettis, die womöglich noch mit Stoppuhr die Arbeitszeit messen. Kontrolleure werden umso weniger wichtig, je selbstbestimmter die Arbeit ist. Wichtiger als die Kontrolle der Arbeit ist deren Qualität und die beurteilt der Adressat und am wenigsten der Kontrolleur. Sind die Adressaten mit der Leistung unzufrieden, so werden sie sich um einen anderen Bewerber bemühen müssen.

  • was geschieht mit denjenigen, die jedwede leistung verweigern?


  • Ich betone hier ausdrücklich die Arbeitswilligkeit. Wer nicht leistungsbereit ist – aus welchen Gründen auch immer - , kann vom Staat und damit vom Steuerzahler keine Leistung verlangen. Wenn es nach mir ginge, müsste er seine Leistungsunfähigkeit nachweisen, um Sozialhilfe zu bekommen. Dreiviertel aller Sozialhilfeempfänger sind allerdings nachgewiesenermaßen arbeitsunfähig. Beim letzten Viertel verzichten die Kommunen auf den Arbeitseinsatz, zu dem die arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger schon jetzt rechtlich verpflichtet werden könnten, weil die Kosten zur Kontrolle der Arbeit den Gewinn der Arbeit durch die Sozialhilfeempfänger übersteigen. Im Übrigen gilt: niemand arbeitet gern an einer Aufgabe, die ihm aufgebrummt wird, deren Sinn er nicht einsieht, die seine Fähigkeiten nicht fordern.

    Das Problem sind aber, wie gesagt, nicht die Arbeitsunwilligen, sondern die große Masse an Arbeitswilligen, die auf dem Arbeitsmarkt keine Arbeit und selbst beim konjunkturellen Aufschwung keine Arbeitsplätze mehr finden. Wenn die Wirtschaft für diese Menschen keine Arbeitsplätze mehr anbieten kann, dann muss der Staat oder die Kommune für diese Arbeitswilligen Arbeitsplätze schaffen, zumal die Gesellschaft ein Tätigkeitsfeld für das Allgemeinwohl dringend benötigt. Welche Alternative siehst du denn noch, wenn du meine Alternative verwirfst?

    Die einzige Alternative, die Arbeitslosen wieder zu Lohn und Brot zu verhelfen, wäre die gewerkschaftliche Forderung, die Wochenarbeitszeit radikal zu verkürzen und keine Überstunden mehr zuzulassen – und das ohne Lohnkürzung -, damit die Wirtschaft gezwungen wird, neue Arbeitskräfte einzustellen. Das lässt sich auf dem globalisierten Markt im Rahmen des Nationalstaates nicht mehr durchsetzen. Europa könnte es vielleicht. Dann müsste es allerdings seine industrielle Produktion so vor dem Weltmarkt schützen, wie es den europäischen Agrarmarkt vor der Weltkonkurrenz abschirmt und damit Pflöcke gegen die ungehemmte Globalisierung einschlagen. Gegen das globalisierende Kapital einzuschreiten, traut sich die Politik aber nicht mehr zu.

    Die Antwort der Arbeitgeber auf die Globalisierung, die Wochenarbeitszeit zu verlängern, kann nur zu einer Erhöhung der Arbeitslosigkeit führen, denn nun kann der Arbeitgeber mit weniger Arbeitskräften denselben Warenkorb produzieren wie vorher. Verlängerung der Arbeitszeit ohne Lohnerhöhung bedeutet Senkung des Wertes der Arbeitskraft und damit eine Senkung der Stundenlöhne. Das rechnet sich für den einzelnen Betrieb, nicht aber mehr volkswirtschaftlich, weil nun weniger Geld für die Ankurbelung der Binnennachfrage zur Verfügung steht.

    Wenn der Nationalstaat die Globalisierung der Wirtschaft nicht mehr regeln will oder kann, dann kann er das Problem der Arbeitslosigkeit nur noch dadurch lösen, dass er selbst zum wesentlichen Nachfrager von Arbeit wird. Siehst du noch eine andere Möglichkeit?

  • ist nicht Hartz IV mit den 1 Euro - Jobs deinem Modell schon sehr nahe?


  • Nein! Ganz und gar nicht. Wer im öffentlichen Arbeitssektor eine selbstbestimmte Tätigkeit übernimmt, muss kein übermäßig hohes Gehalt beziehen, dafür aber ein ausreichend hohes, das einen durchschnittlichen Lebensstandard sichert. Es muss also wesentlich über der Sozialhilfe, Mietzuschuss plus 1-€ Jobs liegen, also wesentlich höher als 800€ im Monat, die die Armutsgrenze markieren. Ein Mindesteinkommen von 20000€p.a. erscheint mir angemessen. Eine Unterbezahlung qualifizierter Leistung im öffentlichen Arbeitssektor kann nur zu deren Abwertung führen und das Ein-Euro-Job-Modell führt genau zu dieser gesellschaftlichen Abwertung sinnvoller Arbeit zum Wohl der Allgemeinheit, was nicht sein darf. Der öffentliche Arbeitssektor darf nicht zum 2.Arbeitmarkt für billige, unterbezahlte Arbeitskräfte werden, zumal diese dann einen Druck auf die Gehälter des Öffentlichen Dienstes ausüben.

    Im Übrigen prophezeie ich, dass die Arbeitslosenhilfeempfänger, die mit Hartz IV auf den Sozialhilfesatz heruntergedrückt werden sollen, eher auf den Schwarzmarkt ausweichen als die Ein-Euro-Jobs annehmen werden, um ihren Lebensstandard halten zu können. Denn trotz Unterbezahlung auf dem Schwarzmarkt werden sie dort mehr verdienen als die 200 €, die sie höchstens hinzuverdienen dürfen. Hartz IV wird also genau den gegenteiligen Effekt bewirken: statt das Heer der Arbeitslosen abzubauen, werden zusätzlich 4 Millionen Arbeitslose in den Schwarzmarkt gedrückt und verstärken von hier aus den Druck auf die Löhne des ersten Arbeitsmarktes.

  • du gehst von der alten marxistischen logik aus: freiheit ist die einsicht in die notwendigkeit, leider hat der untergegangene sozialismus in der ddr und der sowjetunion diese these widerlegt


  • Die Definition der Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit stammt übrigens von der bürgerlichen Aufklärung, die jetzt wieder gegen den Islamismus Konjunktur erhält und folgt nicht aus der marxistischen Logik. Gerade Marx hat immer gegen die bürgerliche Moral polemisiert, die glaubt, das Fundament gesellschaftlicher Praxis zu sein, wo doch in Wahrheit diese durch Interessen und Bedürfnisse bestimmt wird. Ein moralischer Sozialismus, der von diesen Bedürfnissen absieht, ist in der Tat zum Scheitern verurteilt, auch und gerade für Marx. Dazu Heiner Müller: „Der Versuch, Marx zu widerlegen begann mit Lenin und endete mit dem Untergang der Sowjetunion.“

    Wie du, so glaube auch ich nicht, dass sich ein Gesellschaftsmodell durchsetzen wird, das auf der bloßen Einsicht in die Vernunft gründet. Mein Modell schließt zwar die moralische Vernunft mit ein, gründet aber nicht auf ihr, sondern auf den Interessen aller Klassen, einschließlich der Kapitalisten. Die Crux ist nur, dass der Kapitalist nicht einsieht, dass die Beibehaltung des Sozialstaates in seinem Klasseninteresse ist und dessen Reduktion oder gar Abschaffung zu Gesellschaftsverhältnissen führt, die auch dem Kapital sehr schlecht bekommen.

  • woher hast du die zahl von 400 milliarden steuerhinterziehung?


  • Eine berechtigte Frage. Die Zahlen, die hier in der Öffentlichkeit kursieren, schwanken zwischen 200 und 400 Milliarden €, wobei mir allerdings auch nicht klar ist, wie diese Zahlen gemeint sind. Drücken diese Zahlen den absoluten Betrag aus, den die Finanzämter zusätzlich bei Steuerehrlichkeit erhalten würden? Oder ist mit diesen Zahlen das zu versteuernde, aber nicht versteuerte Jahreseinkommen gemeint? Dann entgingen dem Staat bei einem Höchststeuersatz von 43% immerhin noch 172 Milliarden Euro, wenn die Steuerhinterziehung bei 400 Milliarden Euro läge. Oder sind hier Vermögenswerte gemeint, die nur deshalb auf ausländischen Konten lagern, um der Zinssteuer zu entgehen? Bekanntlich wird ja nicht das vorhandene Vermögen besteuert, sondern nur der Gewinn, der sich jährlich aus diesem Vermögen erzielen lässt. Nehmen wir einen mittleren Gewinn von 10% an (die sicherste Geldanlage wäre hier das Sparbuch mit 5% Zinsen, die risikoreicheren Aktien- und Investmentfonds liegen bei bis zu 30%) so entginge dem Staat nur ein Betrag von 17,2 Milliarden €, der aber immerhin noch 4 !/2 mal höher ist als die 3,8 Milliarden €, die der Staat durch Hartz IV einsparen will.

    Ebenso berechtigt ist die Frage, wie man überhaupt auf 400 Milliarden € Steuerhinterziehung kommt, denn naturgemäß gibt es darüber keine Statistik, die Auskunft geben könnte. Machen wir eine Überschlagsrechnung und betrachten nur einmal das jährlich aufgehäufte Vermögen, das nach Abzug der Lebenshaltungskosten übrig bleibt und als Vermögen, als Kapital also, auf dem Kapitalmarkt angelegt wird. Bei einem jährlichen Nettonationaleinkommen von 1,5 Billionen € und 10 % Sparquote liegt laut statistischem Bundesamt das jährliche Sparvolumen der privaten Haushalte bei 150 Milliarden €. Nach der neuesten Ausgabe von Monitor (vom 02.12.04, nachzulesen im Internet (www.wdr.de/tv/monitor)) leben allerdings 8 Millionen Menschen in Armut ( arm ist in dieser Definition, wer weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens hat), die nichts mehr sparen können. Gleichzeitig sei die Zahl der Millionäre auf über 750 000 angestiegen, deren Durchschnittseinkommen angeblich bei 3 Millionen € liege. Die Multiplikation beider Zahlen ergibt mit 2,25 Billionen € ein Einkommen der Millionäre, das über dem Bruttoinlandsprodukt unserer Volkswirtschaft liegt (BIP 2003 bei 2,128 Billionen €). Anders als Otto Normalverbraucher, der allenfalls 10 % seines Einkommens sparen kann, so muss sich der Multi-Millionär schon sehr anstrengen, wenn er 10 % seines Einkommens (25 000 € monatlich) verbrauchen will. 90 % seines Einkommens wird er also gar nicht verbrauchen können. Das Sparvolumen unserer Multimillionäre läge also bei über 2 Billionen €.

    Ich weiß nicht, woher Monitor die Zahlen hat (angeblich aus dem Armutsbericht der Bundesregierung). Die auffällige Diskrepanz zu den Zahlen des statistischen Bundesamtes beweisen allerdings nicht deren Unrichtigkeit. Das Statistische Bundesamt gibt nämlich zu, die Einkommen oberhalb von 35 000 € monatlich nur noch unzulänglich statistisch erfassen zu können. Nur noch der geringste Teil der Einkommensmillionäre, nämlich die in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen stehen, seien datenmäßig erfasst. Datenschutz und das Privileg des Bank- und Steuergeheimnis verhindern den Einblick in das Finanzgebaren der Selbstständigen, was besonders pikant ist vor dem Hintergrund von Hartz IV, wo der Arbeitslosenhilfeempfänger gezwungen wird sein Hab und Gut auf Heller und Pfennig bis hin zum Erbring dem Röntgenauge des Staates preiszugeben.

    Noch einige Zahlen, die für sich sprechen: das Steueraufkommen aus dem Einkommen der Selbstständigen lag 1996 bei 12,3 Milliarden DM, das Lohnsteueraufkommen dagegen bei 295 Milliarden DM. Durch steuerliche Sonderabschreibungen für die neuen Bundesländer sinkt in den ersten 6 Monaten 1997 die veranlagte Einkommenssteuer um 96 % auf nur noch 205 Millionen DM. Im dritten Quartal musste Hessen mehr Einkommenssteuer zurückzahlen als eingenommen wurde (!) (Quelle Encarta 2001 unter dem Stichwort Einkommenssteuer). Steuern zahlen also überwiegend nur noch die sozialpflichtigen Arbeitnehmer, die Besitzer des Produktivvermögens und des Privatvermögens dagegen kaum noch.

    Die ärmsten Kommunen Deutschlands – so höre ich - seien die Villenvororte von Frankfurt, wo massiert die Reichen wohnen(!). Die Ärmsten! Jetzt fahren sie ihre teuren Autos zu Schrott, weil sie ihre Paläste nur noch über zerschlissene Wege erreichen können.

    Was ist das eigentlich für ein Rechtsstaat, in dem es rechtens ist, dass die privilegierte Kaste der Vermögenden von Abgaben und Steuern befreit wird und sich die Schulen, die Straßen, die Theater- und Opernhäuser, die Universitäten, Museen und Kunsttempel von jenen bezahlen lässt, die diese auf Grund ihrer zu geringen Gehälter überwiegend gar nicht nutzen können? Die größte Klasse der Sozialhilfeempfänger, die sich wirklich parasitär in der sozialen Hängematte räkeln und vom Steuerzahler ungerechterweise alimentiert werden, sind die Vermögenden. Aber die meint der Politiker nicht, wenn er von den Parasiten des Sozialstaats spricht.

    Es ist schon von zynischer Großartigkeit, wie es der politischen Klasse gelingt, den Abbau des Sozialstaates und die schamlose soziale Umverteilung von unten nach oben als alternativlos in der gegenwärtigen Politik darzustellen. Reform hat wirklich, wie du schon sagtest, heute nur noch die Bedeutung, jeden Miniansatz demokratischer Reform in der Bundesrepublik wieder zurückzunehmen.

    Dabei bräuchte die Klasse der 750 000 Multimillionäre nur 1% ihres Vermögens zum Allgemeinwohl beitragen, um den Sozialstaat zu erhalten. Sogar mein Modell des öffentlichen Arbeitssektors ließe sich damit finanzieren. Dazu aber sieht sich die gegenwärtige Politik nicht in der Lage.

    Also, lieber Josef. Einig sind wir uns sicherlich, dass die gegenwärtige Politik des Neoliberalismus weder eine Alternative noch alternativlos ist. Wenn du noch eine andere Alternative siehst, teile sie mir bitte mit. Dazu ist das Diskussionsforum da. Dein Beitrag hat mich dazu angeregt, auch über Dinge nachzudenken, die mir offensichtlich gar nicht so klar waren. Dafür bin ich dir dankbar.

    Mit herzlichem Gruß Harald



    Lieber Harald

    Klar würdest du auf diese Fiktion reinfallen müssen . . .

    Ich gehe also nichts ahnend zur Kasse im Metropolis in Köln, um mir eine Karte für °Rhythm is It!" zu kaufen. Und denke mir: Da sitzen jetzt (um 14 Uhr 30) wieder nur diese üblichen zehn Leutchen - und es wird gemütlich. Statt dessen ist das Kino gerammelt voll - lauter Schulklassen, 8. Jahrgang; ich befürchte das Schlimmste. Finde zum Glück noch einen freien Sessel. Anwesend ist, so erfahren wir, der Choreograph (jener stoppelbärtige Choreograph aus dem Film, Jahrgang '43) und einer der Regisseure, ein junger Deutscher, der, wie sich herausstellt, spricht wie unser Chef aus Aachen.

    Die Kids sind ruhig und aufmerksam und völlig problemlos - zwei Stunden lang. Ich kann es nicht fassen. Immerhin geht es ja auch um Sacre du printemps! Natürlich verlassen die meisten Kids das Kino, nachdem der Film durchgelaufen ist - aber immerhin! Dann dürfen Fragen gestellt werden an den Regisseur und den Choreographen (warum der sich als Engländer Schüler in Berlin ausgesucht hat, weiß der Teufel, die Population hätte er auch in Birmingham haben können, wo Sir Simon Rattle im Übrigen Jahre lang am Pult gestanden hat - am Pult des Chefdirigenten).

    Es ist ein Märchen: aus hässlichem Entlein wird reizende und vermögend geliebte Prinzessin.

    Interessanterweise fragt eine der Gören mit reizendem russischen Zungenzwischenanschlag, warum denn von der Aufführung nur ein paar Szenen gezeigt wurden - nach all der Vorbereitung. Bingo!! Sie hat allerdings nicht einmal angemerkt - weil sie es nicht hat merken können - dass die Aufführung auch nur in sehr geschickt arrangierten Clips wiedergegeben wurde. Ich kenne das von MTV: Man sieht diese girls' oder boys' groups, die singen dann kurz, dazu kurz auch Körperverrenkungen, die nicht mal unbedingt zur Musik passen müssen. Der Cutter hat gründlich zugepackt, d.h. zugeschnitten.

    Dies ist die Machart des ganzen Films. Der Film ist ein Knüller. Die erste Reaktion von einem Erwachsenen (wahrscheinlich so ein mediokrer Englkischlehrer: "I feel electricuted" - auch noch ein netter Klops, denn er wollte wahrscheinlich zum Ausdruck bringen, dass er ganz begeistert ist - und nicht, dass er (elektrisch) hingerichtet wurde!! (Was im Übrigen auch ein Freudscher Versprecher hätte sein können. Das kluge Mädchen aus Kasachstan kam sich ja auch ein wenig "überfahren", wenn nicht hintergangen vor.)

    Der Film ist eine bestechende, zum Teil auch spannende Aneinanderreihung von Clips (da haben wir uns schließlich dran gewöhnt), die die success story erzählen sollen, die Geschichte vom hässlichen Entlein eben. Wunderbar zum Teil die Clips bzw. auch die Szenen im Einzelnen: der Nigerianer mit seiner Geschichte über die Kultur in seiner Heimat (in English) und natürlich der betörende Martin, der (noch!) den Körperkontakt scheut, keinen Fußball, keine Autos und keine Freundin mag (olé!) und dem ansonsten von den Regisseuren (und wahrscheinlich vom Choreographen) so manche Szene eingeräumt wurde, in der er selbstverliebt um sein mit allen Reizen lockendes Selbst turteln darf. Aber auch die vielen Szenen, in denen klar wird, dass das ganze Projekt ein Schmarren ist, und dass es zum Verzweifeln ist, und dass der Choreograph am liebsten alles hinschmeißen möchte - was alles sehr realistisch ist. (Wie daraus allerdings schließlich die mit tosendem Applaus bedachte Aufführung werden konnte, bleibt den Zuschauern ein Geheimnis - aber wir geben uns ja auch bei MTV mit kurzen, besonders gelungenen Clips zufrieden. (Ich bin da sehr kritisch: War das der Originalapplaus, den wir da gehört haben?? Und warum habe ich das Publikum nicht zu sehen bekommen? Sir Simon verneigt sich ins Nichts. Da werde ich skeptisch.)

    Aber der Film selbst ist natürlich eine Success Story für sich geworden! Betörend.

    Übrigens sagte der Regisseur auf die Frage des kessen Mädchens aus Kasachstan, dass man bewusst die Aufführung nicht in toto habe bringen wollen. Man habe zeigen wollen, was entscheidend ist: "Der Weg ist das Ziel" Ja, wenn das so ist . . .

    Herzliche Grüße von deinem Miesepeter



    lieber miesepeter,

    hab ich mirs doch gedacht: irgendein haar wird der kerl in der suppe finden und siehe da: rhythm is it ist fiktionales (hollywood-)kino und hat mit der mediokren bis schäbigen Wirklichkeit nichts zu tun, während ich auf die form des dokumentarischen nur hereingefallen bin und diese mit der Wirklichkeit verwechsle.

    Dass du das so sehen musst, ist mir schon klar. Würdest du den film als dokumentation eines Prozesses auffassen, der in der wirklichkeit stattgefunden hat und nicht als bloßes resultat eines geschickten cutters, der damit eine fiktion transportieren will, dann müssten wir lehrer ernsthafte zweifel an unseren pädagogischen leistungen bekommen, die wir in der schule tagtäglich abliefern und abgeliefert haben.

    Aber wie war das noch mit dem gleichnis des buddha vom brennenden hause? Lieber lassen wir uns von den einstürzenden trümmern unseres lieb gewordenen denkgebäudes erschlagen, als dass wir auch nur einen schritt vor die tür machen!

    Dem josef schrieb ich dieser tage zum problem mangelhafter pädaogik:

    Mir ist das dieser Tage wieder durch den sehr sehenswerten Dokumentar-Film „Rhythm is it“ bewusst geworden. Hier arbeitet ein englischer Tanzpädagoge mit Berliner Hauptschulklassen an der Aufführung von Strawinskys orchestralem Werk „Sacre du Printemps“, das vom Verständnis und vom Musikgeschmack der Hauptklässler unendlich weit entfernt ist. Und nun erleben wir das unglaubliche Wunder, wie es dem Tanzpädagogen gelingt, aus einem Haufen desinteressierter, kichernder, sich nichts zutrauender Bewegungskrüppel eine sehenswerte Tanztruppe zu machen, die das Leben und das Selbstbewusstsein der einzelnen Tänzer qualitativ verändert. Das geht natürlich nicht ohne harte Arbeit, vor allem nicht ohne Krise, die jeder Schüler zu durchstehen hat. Der Tanzpädagoge peitscht ganz bewusst seine Tänzer bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit, so dass die anwesenden Kuschelpädagogen es kaum noch aushalten und eingreifen wollen. Aber ohne Krise und Meisterung dieser Krise ist Selbstbewusstsein nicht zu haben. Am Ende hat sich für die Kinder nicht nur eine ihnen bisher verschlossene Musik- und Bewegungswelt geöffnet, ihr Selbstwertgefühl hat sich derart gesteigert, dass z.B. ein Mädchen aus der Tanzgruppe, dessen Hauptschulabschluss gefährdet war, nunmehr davon spricht, den Realschulabschluss anstreben zu wollen. Ein Film also, von dem wir Gesamtschullehrer sehr viel lernen können.

    Offensichtlich gelingt es der Schule nur noch auf ungenügende Weise das Leistungspotential der Schüler zu aktivieren. Wenn allerdings unser selektierendes Schulsystem den größten Teil unserer Jugendlichen kognitiv überfordert und die kognitiv Überforderten unter- oder gar nicht mehr fordert, brauchen wir uns über das schlechte Abschneiden unserer Schüler in der PISA-Studie nicht mehr zu wundern. In Polen machen 80% des Jahrgangs das Abitur, bei uns dagegen nur 30%. Das sollte zu denken geben.


    Ich sehe das übrigens genau so, wie der regisseur auf die frage des mädchens geantwortet hat: es geht nicht um das beeindruckende resultat, sondern um die darstellung des prozesses, der zu diesem resultat geführt hat. Aber du wirst mir weiterhin vorhalten, dass es dieses beindruckende resultat gar nicht gegeben hat und womöglich das ganze nur als gigantischer video-clip, als PR-aktion einer englischen tanzpädagogentruppe aufzufassen ist, die durch deutsche schulen tingelt und neue aufträge ans land ziehen möchte. Widerlegen könnte ich das nicht.

    Im anhang schicke ich dir josefs einwände gegen mein gesellschaftsmodell des staatlichen arbeitssektors, das ich in meinem aufsatz Die große Lüge entwickelt habe, und die ja auch die deinen sind, und meine Antwort darauf, die dich sicherlich interessiert und vielleicht zu neuen antworten reizt.

    Mit herzlichem Gruß H.



    Lieber Harald:

    Unsere lieb gewordenen Denkgebäude: Klar bin ich einer von diesen Deppen, die sich lieber von den Trümmern ihres eigenen Gebäudes erschlagen lassen als die rettende Flucht zu ergreifen. Ahoi, Titanic!

    Da fragt man sich natürlich unwillkürlich, warum du mir überhaupt noch schreibst bzw. Schreiben schickst, die du an andere geschrieben hast - wenn du doch schon vorher weißt, wie ich reagieren werde.

    Dabei werde ich das Gefühl nicht los, dass du mutatis mutandis eben auch deine geliebten theoretischen Kuschelecken hast. Und wenn du dem Josef zum Schluss indirekt dafür dankst, dass er dich weiter gebracht hat, so ist ihm Dank doch nur geschuldet, weil deine "Recherchen" deine eigenen Denkgebäudes doch nur noch fester gefügt haben.

    Und ich könnte, wenn ich mir's der ramponierten Nerven wegen nicht untersagt hätte, geradezu in Wut geraten, wenn ich nun dieses "Argumentes" erneut ansichtig werden muss, dass die megareichen Villenvorort-Bonzen in der Nähe von Frankfurt ihre Straßen nicht mehr repariert bekommen (weil die reichen Bonzen keine Steuern zahlen). Ich habe es dir bereits geschrieben: Ich hab's mir in Frankfurt erläutern lassen: Steuerbefreiung wegen Unterstützung für den Osten. Es wird dir gar nicht klar sein können, dass die ehemalige DDR uns einen Batzen Geld kostet, weil dort ein Staat vor die realsozialistische Wand gefahren wurde. Was eigentlich ja gar nicht sein kann. Zur Tanzpädagogik für Hauptschüler: Diese müsste uns eine Lehre sein! Da könnten wir desillusionierten Pädagogen-Schlaffis lernen, wie's geht! Dem Josef hast du die Mahnung angesichts unserer "mangelhaften Pädagogik" zukommen lassen.

    Dabei ist unserer mangelhafte Pädagogik nur die Unmöglichkeit pädagogischer Arbeit in einem durch Selektion(smechanismen) total versauten Schulsystem. Und behaupte mir nur nicht, ich wäre doch immer ein Verfechter der Selektion gewesen. (Ich war ein kritischer Begleiter der (nach weiterer Ausdünnung) vierten Schulform, nichts anderes.) Allerdings hat mir erst Herr Schleicher von der PISA-Truppe kristallklare Einblicke in die Schnittmuster der deutschen Aufteilungs-Strategen geliefert. Die Abschaffung der Hauptschule als Einzigmaßnahme wird nicht die Bohne verändern. Das mit dem Projekt-RESULTAT (Rhythm is it!) hast du falsch verstehen müssen. Du hast nicht mal in die Frage des offensichtlich zur Kritik fähigen kasachischen Mädchens ordentlich hinein hören können. Aber: Ist ja gut so. Du hast Recht - und ich bin blind. Beziehungsweise bekloppt.

    (Dabei hätte dich auch stutzig machen müssen, dass dieser Film - ich rede ja nicht von dem Projekt oder gar von den Bemühungen bzw. edlen Absichten des englischen Tanzpädagogen - so viel Anklang gefunden hat beim Kapital . . . )

    Dass du den sich einmischenden Vertreterinnen der Kuschelpädagogik offensichtlich eins hast auswischen wollen, finde ich übriges höchst pikant!! Ansonsten zeigt sich Josef auch widerspenstig und uneinsichtig, und er muss sich anhören, dass er offensichtlich dem Gelde hörig scheint (nachdem er die hehren Ziele der Pädagogik verraten bzw. "vergessen" hat). (Zur "mangelhaften Pädagogik" siehe auch oben.)

    Alles Weitere sollte ich mir im Grunde sparen: Du wirst es nicht einmal lesen. "Die Bezahlung spielt um so weniger eine Rolle, je mehr sich der Arbeitende in seiner Arbeit verwirklichen kann." Zitat. Das ist natürlich immer noch der (leidenschaftliche, junge) Marx, der da aus dir spricht. Warum auch nicht, wirst du mit Recht sagen. Der Mensch kommt sich in seiner lohnabhängigen Arbeit in der Fabrik (die es ja kaum noch gibt!) seiner selbst abhanden!

    Ich behaupte halt: Der Arbeiter will sich nicht vordringlich selbst verwirklichen, er will Knete sehen! Und man müsste ja auch den prallen Markt und "Geiz ist geil" abschaffen, wollte man dem Arbeiter sagen (bzw. wollte man ihn davon überzeugen), seine Bezahlung sei nicht so wichtig!! (Dass er vor lauter Begeisterung angesichts seiner selbstbestimmten Arbeit die Bezahlung einfach für nebensächlich halten wird, will mir auch nicht so einfach in den Schädel. - Im Übrigen war ich gestern während eines Gesprächs mit einem ehemaligen Schüler - einem der schwächeren! - erstaunt, wie begeistert dieser Junge von seiner n i c h t selbstbestimmten Arbeit berichtete. Er hat Bäcker gelernt. Und jetzt bedient er eine Lokomotive von einer Backmaschine, und er berichtete mit leuchtenden Augen, wie viel Mehl dieses Ungetüm braucht und wie viel Hefe er da hinein schüttet. Und sein Vater könnte es gar nicht glauben, weil der offensichtlich immer noch die Vorstellung hat, dass die Brote individuell gebacken werden und dass der Bäcker da mit seinen Händen zulangt. Das war eine Offenbarung für mich. Du wärest zumindest erstaunt gewesen.

    (Was die Unerheblichkeit der Bezahlung anbelangt, so sagst du ja - Gott sei Dank!" - selbst ja auch immer mal wieder mit Nachdruck, dass es dem Kapital schadet, wenn die Löhne schrumpfen bzw. weniger Leute Lohnempfänger sind.)

    Dann haust du den Josef in die Pfanne, weil er einem restringierten Begriff von Schule das Wort zu reden scheint. Es gehe um die "Reifung der Persönlichkeit", mahnst du an. Na schön. Und bleiben wir mal bei dem, was du "unsere Klientel" nennst. An der haben wir uns ja vordringlich zu reiben gehabt. Ausbildung nur für die Profitvermehrung usw. bringst du dann wieder in Erinnerung. Das kann ich schon gar nicht mehr hören. Wie soll die Ausbildung dann aussehen?? Du sagst es selbst: Wir erreichen die Kinder gar nicht mit unserem Mittelstandskappes ("Kappes" ist da doppeldeutig!). Dieser Tage machte mich mein Tennislehrer anlässlich eines Besuches in der Brotfabrik in Beuel auf den Brenn(n)esselbusch von Börries von Münchhausen aufmerksam. Ich habe mir den Text aus dem Internet herunter geladen und mit dem Tennislehrer, der jetzt sein Studium wieder aufgenommen hat, telefoniert. Er hat mir den Zugang zu der Ballade erleichtert. Ich war von den Socken. Herrlich, dieser Text! Ganz unglaublich spannend! Sprachlich einfach. Und wie wunderbar die Hilfe bei der Erschließung der "dunklen Stellen"!!! Die "Interpretation dunkler, geheimnisvoller Texte" ist aber " u n s e r e Domäne" und nicht die "unserer Klientel". Behaupte ich.

    Und was die Erziehung der Persönlichkeit anbelangt: Was ist denn mit dem Rechnen und der Geometrie?? Müssen wir da einfach zum Wohle der Pädagogik verzichten, damit wir die Kinder nicht verbiegen und dem Kapital ein Schnippchen schlagen???? Du sagst es selbst, dass es schwierig erscheint, 40% des Jahrgangs zu motivieren. Ja, was sollen wir denn machen mit ihnen?? Ab in den Kohlenkeller, in dem sie später ja ohnehin mal landen?? Sollen sie sich mit den Ratten paaren!(??) (Eine höhere Meinung hat das Kapital ja ohnehin nicht von ihnen!?)

    W i r sind es schuld, wir selbst, betonst du. Die Leistungsbereitschaft wäre da, wenn nur die richtigen Aufgaben gestellt würden, die richtigen Anreize vorhanden wären. Dann nenn doch mal die Aufgabengebiete. Liste sie mal auf. Und benenne die nötigen kognitiven(?), emotionalen und affektiven und allgemein lernpsychologischen Voraussetzungen!! Bezogen auf die jeweiligen Aufgabengebiete. Und vergiss nicht zu erläutern, wie unerheblich die Missachtung der wie auch immer gearteten Erwartungen der Abnehmer ist!! (Was ist denn, wenn das Kapital sich die stupiden Arbeitstiere (nur noch) in Afrika holt?? - Die Arbeitsplätze in andere Länder verlagern tut das Kapital inzwischen ja aus ganz anderen Gründen!)

    Deine Vision von den selbstbestimmten (und glücklichen) streetworkers halte ich nach wie vor für illusorisch. Dass die Heere von Arbeitslosen ein Gräuel sind, will ich erneut gerne einräumen.

    Dass auch die 1-Euro-Jobs nicht deine Zustimmung finden würden, wusste ich (auch) im voraus. (Wie kann der Josef darin nur eine Lösung erblicken, die deinen Forderungen nahe kommt!!!???) Die Gefahr des Abwanderns in die Schwarzarbeit sehe ich auch. Da dies, wie du richtig sagst, Auswirkungen auf die Löhne des ersten Arbeitsmarktes haben würde, muss man da auch gegen steuern.

    Dass die Beibehaltung des Sozialstaates auch im Sinne des Kapitals ist, habe ich bereits verstanden.

    Dass alles besser wäre, wenn die Multi-Millionäre (mehr, viel mehr) Steuern zahlen würden, habe ich nie bestreiten wollen oder können. Nur habe ich schon früher gefragt: Wie soll's denn gehen in der vom Kapital versauten Wirklichkeit?? (Die Regierung ist doch stolz darauf, dass sie die Höchstgrenze des Steuersatzes geringfügig hat senken können!!)

    Natürlich hast du Recht mit der Feststellung, dass es grotesk und unerhört ist, dass die ohnehin gebeutelten Hartz-IV-Leute (im Gegensatz zu den Millionären) auch noch die Hosen bis zum letzten Lumpen runter lassen müssen. Aber schließlich verlangen die Bonzen ja auch keine staatliche Unterstützung!!!!! . . .

    Und die Steuerhinterzieher?? Ja, mach du denen mal Beine!

    Heute Abend singt Thomas Quasthoff in der Kölner Philharmonie, die hoffentlich n i c h t ausschließlich mit Steuergeldern von lohnabhängigen Arbeitern erbaut wurde und betrieben

    wird . . . Der Abend würde mir kaum zur Freude gereichen können.

    Herzliche Grüße

    gerd



    lieber rubezagel,

    hab ichs mir doch gedacht, dass dich mein brief an josef wenn nicht interessiert, so doch provoziert, zumal josefs einwände gegen mein modell ja nicht so weit von den deinen entfernt sind und meine gegeneinwände natürlich dann auch deine kritik mit betreffen.

    Warum ich dir verstockten immer noch schreibe, fragst du. Natürlich nur deshalb, weil es zur deformation professionelle des lehrers gehört, auch den verstocktesten schüler noch zur höheren einsicht zu bewegen, nach der devise: credo quia absurdum.

    In wut bist du gar geraten, weil du erneut des "Argumentes" ansichtig werden musstest, dass die Kommunen verarmen, weil die megareichen keine steuern mehr zahlen, wo sie doch in wahrheit nur deshalb von der steuer befreit wurden, weil sie ihre gelder (ganz selbstlos) in den aufbau ost verschoben haben, bzw., um in deiner diktion zu sprechen, weil sie den vom realsozialismus platt gemachten osten wieder aufbauen halfen (wobei du zu erwähnen vergaßest,welche rühmliche rolle dabei die treuhand und die westdeutsche industrie bei der demontage nicht nur maroder ostbetriebe gespielt haben, was aber zugegebenermaßen in deinem ideologischen denkgebäude keinen platz findet).

    Dabei bist du völlig unnötig in wut geraten, denn ich habe nichts anderes gesagt. In der tat hat das land hessen 1997 mehr geld an die megareichen zurück gezahlt, als diese an einkommenssteuer entrichtet haben, weil sie ihre Investitionen im osten steuerlich haben absetzen können und darüber hinaus noch investitionshilfen bekommen haben. Du hingegen scheinst deine eigene aussage nicht verstanden zu haben, wenn du richtiger weise schreibst, dass die ehemalige ddr uns einen batzen geld kostet, uns steuerzahlern nämlich. Und steuern zahlen bei uns fast nur noch die versicherungspflichtigen und nicht mehr oder kaum noch die megareichen, die sich ganz legal von der steuer befreien können.

    Nun dümpelt der wiederaufgebaute osten vor sich hin: neu errichtete leere fabrikhallen, leer stehende bürogebäude en masse, erschlossene, aber nicht genutzte gewerbegebiete und das alles auf kosten des deutschen steuerzahlers, also des kleinen mannes und gerade nicht auf kosten derjenigen, die falsch investiert haben. Die nämlich können ihre verluste wiederum von der steuer absetzen, so dass die Kommunen noch mehr verarmen. Selbst dort, wo der aufbau ost geglückt ist und das investierte kapital gewinn abwirft, haben die ossies am wenigsten davon. Besonders sinnfällig zu sehen an der ostsseküste, wo westdeutsche banken, versicherungskonzerne und große hotelketten die filetsstücke aufgekauft haben und die ossies von ihrer küste verdrängen. Immerhin dürfen sich jetzt die ehemaligen besitzer in der küche und im service der neuen hotels verdingen und finden arbeit, was ja in der gegenwärtigen arbeitsmarktlage nicht zu verachten ist

    Aber ich beklage gar nicht die gigantische enteignung des ddr-volkes, die nach der wiedervereinigung stattgefunden hat, noch beklage ich, dass das westdeutsche Kapital beim wiederaufbau ost verdient. Was ich beklage, ist, dass die megareichen sich beim wiederaufbau ost finanziell überhaupt nicht beteiligen, mit keinem einzigen cent, sondern nur noch am wiederaufbau verdienen, ohne dabei dem allgemeinwohl in nennenswerter weise zu dienen. Die entstandenen kosten und verluste dagegen werden einseitig auf den steuerzahler abgewälzt. Was du euphemistisch "Unterstützung des Ostens" nennst, ist in wahrheit die umlenkung der hilfsgelder aus den taschen der steuerpflichtigen arbeitnehmer in die taschen der westdeutschen kapitalistenklasse. Ich beklage die maximierung des privaten reichtums und die mit ihr einhergehende verarmung des öffentlichen sektors. Aber das kannst du aus deiner ideologischen brille gar nicht sehen und wirst es abstreiten müssen.

    Nun zum punkt mangelhafte pädagogik. Es gehört ja zur absurdität unserer beider kommunikation, uns häufig genug absichtlich missverstehen zu wollen. So wird es dich vielleicht überraschen, wenn ich deiner these ausdrücklich zustimme, "unsere mangelhafte Pädagogik sei nur die unmöglichkeit pädagogischer Arbeit in einem durch Selektion(smechanimen) versauten Schulsystem". Besser hätte ich es nicht formulieren können. Eben genau diese, jetzt auch deine position habe ich in meinem brief an josef zum ausdruck bringen wollen. Unsere mangelhafte pädagogik ist gerade nicht schuld eines individuellen lehrerversagens. Ein schulsystem, das nur einseitig auf die kognitive dimension ausgelegt ist, überfordert mindestens 70% eines jahrganges und selektiert dadurch automatisch die 30%, die auf das gymnasium gehören, jene 30%, die noch die kognitiven anforderungen der realschule erfüllen und die 40% kognitiv schwer belichtbaren, die zur hauptschule aussortiert werden.

    Ausnahmslos alle lehrer, die auf dem kognitiven feld der hauptschule säen und ernten müssen, werden nur missernten einfahren können, insbesondere dann, wenn die kognition einseitig von der gymnasialen theoriefähigkeit her definiert wird. Der frust von lehrern und schülern ist dann vorprogrammiert.

    Im kognitiven schulsystem kann der hauptschullehrer gar nicht mehr anders: er muss seine kognitiven anforderungen reduzieren und da die kognitive schule kaum noch wert auf die motorische geschweige denn affektive lerndimension legt, da diese notenmäßig schwer zu erfassen ist, wird der hauptschulschüler faktisch unterfordert, auch kognitiv unterfordert, da die kognition des hauptschülers nur über die kanäle der motorik und der affektion entwickelbar ist (und nicht nur die kognition des hauptschülers, sondern die der meisten menschen).

    Viel gravierender ist aber, dass die persönlichkeitsentwicklung eines jeden menschen primär auf dem motorischen und affektiven lernfeld erfolgt. Wer in diesen lerndimensionen ein krüppel bleibt, kann zu keiner Persönlichkeit heranreifen, so entwickelt seine kognition auch immer sein mag. Hier versagt unser kognitives schulsystem völlig, weil es die wesentlichen lernfelder außer acht lässt.

    Ich meine, der film "rhythm is it" zeigt uns ja sehr plastisch, mit welchem erfolg der tanzpädagoge auf den in unserem schulsystem vernachlässigten lernfeldern arbeitet und gerade die persönlichkeitsentwicklung des unterforderten hauptschülers vorantreibt, was uns in der pädagogik unseres einseitig auf kognitionserwerb angelegten schulsystems gar nicht gelingen kann.

    Aber dein kasachisches intelligentes mädchen und du sehen das völlig anders. Für euch ist der pädagogische erfolg des tanzpädagogen eh nur ein fiktiver, ein resultat des cutters und nicht der wirklichkeit. Und du musst das wohl so sehen, nicht, weil du bekloppt bist, sondern weil die vorstellung, unsere hauptschulklientel sei durch eine wie auch immer geartete pädagogik überhaupt noch entwickelbar, nicht in dein denkgebäude passt. Ich lese allerdings mit freude, dass du immer schon ein gegner des selektiven schulsystems gewesen sein willst, obwohl mir in der schule nie aufgefallen ist, dass du dich als gegner der differenzierung geoutet hättest.

    Was selektion mit differenzierung zu tun habe, fragst du? Sehr viel! Differenzierung macht überhaupt nur sinn, wenn man von der kognitiven lernebene ausgeht, weil hier die lerndefizite durch noten objektivierbar und operational angehbar erscheinen. Geht man dagegen von der motorischen und affektiven lernebene aus, so gibt die differenzierung überhaupt keinen sinn mehr. Zum einen, weil hier die gymnasial-, real- und hauptschüler gleichermaßen unterbelichtet sind, zum anderen, weil selbst bei größter heterogenität auf diesen feldern, niemand auf die idee käme, die bewegungs- oder affektionskrüppel in gesonderte lerngruppen auszusortieren, um dort deren defizite beseitigen zu können. Hier ist sofort jedem einsichtig, dass jede differenzierung kontraproduktiv für die entwicklung einer persönlichkeit ist.

    Wer also das selektive schulsystem abschaffen will, muss zuerst die schule von ihrer einseitigen bindung an die kognitive lernebene lösen. Die bloße abschaffung des dreigliedrigen schulsystems reicht nicht, weil sich dann das selektionsprinzip nur unter anderem namen, nämlich den der differenzierung, reproduziert mit denselben defizitären folgen für die persönlichkeitsentwicklung unserer schüler.

    Die antwort auf pisa kann also nicht die gesamtschule unseres in deutschland praktizierten typs sein. Unsere gesamtschule reproduziert nicht nur das dreigliedrige schulsystem unter einem dach, es erzeugt in einem noch viel schärferen maße das dichotome bewusstsein der kognitiv schlechteren schüler, die in den g-kursen lernen müssen, als es die traditionelle hauptschule vermag, die wie in bayern noch 30-40% eines jahrganges undifferenziert betreut.

    Ich kenne hauptschullehrer, die sich von der gesamtschule zurück an die hauptschule haben versetzen lassen, weil sie glauben, dort noch pädagogisch wirken zu können, was ihnen die gesamtschulstruktur angeblich verwehrt. Vielleicht ist es ja so, dass die hauptschule noch dort funktioniert, wo sie sich nicht als kognitiv abgespeckte version des gymnasiums begreift und die kognition des hauptschülers noch aus den lernfeldern der motorik und affektion entwickeln kann. Ich wenigstens würde mich nicht wundern, wenn die kognitive kompetenz dieser hauptschüler bei weitem höher ist als die der g-kurs-schüler in unseren gesamtschulen.

    Ich sehe das problem der gesamtschule nicht wie viele in der mangelnden förderung der guten schüler -gute schüler kommen in jeder schulform zurecht und haben später im berufsleben unabhängig von der besuchten schulform erfolg oder misserfolg - sondern in der mangelnden förderung und unterforderung der schwachen schüler, die abgestürzt in die grundkurse einer auf das abitur hin orientierten schulform sich nur noch als ausgeschissener rest verstehen können und schule noch mehr als die hauptschüler als ort der entfremdung erfahren.

    Gesamtschule als einzige regelschule kann nur dann zu einem erfolgsmodell werden, wenn nicht nach kognitiver leistung differenziert wird, wo an die stelle des selektionsprinzips das prinzip der individuellen förderung tritt, wo - wie in finnland - zwei lehrer und ein auszubildender referendar jeweils eine klasse von 25 schülern betreuen und durch diese personalausstattung erst ermöglichen, das prinzip der individuellen förderung in die praxis umzusetzen, wo - wie in den waldorfschulen - die kognition noch mit den motorischen und affektiven lerndimensionen verbunden ist und auf die entwicklung der gesamtpersönlichkeit noch wert gelegt wird , wo - wie in den montessori-schulen - das begreifen noch mit den händen geschieht, wo vor allem noch zeit zur reifung gelassen wird und das unterschiedliche lerntempo eines jeden berücksichtigt wird.

    Aber hier trennen uns sicherlich welten. Von den schalmeienklängen einer emanzipatorischen pädagogik willst du ja nichts hören, die den reformpädagogischen ansätzen der 20er jahre folgen will und sich in deutschland - anders als in finnland - nur auf dem papier (z.b. in den richtlinien der grundschulen in nrw), nicht aber in der pädagogischen praxis hat durchsetzen können.

    Die schlechten ergebnisse von pisa scheinen nun dem reformpädagogischen ansatz den todesstoß zu geben. Die konsequenzen, die die kultusministerien aus pisa ziehen, sind einfach nur noch grotesk. Die schulzeit wird verkürzt, die lernökonomie gestrafft, der kognitive input schon im kindergarten erhöht, ein vergleichbarer und überprüfbarer gleicher leistungsstand für jede klassenstufe eingefordert, der keinerlei rücksicht mehr auf die zusammensetzung der lerngruppe und das lerntempo des einzelnen schülers nimmt und das affektive lernfeld a priori gar nicht mehr berücksichtigen kann, weil es sich einer objektiven bewertung entzieht. In dieser schule spielt nur noch die kognitive dimension eine rolle, weil diese als einzige objektiv messbar erscheint. Reifung und wachsenlassen haben in einem solchen schulsystem keinen platz mehr.

    Na klar, ein solches schulsystem kann durchaus funktionieren. Dein geliebtes japan und korea zeigen uns, wie durch ein autoritäres system der disziplinierung, in dem lernen primär als anpassung und lehren als abrichtung verstanden wird, gute pisa-ergebnisse erzeugt werden können. Und wir müssten nur zurückkehren zur pädagogik der 50er jahre, in jene noch heile welt, von der alle konservativen pädagogen träumen. Aber auf welche kosten funktioniert ein derartiges leistungssystem?! Die selbstmordrate der schüler ist in japan die höchste der welt, so wie bei uns damals. Ich erinnere mich an zwei klassenkameraden, die auf grund schulischen versagens selbstmord begangen haben und erinnere an wedekinds frühlings erwachen, der die fürchterliche wilhelminische schule thematisiert hat. Vor allem erinnere ich mich an meine tägliche angst vor dem latein- und französischlehrer, weil ich natürlich meine hausaufgaben nicht gemacht habe. Kein zweifel: bei diesem lehrer habe ich gelernt, bei manchem lieben lehrer gar nicht, was indes noch lange nicht den schluss zulässt, man lerne nur bei jenen lehrern, die die notenknute handzuhaben wissen.

    Finnland zeigt uns gott sei dank, dass auch der reformpädagogische ansatz in die praxis umgesetzt werden kann und dabei sogar die kognitive kompetenz der koreaner und japaner übertrifft. Ich nehme an, selbst du wirst bei aller liebe zu japan die finnische alternative attraktiver finden als die japanische. Einen rückfall in der pädagogik der 50er jahre befürwortest du sicherlich nicht.

    Anderseits willst du die kröte reformpädagogik nicht schlucken. "Reifung zur Persönlichkeit" moquierst du dich, wenn ich sie auch für den hauptschüler reklamiere, wo ich doch zugebe, ihn kaum motivieren zu können, vor allem nicht mit meinem mittelstandskappes. In der tat ist es ja meine these, dass ich den hauptschüler auf der kognitiven ebene gar nicht erreichen kann. Aber er ist sehr wohl erreichbar auf der motorischen und affektiven lernebene und auf diesen ebenen durchaus entwickelbar, zumal die persönlichkeitsentwicklung eines j e d e n menschen im wesentlichen auf diesen feldern erfolgt (siehe oben). Deshalb müssen diese menschen gerade nicht im kohlenkeller landen und sich mit den ratten paaren, zumal es in den wenigsten fällen rein kognitive fähigkeiten sind, die auf dem arbeitsmarkt gebraucht werden.

    Eine schulausbildung, die sich nur auf die verwertbarkeit für das spätere berufsleben beschränkt, scheint mir auch und gerade für den hauptschüler nicht ausreichend genug zu sein (selbst wenn du es nicht mehr hören kannst). Es geht um die ausbildung und entwicklung psychischer dispositionen wie die bereitschaft zu sozialem engagement, zur hilfe, um die entwicklung von kommunikationskompetenz wie zuhörenkönnen, widerspruch aushalten können, widerspruch formulieren können, sich in die position anderer versetzen können, sich lieben zu lernen, seinen eigenen schatten erkennen können, ihn nicht auf andere projizieren wollen, seine ängste erkennen und formulieren können, seine grenzen und die des anderen erkennen und nicht überschreiten wollen, den mitmenschen und anders gläubigen respektieren können, die abweichende geschlechtsorientierung anderer oder gar die eigene aushalten können, etc.

    Du wirst zugeben müssen, dass eine solche soziale kompetenz keinem menschen vorenthalten werden darf, gerade auch dem hauptschüler nicht, dass sie ungleich wichtiger ist als die formale fähigkeit der richtigen kommasetzung und der groß- und kleinschreibung und dass die kognitive schule viel zu wenig wert auf diese affektive lernebene legt.

    Desweiteren moquierst du dich darüber, dass ich die interpretation dunkler geheimnisvoller textstellen einer schülerklientel aufhalse, die damit nichts anfangen könne. Das sei unsere domaine und nicht die unserer klientel, behauptest du. Ich behaupte gar nichts anderes. Ich behaupte nur, dass sich die kognitive kompetenz der schülerpersönlichkeit - und ich habe hier in erster linie den oberstufenschüler und nicht den hauptschüler im auge- durch textinterpretation unverständlicher texte erweitern lasse, mit texten also, die mit seinem späteren beruf gar nichts zu tun haben werden.

    Eben so wenig verstehe ich, warum rechnen und geometrie kontraproduktiv zur entfaltung der persönlichkeit stehen sollen. Formale fähigkeiten, die das logische denken schärfen, gehören ganz entschieden zur entfaltung der persönlichkeit. Oder meinst du, ich müsse sie deshalb aus dem curriculum der schule verbannen, weil sie eine schnöde anwendung in der architektur und im kaufmannswesen erfahren? Kein mensch wird durch rechnen, vor allem nicht durch die faszinierende ästhetik der geometrie verbogen, eher durch den lottogewinn als durch das zählen der gewonnenen noten. Oder glaubst du mir unterstellen zu müssen, ich würde jede anstrengende tätigkeit als kontraproduktiv für die entwicklung der persönlichkeit ansehen? Pikant findest du ja meinen ausfall gegen die kuschelpädagogen.

    Ich weiß ja, dass du mich zu dieser sorte von pädagogen zählst, obwohl mich das wundert. Denn auch dir wird bekannt sein, dass ich keinerlei abstriche am kognitiven anspruch meines oberstufenunterrichts gemacht habe (der im gegensatz zur sekundarstufe I natürlich hauptsächlich auf der kognitiven lernebene erfolgt). Was ich allerdings nie gemacht habe, ist mit dem notenschwengel zu drohen oder zu sanktionieren. Die noten waren mir völlig wurscht und ich hoffe, meinen schülern irgendwann auch. Mir ging es hauptsächlich um die sache und um die inhaltliche durchdringung eines problems. Und hier gibt es kein vertun: ohne anstrengung des begreifens gibt es keine erkenntnis. Ich bin und war immer von der notwendigkeit der krise überzeugt, die jeder zu durchstehen hat, wenn er sich weiterentwickeln will und bin entschieden dagegen, die schüler über die hürden zu tragen. Ich habe nie die hürde verkleinert, aber den schülern immer wieder die gelegenheit eingeräumt, noch einmal anlauf zu nehmen und über die hürde zu springen. So konnten am ende der 11 alle schüler den prometheus auswendig vortragen, für unsere klientel sicherlich keine kleine hürde. Nur wer strenge notenvergebung mit anspruchsvollem unterricht verwechselt, wird in mir einen kuschelpädagogen sehen müssen.

    So zumindest habe ich mich immer sehen wollen. Ob ich meinem selbstbild immer gerecht geworden bin, ist eine andere frage und ob mich meine kollegen je so gesehen habe, wie ich mich sehen wollte, noch eine ganz andere. Ich hoffe zumindest, dass mich meine oberstufenschüler so gesehen haben, wie ich mich sah. Aber auch das ist natürlich nicht ganz gewiss. Selbsteinschätzung und fremdeinschätzung klaffen mitunter ja ganz gehörig auseinander.

    Mein lehrerselbstverständnis glaube ich zumindest in der oberstufe verwirklicht zu haben, in der sek I dagegen ganz und gar nicht. Hier bin ich zugegebenermaßen regelmäßig mit meinen kognitiven ansprüchen gescheitert. Die schüler verstanden mich nicht und ich nicht ihre kognitiven nöte. Das liegt zum einen natürlich an den differenten wahrnehmungskanälen zwischen lehrer und schülern, zum anderen aber - und das ist viel entscheidender - an meiner unterrichtspersönlichkeit. Ich wusste schon sehr genau, was meine schüler, insbesondere die pubertierenden knaben wollten und brauchten: sie brauchen den leitwolf, der nicht nur die zähne fletscht, sondern auch zubeißen kann. Dann wären sie mir durch dick und dünn gefolgt.

    Es ist ja nicht so, dass ich die rolle des leitwolfs nicht spielen kann - ich kann sie glänzend spielen - das problem nur ist, es nutzt nichts, den leitwolf nur zu spielen. Man muss es auch sein. Und wehe, der lehrer der sek I ist nicht der leitwolf und erweist sich als papiertiger: er wird sofort von der meute zerrissen. Man ist leitwolf oder nicht. Man kann es nicht lernen. Die wenigsten lehrer sind leitwölfe. Deshalb flüchten die meisten lehrer in autoritäres gehabe, greifen an, bevor sie angegriffen werden, üben druck aus, bevor sie erdrückt werden, hassen die schüler und werden von ihnen gehasst und werden zu verfolgern, eh sie verfolgt werden. Das alles hat der leitwolf nicht nötig. Er hat die autorität und braucht deshalb nicht autoritär zu werden. Er zeigt nur sein gebiss, ohne je zubeißen zu müssen.

    Einem wie mir, der nie ein leitwolf ist und selbst wenn er es wollte, nie einer werden kann, bleibt, wenn er nicht autoritär werden will, nur der weg, mit unendlicher liebe seinen kindern zu begegnen, sich von der meute immer wieder zerreißen zu lassen und genau das gegenteil zu tun, was die meute erwartet, die erwartete negativsanktionierung nämlich zu vermeiden, bis schließlich die meute ihres atavistischen spiels müde wird und dem licht der vernunft zu folgen attraktiver wird, als eine beute zu stellen, die nicht mehr zappelt und zeter und mordio schreit. Auch dieser weg führt zum pädagogischen erfolg, wenngleich er sehr lang ist und fürchterlich an den nerven zerrt, für alle beteiligten. Und kuschelig findet es dabei keiner. Aber gut, nenn du diesen weg des martyriums ruhig den weg der kuschelpädagogen.

    Eines der schlichten geheimnisse des finnischen erfolgs liegt nebenbei bemerkt darin, dass hier nicht mehr ein einzelner lehrer, sondern ein ganzes lehrerteam die klasse betreut, das der klasse gar nicht mehr die möglichkeit gibt, in ein atavistisches verhalten zu regredieren, um den rudelführer zu küren. Anders als ein einzelner lehrer, der in einer lerngruppe von pubertierenden nur als leitwolf überleben kann, ist das lehrerteam jeder zeit in der lage, für ein angenehmes lernklima zu sorgen und dem tohuwabohu einhalt zu gebieten, das den lehrer an deutschen schulen so krank macht.

    Also, lieber rube, hier die zusammenfassung der lernziele dieser lektion:

    was ich dir habe begreiflich machen wollen (natürlich vergebliche), ist, dass es absolut keinen grund gibt 40 % des jahrgangs in den orkus oder in den kohlenkeller zu befördern, dass auch die persönlichkeit des hauptschülers entwickelbar, wenn auch auf der kognitiven ebene nicht erreichbar ist, dass unser kognitives schulsystem wenig zur entwicklung der persönlichkeit eines jungen menschen beiträgt und zweidrittel des jahrgangs überfordert und gleichzeitig unterfordert (dass andere schulsysteme die bildungsreserven einer nation in viel größerem umfang mobilisieren können siehst du ja in den pisaergebnissen), dass der grund der auch von dir verfluchten selektion die einseitige fixierung der schule auf die kognition ist, dass die antwort auf unsere bildungsmisere nicht eine gesamtschule sein kann, die das prinzip der selektion in der differenzierung weiterfortsetzt.

    Diesem letzten punkt wirst du widersprechen müssen, solange du am prinzip des wissenerwerbs als primären zweck von schule festhalten willst. Ich weiß ja, wie du darunter gelitten hast, dass die gesamtschule weiterhin auf das abitur hin orientiert ist, du dich aber mit einer schülerpopulation konfrontiert sahst, die zumindest im fach englisch den kognitiven anforderungen des abiturs nicht gewachsen war. Diese dann dennoch über die hürde des abiturs zu prügeln erschien dir immer als die quadratur des kreises.

    Dabei weißt du doch selbst, wir haben ja oft genug darüber gesprochen, dass selbst diese sprachunbegabte population die englische sprache spielend leicht erlernen würde, wenn sie nur ein jahr in england oder den usa leben und arbeiten würde, eben weil hier der spracherwerb auf ganz natürliche weise im spiel und in der alltäglichen kommunikation erfolgt. Die völlig unnatürliche aneignung einer fremdsprache durch pauken des vokabulars und der grammatischen regeln gelingen in der tat nur 30 % eines jahrgangs. Aber spricht das nicht eher gegen die didaktik der kognitiven schule als gegen die fähigkeit oder unfähigkeit unserer schüler?

    Die hausaufgabe, die du mir stelltest, doch einmal die persönlichkeitsprofile für unsere hauptschulklientel zu benennen und aufzuzählen, die auf dem arbeitsmarkt noch gebraucht werden könnten, kannst du nun leicht selber lösen, wenn du die obigen lernziele erfolgreich erreicht hast (was indessen weder zu befürchten noch zu erhoffen ist).

    Als letztes möchte ich noch auf ein missverständnis deinerseits aufmerksam machen:

    Ich habe nie behauptet, der arbeiter könne sich in seiner arbeit finden. Das gegenteil ist der fall. Deshalb will er selbstverständlich knete sehen und die umso mehr, je weniger er sich in der arbeit wiederfindet und wenn dem arbeitnehmer knete wichtiger ist als selbstbestimmte arbeit, so ist mir das ganz recht. Soll er doch in die privatwirtschaft gehen und dort ordentlich knete verdienen. Ich finde überhaupt, je dämlicher einer ist, desto mehr knete braucht er. Und denk daran: ich will ja nicht den kapitalistischen wirtschaftssektor abschaffen, in dem sich alle dämlichen nach herzenslust austoben dürfen ( ich sage nicht, dass alle, die in diesem sektor arbeiten, dämlich sind), ich will ja nur einen öffentlichen arbeitssektor schaffen, der nach den kriterien der vernunft und nicht der profitabilität organisiert wird und in dem für den dort arbeitenden die sinnvolle tätigkeit wichtiger ist als die knete, die er dafür erhält. Die wahl, ob jemand lieber knete als sinnvolle tätigkeit will, überlasse ich in meinem modell jedem arbeitnehmer selbst. Ist das denn so schwer zu begreifen?

    Frohe weihnacht und viel freude bei der lektüre wünscht dir dein geliebter feind

    H.



    Lieber Harald:

    Danke für deinen langen Weihnachtsbrief - der mich ordentlich beschäftigt hat.

    Ob ich denn die Lektionen nun schon verdaut oder gar gelernt habe, darf natürlich bezweifelt werden. Und sie anzuwenden wird es ja an den entsprechenden Möglichkeiten gebrechen. (An der Schule bin ich nur noch, um die Pflanzen im Lehrerzimmer zu versorgen. Die Übergabe hat nicht funktioniert - "du wirst sie nicht gewollt haben", wirst du anmerken.)

    Dass unsere Monopolkapitalisten und Großindustriellen die ostdeutsche Industrie aufgekauft haben, die Ossies in den Hotels an ihrer Ostseeküste, die von Wessis übernommen wurde, Kartoffeln schälen und Geschirr spülen müssen, ist in der Tat schlimm.

    Dass unsere Kapitalisten nicht nur in den Osten investiert haben, sondern sich gleichzeitig ihre Verluste aus dem Steueraufkommen westdeutscher Arbeitnehmer erstatten lassen, ist wirklich gravierend: Dass es so schlimm steht, habe ich nicht geahnt. Aber wenn man so ver(bl)ödet ist wie ich . . .

    Und nun zu den Hauptschülern: Ich habe sie nicht aufgegeben, nicht für unwürdig gehalten, nicht für unwert, nicht dafür plädieren wollen, dass man sie in den Kohlenkeller sperrt. Ich habe nur an jenen Grundkursen gelitten, in denen so getan werden musste, als wäre da gymnasialer Unterricht auf Schmalspur möglich (schließlich kamen wir mit den vom Kultusministerium genehmigten also vorgeschriebenen Lehrwerken in den Unterricht) .

    Gern hätte ich da was anderes gemacht - und das eine oder andere haben wir ja auch praktiziert. Aber grundsätzlich war ja das große Ziel zumindest in den Anfangsjahren (du wirst dich an die Euphorie und die überzogenen Ansprüche nicht erinnern wollen) war ja die Durchlässigkeit! Die Laufbahnen nach oben offen halten!! DIE Möglichkeit des Aufstiegs so lange wie möglich erhalten. Abitur kann schließlich jeder machen. Müssen vor allem Arbeiterkinder machen können. So hat es geheißen, meine ich mich zu erinnern.

    Deiner These, deiner Überzeugung, dass hingegen ein ganz anderer Ansatz her muss, kann ich nur beipflichten. Meinetwegen die Pädagogik aus dem Geist des Bewegungstanzes. Ich habe nur nie gesehen, dass dies Praxis hat werden wollen oder sollen. Und da hilft es auch nicht, dass du mir jetzt dauernd glaubst unterjubeln zu müssen, dass ich ein elender wilhelminischer Pauker gewesen und geblieben bin, der der an kognitiven Lernzielen orientierten Methodik und Didaktik verpflichtet und hörig sowie dem Befreiungsschlag emanzipatorischer und reformpädagogischer Ansätze gegenüber abhold geblieben ist. Und schließlich war es nicht jedem gegeben, in der Schule eine eigene Schule zu fahren . . .

    Bei der Gelegenheit denn auch: Die Kuschelpädagogik habe ich nicht d i r vorgeworfen. Da hat es mit anderen ganz andere Auseinandersetzungen diesbezüglich gegeben! (Klar waren mir einige unterrichtliche Maßnahmen deinerseits fremd. Das braucht ja nicht verschwiegen zu werden. Ich habe sie aber auch ohne deine Erläuterungen bzw. Grenzbestimmungen in deiner weihnachtlichen Lektion immer einzuordnen gewusst und letztlich damit leben können.)

    Und: Dass ich mich nie als Gegener der Differenzierung / von Differenzierung geoutet hätte, kann ich nicht unwidersprochen stehen lassen. Es hat diesbezüglich einen scharfen Briefwechsel mit Engels gegeben, als ich Fachvorsitzender für Englisch war - der natürlich nichts gebracht hat. Da ging es wenigstens schon mal um die Tatsache, dass ich aufgebrüllt und festgestellt habe, dass es s o nicht geht mir der Differenzierung.

    Und die Differenzierung ganz abzuschaffen, war ja nun schlichtweg nicht meine Aufgabe!!

    Und natürlich ist die Forderung nach Differenzierung, ja nach noch mehr Differenzierung dem System Gesamtschule immanent, das wir gefahren haben: Nach unten durchgesiebte Schülerpopulation - und dann das dreigliedrige Schulsystem unter einem Dach. Das konnte ja gar nicht gut gehen.

    Es ist darüber hinaus die Unwahrheit, wenn du behauptest, ich hätte mich darüber moquiert, dass du die Persönlichkeitsreifung des Hauptschülers gefordert hättest. Es ist nicht wahr! Ich habe nur angemahnt, du mögest mir mal ausmalen, wie du dir das unter den Vorgaben der Richtlinien für Rheindorf vorstellst.

    Das kannst du natürlich nicht. Du räumst nur ein, dir wäre Unterricht in einer so konzipierten Sekundarstufe I nicht möglich gewesen. Nun schön. (Dass es nur die Alternative Leitwolf oder autoritäres Gehabe gab, stimmt auch nicht so ganz. Nicht in dieser Ausschließlichkeit. Manchmal habe ich einfach in einer Leidensgemeinschaft überlebt. Mit den Hauptschülern.)

    Was du allerdings in deiner weihnachtlichen Lektion an Konzept für die Persönlichkeitsentwicklung des Hauptschülers entwirfst, finde ich fabelhaft. Kann ich voll unterschreiben. Wird es die Wirklichkeit von Schule erreichen, wird es da je Gegenstand täglichen pädagogischen Arbeitens werden?

    Problem habe ich lediglich mit der Behauptung, kognitives Lernen von Hauptschülern zu fordern wäre schon deshalb sinnlos, weil auf dem Arbeitsmarkt kognitive Fähigkeiten ohnehin nicht verwertbar seien. Da werden dir einige widersprechen. Interessant natürlich, dass du auf der anderen Seite den Hauptschüler nicht den psychomotorischen und affektiven Lernfeldern und ihren Lernstrategen überlassen willst. Schließlich müsste auch gerechnet werden, gibst du zu bedenken - und die Geometrie verbiege niemanden und formale Fähigkeiten (und vielleicht ja gar die Fähigkeit zu analytischem Denken) seien wichtig, ja vielleicht sogar überlebenswichtig. In jedem Falle aber wohl nicht ganz zu verachten . . . Wobei dann bald wieder die Frage auftaucht, wann wer womit überfordert ist.

    Da stellst du die frappierende Behauptung auf, die Einrichtung von Lerngruppen (Differenzierung) sei den verfluchten kognitiven und objektiv überprüf-, berechen- und bewertbaren Lernzielen geschuldet. Gründe schulisches Lernen aber auf (psycho)motorischen und affektiven Aufgaben, wäre eine Einrichtung von Lerngruppen völlig sinnlos, meinst du. Da muss ich dir widersprechen. Wir stellen uns in diesen Dingen auch unterschiedlich geschickt an. Begabung gibt es leider auch dort. Das zeigt ja auch der Film überdeutlich. Natürlich können wir nun die alte Diskussion beleben, ob diese zum Teil gravierenden Unterschiede nicht der Erziehung zuzuschreiben sind.

    Aber lassen wir das. Ich stimme dir zu: Die Rettung zumindest für unsere so genannten Hauptschüler kann nur aus einem völlig anderen pädagogischen Ansatz erwachsen. Vielleicht hast du auch Recht: Wer mal bei Sir Simon Rattle und Royston Maldoom (also z.B. bei einem begeisterungsfähigen Choreografen) Erfolge mit sich erlebt hat, der kann sich auch wieder schulische Ziele setzen und diese beherzt verfolgen wollen. Ein Schulsystem, das per definitionem auf Misserfolge abzielt, ist tödlich. Und nun muss ich nur noch gestehen: Ich war im Unrecht, als ich behauptet habe, der Erfolg des Projekts von "Rhythm is it!" sei möglicherweise schlicht getürkt gewesen. Warum der deutsche Filmemacher in Köln während der Diskussion auf das dämliche "der Weg ist das Ziel" verwiesen und nicht von der erfolgreichen Aufführung geschwärmt hat, ist mir ein Rätsel. Das kasachische Mädchen wär's zufrieden gewesen. Und hier ein ganz kleiner Ausschnitt aus vielen Berichten im Internet, auf die ich am ersten Weihnachten gestoßen bin, nachdem am Heiligabend in trauter Runde behauptet worden war, es habe Berichte über die bejubelte Aufführung in der Presse gegeben - und ich dies abgestritten habe.

    Frühlingsopfer
    Die Musik erobert sich mit Sacre neue Räume in Berlin 28.Jan.2003 Wie ein Popstar wurde er gefeiert von dem gut 2000-köpfigen sehr jugendlichen Auditorium: Sir Simon Rattle. Dabei waren die 240 Schülerinnen und Schüler auf der Bühne der Arena in Treptow der eigentliche Star mit ihrer Massenperformance von Igor Strawinskys einst umstürzlerischer Musik des Sacre du printemps. Es war das erste große der "Education"-Projekte Zukunft@BPhil, mit denen Berlins Philharmoniker raus wollen aus ihrem Elfenbeinturm. Schülerinnen und Schüler aus diversen Berliner Schulen waren eingeladen. "Richtig power" fand eine der Solotänzerinnen diese Musik, für eine andere war sie erst ein „Schock“, aber durch den Tanz verband sich für sie doch mit jedem Ton eine Vorstellung, eine dritte fühlte durch die Arbeit sich "befreiter". Es ist was "Wunderbares", meinte sie, zumal wenn man mit Leuten, die man sonst nur im Fernsehen, in der Zeitung sieht, arbeiten und sie sogar anfassen kann.


    Danke für die vielen Denkanstöße - und die vielen Lichtstrahlen, die du in meine unweihnachtliche Herberge hast fallen lassen. Und vielleicht hat es sich ja noch immer gelohnt,

    wenn man gerade den verstockten Schüler nicht aufgegeben hat - grace à la deformation professionelle.

    Dir und Nicola weiterhin ein schönes Weihnachtsfest - und vielleicht schon mal einen guten Übergang in ein gnädiges neues Jahr.

    Herzlich

    gerd



    Lieber Harald:

    Ein gutes neues Jahr wünsche ich dir und Nicole!

    Dass sich - anders als beim berühmten Berliner Tanz- und Bewegungstheater und anders als auf dem Meeresgrund - in der Hitdorfer Bretterbude weiterhin und im neuen Jahre nichts bewegt, zeigt dir der folgende Brief. Ich habe den Kölner Stadt-Anzeiger recherchieren lassen und zwei Artikel zur Berlinale bekommen. Der Brief enthielt keinen (leserlichen) Namen, also habe ich geschrieben an:

    Sehr geehrte Stadt-Anzeiger-Kultur Köln:

    Ich habe es immer gewusst: Mit dem Kölner Stadt-Anzeiger liegt man genau richtig, denn er verfügt auch über einen exzellenten Service!

    Herzlichen Dank für die Zusendung der beiden Artikel zu dem Berlinale-Ereignis "Rhythm is it!" Ich habe u.a. auch das Stadt-Anzeiger-Zitat ("Pressestimmen zur Berlinale" im Internet veröffentlicht) gefunden. Wahnsinn!! Ich habe bislang zwei Diskussionen angezettelt, in denen die Fetzen geflogen sind.

    Ich zitiere nunmehr aus einem der beiden Artikel: "'Rhythm is it' haben Thomas Grube und Enrique Sànchez Lansch ihren wunderbaren Musikfilm genannt, der ein nicht minder wunderbares Projekt dokumentiert." - " . . . ein nicht minder wundersames Projekt" hätte mir da besser gefallen.

    Weiterhin: "Filme wie dieser, in all seiner zärtlichen Beobachtungsgabe und mit der Bedeutsamkeit eines Themas, sind selten auf der Berlinale . . . "

    - " . . . mit der Bedeutsamkeit eines Themas"??

    Ich habe bislang steif und fest behauptet: Der Film ist mitreißend und bedeutungsvoll. Den Beweis, dass das Projekt ("das Thema") nicht nur "bedeutsam" oder pädagogisch wertvoll oder was immer war, diesen Beweis hat der Film nicht erbracht.

    Anlässlich der Aufführung des Films im Metropolis fragte ein aufgewecktes junges Ding mit russischem Akzent enttäuscht, warum der Film so viel Vorbereitung und so wenig von der Aufführung geboten hätte. Bingo! Der deutsche Filmemacher: " Es war uns wichtig zu zeigen, dass der Weg das Ziel ist!" Ach so!

    Mich hat die Frage bewegt, ob das Projekt nicht auch ein Beitrag gewesen ist in Sachen "neurotischer Verbeulungen" des Alltags (s. Berlinale-Artikel). Es galt etwas zu beweisen. Und es wurde bewiesen, weil es zu beweisen war.

    Dann wäre der Film auch ein (weiterer) Beitrag zur Verschleierung bzw. zur Beatifizierung und Salvierung von Wirklichkeit.

    Aber ich muss wohl lernen: Wenn man es richtig anfängt, kann man bei 250 (offensichtlich auch sozial benachteiligten) Jugendlichen ganz entscheidend was bewegen. Da werden Berge versetzt in Sachen Selbstbewusstsein und Ich-Stärkung.

    Und dann auch das noch (Zitat): "Keine leere Autorität ist da am Werk, sondern ein aufmerksamer Lehrmeister, der seine Schüler paradoxerweise befreit, indem er sie diszipliniert (Fettdruck nicht im Original)." Da fragt man sich als ausrangierter Pädagoge, dessen Lehrjahre die 60-er Jahre waren, doch unwillkürlich, ob man mit der richtigen Einstellung an die Sache heran gegangen ist.

    Nochmals sehr herzlichen Dank

    G. Rubensdörffer



    lieber rube,

    Ich wollte gar nicht meinen augen trauen, als ich deine pädagogische verwandlung vom saulus zum paulus in deiner weihnachtsepistel miterleben durfte und du sogar dein unrecht einräumtest, dem filmprojekt "rhythm is it" die pädagogische bedeutsamkeit abgesprochen zu haben, aber wie ich deinem neujahrsbrief entnehme, scheint ja das damaskuserlebnis seinen schrecken verloren zu haben: der alte heide betet wieder zu den alten göttern.

    Von pädagogischer bedeutsamkeit siehst du keine spur mehr, willst vielmehr den film als ideologischen (oder ideologiekritischen? ) beitrag zum scheiternden beatifizierungsversuch schäbiger wirklichkeit verstanden wissen. Der film zeige mitnichten einen neuen pädagogischen weg aus der bildungsmisere, sondern, wenn ich dich richtig verstanden habe, das genaue gegenteil: das scheitern einer überhöhten pädagogik am spröden schülermaterial, die ihr scheitern aber nicht wahrhaben will, sondern aporetisch am bildungsideal auch für die unterschicht festhält.

    Diese missinterpretation ist schon von einer gewissen großartigkeit, nicht, weil dies schon immer deine position war, sondern weil sie die intention der filmemacher ins gegenteil verkehrt und du auf fabelhafte weise demonstrierst, wie das werk erst im auge des betrachters zum kunstwerk wird. Dem sarkastischen zyniker will natürlich nicht in den kalkschädel gehen, dass es überhaupt eine pädagogik geben könne, die den bildungsfernen deutschen restschüler aus seiner lethargie reißen könnte.

    Wunderbar jetzt dein rhetorisches, nur noch ironisch zu verstehendes eingeständnis noch lernen zu müssen: da würden ja nun doch berge versetzt in sachen ich-stärkung und selbstbewusstsein von einer pädagogik, deren bedeutsamkeit du vorher als unbewiesen erklärtest. Überaus hübsch, wenn nicht gar die höhe aber ist - und das grenzt schon an infamie- wie du als beinharter vertreter und sprecher der law-and-order-fraktion in unserer schule das zerzauste jutemäntelchen der hippie-generation umhängst und dich der disziplinlosigkeit zeihst, die du mit deinen "gesinnungsgenossen" fleißig befördert haben willst, um unausgesprochen den reformpädagogischen ansatz der 68er zu desavouieren. Der beifall aller konservativen, insbesondere der wilhelminischen Pauker ist dir gewiss, mit denen du ja so ungern in einen topf geworfen werden möchtest, aber in dem du immer wieder landest, wenn du dich derart tumb äußerst.

    Die disziplinlosigkeit und die kuschelpädagogik der 68er generation sind also mal wieder schuld an der deutschen bildungsmisere. Das sagst du zwar nicht, aber das ist es doch, was der leser deiner epistel denken soll, wenn er die leerstellen deiner platten rhetorik ausfüllt. Als wenn du es nicht besser wüsstest. Als wenn du es nicht wüsstest, dass zwischen dem reformpädagogischen ansatz der selbstdisziplinierung und der wilhelminischen schülerdisziplinierung eine himmelweiter unterschied bestünde, als wenn du nicht wüsstest, dass die autoritäre pädagogik der schülerdisziplinierung, die in japan und in korea noch geltung hat, in den demokratischen staaten europas weder realisierbar, noch wünschenswert ist.

    Oder hälst du sie für wünschenswert und glaubst wirklich, die 68er, jene 5% der damaligen studentenschaft wären schuld daran, dass sich die autoritäre pädagogik nicht habe durchsetzen können? Dann allerdings wäre ich stolz darauf zu jener gruppe gehört zu haben, die verhindert hat, dass sich die autoritäre pädagik in deutschland hat durchsetzen können. Besteht denn kein konsens mehr darin, dass nur eine antiautoritäre pädagogik dem demokratischen staat angemessen ist?

    Und verwechsle jetzt bitte nicht die antiautoritäre pädagogik mit dem laissez-faire verzweifelter pädagogen, die über keinerlei autorität verfügen. So hat der englische tanzpädagoge zweifellos die wünschenswerte autorität und setzt diese auch gezielt ein, aber er ist an keiner stelle autoritär. Er verlangt von seinen schülern anstrengung, aber nie etwas, was diese nicht können oder einsehen wollen. Das unterscheidet ihn vom autoritären pädagogen, der den lernstoff ohne rücksicht auf das können und die einsicht seiner klientel durchsetzen will.

    Tu nicht so, als wenn du das alles nicht wüsstest und dennoch äußerst du dich so, als wüsstest du das nicht und betreibst mit deiner platten rhetorik die klappernden mühlen einer konservativen pädagogik, die das auszugsmehl für den kuchen verspricht, aber der gesundheit abträglich ist und vor allem die hungernden nicht befriedigen kann. Insofern trifft dein eingeständnis den nagel auf den Kopf: nichts hat sich in deinem kalkschädel bewegt, gar nichts und du würdest nicht wie herr keuner erbleichen, wenn man dir das kompliment machte, du habest dich gar nicht verändert.

    Hier spricht natürlich dein enttäuschter lehrer, der narzisstisch gekränkt wieder einmal erkennen muss, dass sein samen auf der kalkplatte seines schülers nicht keimen kann. Nein, te absolvo. Zu unrecht habe ich dir ein damaskuserlebnis unterstellt. Du bist auch in deiner weihnachtsepistel deinem alten glauben treu geblieben.

    Es war ja nur ein halbes Eingeständnis, als du dich als gegner der differenzierung gewürdigt wissen wolltest. So nicht, habest du dem engels gegenüber aufgeschrien, aber die differenzierung abzuschaffen, sei schließlich nicht dein behuf gewesen. Du hast natürlich recht, wenn du betonst, dass unter maßgabe der bestehenden richtlinien eine andere pädagogik gar nicht möglich gewesen wäre. Aber sind wir denn karnickel, die sich unter dem bannenden blick der schlange, der richtlinien, nicht mehr bewegen können? Ich erinnere daran, dass sich holweide und höhenhaus mit ihrem team-kleingruppen-modell durchaus der vorgegebenen differenzierung haben entziehen können und ich erinnere daran, dass wir mit unserem rhythmisierungsmodell des ganztages, in dem wir zumindest in einem der halbtagsblöcke pro schultag die differenzierung aufheben wollten, nur die hälfte des kollegiums haben überzeugen können, dich und deine fraktion wenigstens nicht, mithin das kollegium selbst- und nicht die richtlinien aus düsseldorf- darüber entschieden haben, welche art von schule wir fahren wollen und gefahren haben.

    Was dir und deiner fraktion so schwer eingängig zu machen ist die logik, dass die differenzierung die notwendige folge der einseitigen präferenz der kognitiven lernebene ist und du/ ihr nach wie vor von der präferenz der kognitionsvermittlung in der schule überzeugt bist/seid. Ich spreche nicht gegen die wichtige rolle des wissenserwerbes durch schule. Natürlich geht es auch und gerade um die kognitive Kompetenz unserer schüler. Ich sage nur, dass 70% unserer schüler ihre kognition nicht über den kognitiven wahrnehmungskanal erwerben und unser kognitives schulsystem nur 30% der schüler erreichen kann, mithin 70 % unserer schüler kognitiv unterbelichtet bleiben.

    Wenn ich für die beibehaltung der geometrie als lerngegenstand auch für hauptschüler plädiere, dann komme ich als lehrender doch nur dann in die bredouille, wenn ich sie auf der kognitiven lernebene vermitteln will, als navigationspraxis auf einem segelschiff oder in einem feldvermessungspraktikum wie in den waldorfschulen durchgeführt ist die geometrie auch für die kognitiv unbegabten eine leicht erlernbare materie.

    Dass die affektive und motorische lerndimension beim kognitionserwerb eine wichtige rolle spielen, gehört ja mittlerweile zur pädagogischen binsenweisheit, mit der jeder referendar zu beginn seiner lehrerlaufbahn traktiert wird. Sie finden deshalb als mägde des kognitionserwerbes ihre anerkennung in der lehrerausbildung. In der späteren schulpraxis fristen sie dann allerdings nur noch ein eher kümmerliches dasein, weil sie einer aufwendigen vorbereitung bedürfen, zu der der gestresste lehrer immer weniger zeit findet. Dass sie indes bei der persönlichkeitsentwicklung die hauptrolle spielen, wird zu wenig gesehen, eben so wenig, dass die persönlichkeitsentwicklung und nicht der bloße wissenserwerb der eigentliche zweck der schule sein sollte.

    Persönlichkeitsentwicklung ist nun allerdings ein reifungsprozess, der zeit braucht und durch keine intentionale operationale didaktik beeinflussbar und zu beschleunigen ist. Sie kann behindert, verhindert oder durch eine geeignete pädagogik gefördert, aber eben durch keine pädagogik beschleunigt werden. Vor allem hat sie nichts mit der intelligenz oder der leistungsfähigkeit des lernenden zu tun und ist nicht unmittelbar gekoppelt an seine kognitive oder motorische kompetenz.

    Es gehört zu den anthropologischen merkwürdigkeiten, dass trotz des zusammenhangs zwischen motorik, affektion und kognition deren entwicklung nicht immer parallel verläuft. Häufig genug treffen wir auf den motorisch entwickelten, aber kognitiv unterentwickelten oder vice versa auf den kognitiv entwickelten, aber motorisch unterentwickelten schülertypus, wobei in beiden fällen die affektion völlig unentwickelt sein kann. Die motorische und insbesondere die kognitive kompetenz lassen sich durch geeignete lernprogramme steigern (hier setzt ja auch die kognitive schule an), aber – und hier liegt das eigentliche problem – sie beinflussen nicht oder nur periphär die affektive und kommunikative kompetenz, die die persönlickeitsentwicklung bestimmen. Die persönlichkeit entwickelt sich eben nicht schon dadurch, dass ich schneller laufen, höher springen, besser rechnen oder fehlerfrei schreiben kann. Ihre affektive und kommunikative kompetenz erwerben die schüler erst in der auseinandersetzung mit den anderen, mit den anders denkenden, anders fühlenden, anders handelnden, durch anpassung und selbstbehauptung in der gruppe, durch akzeptanz und widerspruch gegenüber traditionen und normen.

    Es müsste doch auch dir einleuchten, dass unter dem aspekt der persönlichkeitsentwicklung eine differenzierung in homogene lerngruppen völlig kontraproduktiv ist. Für die entwicklung der kommunikativen kompetenz ist die heterogene lerngruppe eher von vorteil als nachteilig.

    Dein einwand, im motorischen und affektiven bereich sei die begabung genau so different verteilt wie auf kognitivem lernfelde, kann gerade nicht die differenzierung in lerngruppen begründen. Schließlich geht es bei der persönlichkeitsentwicklung nicht um die förderung einseitiger genetisch oder sozialisationsbedingter begabungen und fähigkeiten, sondern um die allseitige entfaltung der menschlichen persönlichkeit, also gerade um die entwicklung jener persönlichkeitsanteile, die noch unterentwickelt sind. Der musikalisch unbegabte sollte also seine verkümmerte musikalität entwickeln, das mathematische genie seinen linkischen bewegungsapparat, der sprachgehemmte seinen redefluss, das ängstliche mauerblümchen seine aggressivität, der mathematisch unbegabte seine liebe zur geometrie, der sexuell verklemmte seine liebe zum eigenen körper

    Eine differenzierung der lerngruppen nach begabung und fähigkeiten, die darauf abzielt, diese noch weiter zu entwickeln, trägt also zur entwicklung der persönlichkeit nichts bei, so sinnvoll sie auch immer zur steigerung der speziellen leistungsfähigkeit sein mag. Schließlich ist der zweck der schule nicht die züchtung des mathematischen genies, des sprachvirtuosen, des technischen spezialisten, des zukünftigen olympiasiegers. Die schule hat eine allgemein und keine partikular bildendende funktion. Es geht – im sinne humboldts – um die ganzheitliche bildung von geist, körper und seele.

    Natürlich geht es in der schule immer auch um steigerung der leistungsfähigkeit und um vermittlung gesellschaftlich relevanter schlüsselqualifikationen, aber diese müssen im kontext der persönlichkeitsentwicklung eingebettet bleiben. Eine kognitive kompetenzerweiterung, mit der die persönlichkeitsentwicklung nicht schritt halten kann, ist möglich, aber nicht wünschenswert und kann verheerende folgen haben (siehe terroristen). Unmöglich dagegen ist, von fichten äpfel ernten zu wollen.

    Eine schule, die immer mehr darauf reduziert wird, nur noch verwertbare qualifikationen zu vermitteln, ohne auf die entwicklung der persönlichkeit noch wert zu legen, mag zwar im kurzfristigen interesse der wirtschaft liegen, für die ohnehin nicht die persönlichkeit, sondern nur noch deren qualifizierte arbeitskraft von wert ist, für die entwicklung der heranwachsenden ist sie aber genau so fatal wie langfristig für die gesellschaft selber, die sich um ihre eigene humanität bringt.

    Du behauptest, der grundsätzliche fehler unserer gesamtschule sei die ideologie gewesen, möglichst vielen heranwachsenden das abitur zu ermöglichen, also gerade auch jener schülerklientel, die den anforderungen des abiturs nicht gewachsen ist. Auch in dieser aussage zeigt sich deine einseitige orientierung an der kognitiven lerndimension, in der dir die entwicklung der schülerpersönlichkeit aus dem blickwinkel gerät.

    Gegen deine these setze ich, dass möglichst allen heranwachsenden eine reifeprüfung auferlegt werden müsste. Aber das hieße, ihnen auch einen vollständigen reifeprozess zuzubilligen, nicht nur eine „mittlere“ reife nach 10 schuljahren oder gar noch eine niedrigere nach 9 jahren. Es müsste also genau so verfahren werden, wie es die undifferenzierten gesamtschulen vom typus der waldorfschule heute schon praktizieren. In diesen schulen kommt es im wesentlichen auf die entwicklung der gesamtpersönlichkeit an, die immerhin einen mindestzeitraum von 18 lebensjahren benötigt, um die affektive und kommunikative kompetenz zu erreichen, die vom erwachsenen erwartet werden muss.c

    Ich glaube nun nicht, dass man diesen reifungszeitraum wesentlich verkürzen kann. Auf kognitiver ebene ließe sich sicherlich in den sachkundlichen fächern die lernökonomie straffen. Durch geeignete lernstrategien könnte mehr in weniger zeit gelernt werden. Der reifeprozess lässt sich indes nicht beschleunigen, weil er weniger vom input als von physiologischen und psychologischen entwicklungsfaktoren abhängt.

    Deshalb bin ich entschieden gegen die kürzung der schulzeit und insbesondere gegen die streichung des 13. schuljahres. Der wichtige entwicklungsschritt, der erst nach dem 16.Lebensjahr erfolgt und in dem sich die wesentlichen dispositionen für den späteren lebensentwurf bilden, lässt sich in der schule nicht mehr fruchtbar machen, wenn das abitur ein jahr vorverlegt wird. Überdies sind die curricularen anforderungen der heutigen gymnasialen oberstufe auch auf der kognitiven ebene –zumindest in den geisteswissenschaftlichen fächern wie deutsch, philosophie, religion, politik – erst ab der 12.Klasse erreichbar und setzen einen vom alter abhängigen reifegrad voraus, der von der intelligenz völlig unabhängig ist. Erschwerend kommt natürlich hinzu, dass der reifungsprozess nicht bei jedem menschen gleich verläuft und der erlangte reifungsgrad nicht numerisch durch die anzahl der lebensjahre bestimmt werden kann. Die 12.klasse setzt einen reifungsgrad voraus, den statistisch die meisten menschen im 18.lebensjahr erreichen, manche aber auch erst im 20.

    Unstrittig ist die hohe musische, handwerkliche, soziale und kommunikative kompetenz, die die waldorfschüler nach abschluss ihrer schullaufbahn erworben haben, strittig dagegen, ob die erreichte kognitive und affektive kompetenz ausreichend sei, um im ellbogenkampf der konkurrenzgesellschaft bestehen zu können. Die heile welt der anthroposophischen pädagogik bereite die kinder zu wenig auf das spätere harte berufsleben vor, befürchten die kritiker, was sich bisher allerdings empirisch nicht bestätigen lässt.

    Bemerkenswert ist aber, dass die erreichte kognitive kompetenz eines waldorfer schulabgängers nicht wesentlich differiert von der eines abiturienten. Immerhin bestehen zweidrittel aller waldorfschüler nach einem angehängten vorbereitungsjahr die externe abiturprüfung, d.h 70% des jahrgangs erreichen in der undifferenzierten waldorfer gesamtschule (ohne sitzen bleiben und ohne notengebung!) das abitur, während in der differenzierten gesamtschule 70% des jahrgangs die gymnasiale oberstufe gar nicht erst erreichen.

    Nun wirst du einwenden wollen, dass die waldorfpopulation nicht der normalpopulation entspricht, schon gar nicht der in rheindorf, die selbst bei vollständiger reifung nicht zu 70% die hochschulreife hätte erreichen könne. Die rheindorfer gesamtschülerpopulation entspricht in der tat nicht mehr, wie noch in den anfangszeiten, der normalen schülerpopulation in rheindorf. Die mittelschicht schickt ihre schulbegabten kinder auf die gymnasien. Die gesamtschule dagegen wird zum gymnasium der unterschicht, die – und das ist das tragische - bei 70% ihrer schüler den reifungsprozess vorzeitig unterbricht und aus der schule selektiert. Die waldorfschule wenigstens, die ja ursprünglich als eine schule für die kinder der arbeiter der waldorf-astoria-fabrik konzipiert war, hat diesen entscheidenden fehler nicht gemacht. Ist der erfolg der waldorfschulen nicht vielleicht daher zu erklären, dass hier auch den kognitiv unbegabteren kindern ein reifungsprozess zugestanden wird, innerhalb dessen sich auch ihre kognitiven fähigkeiten ohne notendruck besser entwickeln können als es im rein kognitiven schulsystem durch selektierende notengebung der fall ist?

    Wenn allerdings die abituranforderungen gleichsam die apfelernte vorschreiben, wird sie von den fichten nicht erwartet werden können. Aber warum jetzt die fichten, buchen, pappeln und kirschbäume zugunsten der apfelbäume ausroden? Warum jetzt monokulturen errichten, in denen nur fichten, nur pappeln und nur apfelbäume wachsen? Ist nicht jene pädagogik die einzig wünschenswerte, in der sich jeder mensch seiner anlage gemäß voll entwickeln kann und trotz der individuellen differenz dieselbe würde zugebilligt bekommt?

    Und ist nicht jene pädagogik vor 68 abzulehnen, die mit der heckenschere in die triebe fährt und die form der bäumchen nach vorgegebenen mustern zurechtstutzt? Klar funktioniert eine derartige pädagogik. Die bäumchen wachsen dann nur noch in die richtung, die der barockgärtner zulässt. Aber warum nur euer oder speziell dein horror vor den ins kraut schießenden wilden trieben, die doch nicht mehr als nur deinen ordnungswahn beleidigen? Welche angst vor der ungezügelten natur ist da am werk? Du kennst doch die antwort besser als deine tumben mitstreiter, zu deren sprecher du dich gemacht hast.

    Das paradigma der traditionellen pädagogik ist der wilde Tiermensch, der erst durch die beschneidung der wildwüchsigen triebkräfte zum zivilisierten gesellschaftsfähigen menschen erzogen werden muss. Die franzosen gehen in ihrer pädagogik noch heute von diesem paradigma aus. Das reformpädagogische paradigma der 68er ist dagegen die Pflanze, die sich nach ihrer art frei entfalten kann, wenn der gärtner sie richtig hegt und pflegt (zumindest in deinem verhältnis zu den schulpflanzen bist du ein echter 68er). Der gärtner muss allerdings auch darauf achten, dass sich die pflanze nicht parasitär auf kosten anderer planzen entwickelt.

    Freie entfaltung der persönlichkeit heißt gerade nicht der natur des menschen zu folgen, die ja ebenso von den atavistischen kräften der schattenseite des selbst bestimmt wird, was golding im herrn der fliegen illustrativ aufzeigt. Das konzept der schwarzen pädagogik, diese schattenseite des menschen abzuzwacken oder durch ein ordnungskorsett zu unterdrücken, ist ebenso fatal wie nutzlos. Eine richtige pädagogik muss auch diesen dunklen kräften raum geben, um sie für die entfaltung der persönlichkeit fruchtbar machen zu können (ob hier das harmonische entwicklungskonzept Rudolf Steiners richtig greift, wage ich zu bezweifeln). Sie darf sie aber nicht wild wuchern und das selbst des menschen bestimmen lassen, was umso mehr geschieht, je weniger der pädagoge in die persönlichkeitsentwicklung eingreift.

    Also weder die autoritäre schwarze pädagogik noch das laissez-faire einer missverstandenen antiautoritären pädagogik geben hier die richtigen antworten. Gefragt ist eine eingreifende, aber die entwicklung der persönlichkeit fördernde pädagogik, die im englischen garten ihr entsprechendes paradigma findet. Auch hier wird noch gejätet und gerupft, aber immer zum wohl aller sich entwickelnder pflanzen. Erst im englischen garten kommt der einzelne baum völlig zur geltung, gerade nicht in der wilden natur.

    So, lieber rube, dein lehrer ist erschöpft. Vieles ließe sich noch sagen, was didaktisch besser unterbleibt, damit du die leerstellen selber ausfüllen kannst. Vor allem: je mehr ich über die richtige pädagogik nachdenke, so schwieriger erscheint mir die von ihr zu bewältigende aufgabe.

    Tschö und gruß an alle meine mir wohlgesonnenen feinde h.