H.v.Rappard

Zur Interpretation von Goethes FAUST

Gott, Faust und Mephisto sind nur auf der Bühne unterschiedliche Figuren. Die tiefere Wahrheit ist, dass sie die drei typischen Momente der menschlichen Persönlichkeit darstellen. Das gilt unabhängig von der theologischen Frage, ob Gott und Teufel noch eine vom Menschen unabhängige Existenz haben - im Drama gehören sie zusammen.

Genau so wenig wie Gott kann der Interpret Mephisto von Faust abspalten. Als Prinzip des Bösen geht er zwar über die Existenz der einzelnen Persönlichkeiten hinaus, existiert aber als Moment in allen menschlichen Persönlichkeiten und nur hier. Der Teufel existiert nicht im Raum, nicht in der Natur, nicht als Tier, auch nicht im menschlichen Körper. Er existiert wie Gott als geistiges Prinzip, hier des Bösen, als Prinzip der Negativität in der Welt des Geistes (zumindest in der Welt des abendländischen Geistes) und in keiner anderen Welt.

Der Himmel im Prolog und am Ende ist keine dreidimensionale Parallelwelt jenseits unserer Welt, sondern spiegelt unsere abendländische Geisteswelt wider, deren geistige Prinzipien, das Gute und das Böse, in allegorischer Weise veranschaulicht und damit auf dreidimensionale Weise als Gott und Teufel dargestellt werden. Gott und Teufel erscheinen deshalb auf der Bühne als eigenständige Figuren, sind aber anders als Faust keine eigenständigen Persönlichkeiten.

Wenn Faust auf allegorischer Ebene der Bühne mit dem Teufel ein Bündnis eingeht, so heißt das auf nicht-allegorischer Ebene: er mobilisiert seine bösen, aggressiven Kräfte, er mobilisiert Macht, um in die gesellschaftlichen Verhältnisse eingreifen zu können, um diese mit der Macht seines Willens zu verändern. Ohne mephistophelische Macht kann Faust seine Vision vom freien Volk auf freiem Grund gar nicht verwirklichen. Ohne Zuckerbrot und Peitsche sind die Menschen zur kulturellen Tat weder willens noch fähig.

Dass diese quasi kommunistische Vision eine nie zu verwirklichende Utopie im wörtlichen Sinne (Utopie= Nirgendwo-Land) bleibt, zeigt Goethe allegorisch durch die Blindheit Fausts (Faust ist blind, weil er keine Sorge und keine Verzagtheit kennt, die normalerweise den Reichen befällt, wenn er um das schon Erreichte zu bangen beginnt. Die allegorische Figur der SORGE wendet sich deshalb mit einem Fluch von ihm und schlägt ihn mit Blindheit), der das Geklirr der Spaten beim Aushub seines Grabes als Beginn seines Zivilisationsprojektes missdeutet.

Aber die Nichtverwirklichbarkeit der utopischen Vision, die Goethe als Skeptiker durchaus sieht, macht dadurch die Utopie noch nicht hinfällig. Indem Faust der unerreichbaren Utopie hinterher jagt - und zwar mit mephistophelischen Kräften - strebt er gleichzeitig nach seiner göttlichen Seite. Er wirkt als Teufel um Gutes zu schaffen, wobei er das Gute immer wieder verfehlt. Genau das ist der Grund, warum Faust nicht dem Teufel anheim fällt.

Faust ist ein Machtmensch und alle Machtmenschen müssen ihre mephistophelische Seite mobilisieren, um Macht über andere ausüben zu können. Oder noch anders: Faust wird durch den Teufelspakt zum Machtmenschen, aber dadurch noch nicht zum bösen Menschen. Entscheidend ist, für welchen Zweck der Machtmensch seine Macht gebraucht. Verbindet dieser sich mit dem Teufel, um Böses zu verrichten, dann wird er zum teuflischen Menschen. Tut er es um egoistischer Ziele willen, wird er zum Verbrecher. Tut er es aus der Binnenmoral eines Volkes, wird er zum Volks- oder Kriegsverbrecher und Völkermörder (Hitler, Milosevic, Sharon).

Faust dagegen verbindet sich nicht mit dem Bösen, um Böses zu tun. Selbst dort, wo er zum Verbrecher wird wie bei Gretchen, tut er es nicht, um Gretchen zu schänden oder zu missbrauchen. Sein Gewissen richtet sich nach der universalistisch gültigen Moral. Er leidet an seinen Taten und deren Folgen, was der teuflische Mensch nicht tut.