Harald von Rappard

Nur durch die Verbindung mit dem Teufel ist Faust ein Knecht Gottes

Zur Interpretation der Faustfigur /Klausur vom 18.03.02
Deutsch LK/Rapp

Das Streben um des Strebens willen kann nicht schon etwas Positives sein. Das Ziel des Strebens muss das Gute sein und das Gute ist das universal Gute und gerade nicht dem willkürlichen Gutdünken des Einzelnen überlassen.

Das Ziel ist die göttliche Natur des Menschen, die der Mensch in der Realität verwirklichen muss. Darüber gibt es keinen Irrtum. Der Mensch irrt sich nur in den Mitteln, dieses Göttliche zu erreichen. Dieser Irrtum ist logisch notwendig, denn alle Mittel sind endlich und damit begrenzt und können deshalb das Unendliche, das Göttliche, a priori nicht erreichen. Das heißt, der Mensch kann sein göttliches Moment in sich nie verwirklichen -er wird nie zum Gott - er kann es aber immer wieder versuchen. Dieser ewig scheiternde Versuch, das Göttliche in sich zu verwirklichen, macht den Menschen zum guten Menschen.

Von dem moralisch guten Streben ist das falsche Streben zu unterscheiden. Das falsche Streben giert nach den Gütern dieser Welt. Es wird durch das HABEN bestimmt. In diesem Streben triumphiert der Trieb über die Seele des Menschen. Wer sich nur von diesem falschen Streben leiten lässt, geht metaphorisch gesprochen den Weg des Teufels. Auf diesen Weg will Mephisto Faust führen.

Aber dass man auf diesem Weg nur faule Früchte ernten kann, weiß Faust. Dieses falsche Streben interessiert Faust nicht, deshalb kann ihn der Teufel auch niemals verführen. Und sollte der Teufel ihn zur Gier nach Gütern verführen können, dann wäre Faust nicht mehr Faust, sondern nur noch ein Triebtier, mit dem Faust nichts zu tun haben will. In diesem Falle wäre Faust schon im Diesseits ein Diener von Mephisto, wäre also schon in der Hölle, bevor ihm im Jenseits - das ihn gar nicht interessiert - die Hölle bereitet wird.

Die Frage stellt sich, warum Faust den Pakt mit dem Teufel schließt, wenn er sich dadurch nichts Positives erhofft. Die Wahrheitssuche hat er ergebnislos abgebrochen - genauer: die Suche nach der göttlichen Wahrheit, weil er erkannt hat, dass er sie im Studierzimmer in den Büchern nicht finden kann. Dem Geist der Erde, der Natur, fühlt er sich nicht gewachsen. So bleibt ihm nur noch die Welt der Menschen, aber die hat er bzw. vor der hat er sich in seinem Studierzimmer ausgesperrt.

Genau zu dieser Welt will sich Faust auch Zutritt verschaffen. Aber als intellektueller Buchgelehrter ist er völlig chancenlos: ihm fehlt die Macht. Genau dafür soll der Teufel sorgen. Faust verbindet sich mit dem Bösen, um Macht zu erlangen in der menschlichen Welt, denn nur mit Macht kann er auf die menschliche Welt Einfluss ausüben und sie gestalten, sie beherrschen. Nur mit Hilfe der bösen Macht wird Faust zum Alleinherrscher, zum Diktator, der die Menschen gegen ihren Willen zur kulturellen Leistung peitscht, um die kommunistische Vision eines freien Volkes auf freiem Grund zu verwirklichen.

(In der Faustfigur antizipiert Goethe den kommenden Stalin, der um des guten Zieles willen über Leichen geht).

So wenig Faust seine göttliche Seite verwirklicht und verwirklichen kann, so wenig verwirklicht er sein mephistophelisches Moment. Er wird nicht zum Teufel, auch nicht im schlimmsten Verbrechen. Er nutzt den Teufel und muss den Teufel zur Gestaltung der menschlichen Welt wählen. Aber er leidet unter dem Teufel, d.h. unter seinem teuflischen Moment, und flucht ihm. (Das unterscheidet ihn von Stalin und insbesondere von Hitler, der Opfer seines mephistophelischen Momentes wird.)

Paradigmatisch zeigt also die Faustfigur Goethes das Aufgespanntsein des Menschen zwischen seinen beiden Polen Gott und Teufel. Der Mensch ist nur dadurch gut, dass er nach seiner göttlichen Seite strebt, aber dieses Streben bleibt folgenlos, wenn er das Gute nicht gleichzeitig in der politischen Wirklichkeit durchsetzt. Zur Durchsetzung des Guten muss der Mensch seine bösen, destruktiven, aggressiven Kräfte mobilisieren. Metaphorisch gesagt: er muss sich mit dem Teufel verbünden. Nur so erfüllt Faust den im Prolog aufgezeigten göttlichen Plan, in dem der Teufel ein Instrument Gottes ist ( Mephisto: ich bin der Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft ). Nur durch die Verbindung mit dem Teufel ist Faust ein Knecht Gottes.

Faust als Tatmensch braucht den Teufel, aber er lebt nicht in Harmonie mit ihm. Das ist der Grund, warum Faust ein zutiefst unzufriedener, letztlich unglücklicher Mensch ist. Der Gott in Goethes Prolog liebt nicht den glücklichen Menschen, der mit sich selbst in Einheit lebt, sondern den unglücklichen, in sich selbst zerrissenen Menschen, der nicht zur Ruhe kommt, den es immer wieder zur Tat treibt. Deswegen wird Faust zum Augenblick nie sagen können: Verweile doch , du bist so schön!

Ein glücklicher Mensch integriert seinen Schatten. Das tut Faust nie. Das Böse in ihm bleibt für ihn immer eine eigenständige zweite Person, die er nutzt, hasst und von sich abgrenzt. Faust und Mephisto verschmelzen nie zu einer Person und treten deshalb auf der Bühne immer als getrennte Figuren auf, obwohl sie zeitweilig ihre Rolle tauschen und dadurch deutlich zeigen, dass sie zwei polare Aspekte ein und derselben Person sind. Der bestehende Widerspruch zwischen beiden Polen ist der treibende Motor im Lebensentwurf von Faust.