Harald von Rappard(Januar2000)
an den LK-Deutsch

zur psychoanalytischen Deutung der Strafkolonie von Kafka im Vergleich zum Urteil

Den Freudschen "psychischen Apparat" - insbesondere das Verhältnis vom ÜBER-ICH zum ES haben viele nicht richtig verstanden:

Der gesellschaftlich schädliche Destruktionstrieb darf nicht zum Ausbruch kommen. In der Regel verhindert das starke Über-Ich einen derartigen Ausbruch, indem es den ES-Trieb nicht ins Bewusstsein kommen lässt. Das Problem ist nur, dass mit dieser selbst unbewusst bleibenden Unterdrückung von Triebkräften ins Unbewusste ein Aggressionsstau entsteht, der den irrationalen Aggressionsausbruch eher wahrscheinlich macht.

Gerät nämlich der Aggressionstrieb unter die Kontrolle des Bewußtseins - des ICHs - so kann der Destruktionstrieb beherrscht oder kanalisiert werden. Bleibt er dagegen durch das unterdrückende ÜBER-ICH unter der Oberfläche des Bewußtseins, so kann er dort unkontrolliert sein Unwesen treiben.

Die vom ÜBER-ICH nicht zugelassene Mordlust pervertiert sich in ein Strafbedürfnis anderen oder sich selbst gegenüber, also in ein Sühnebedürfnis. Das ÜBER-ICH erzeugt also Schuldgefühle, die durch Sühne abgebaut werden. Menschen mit hohem Strafbedürfnis können dieses auf unterschiedliche Weise befriedigen. Optimal können sie es in einer gesellschaftlichen Position tun, in der sie selbst zum Verfolger werden, z.B. in der Position des Polizisten, Richters, Henkers, Lehrers. Ihre eigene Schuld projizieren sie auf ihre Opfer, die sie dann unbarmherzig verfolgen. Sind sie dagegen zu schwach, um andere zu verfolgen, so schlägt ihre Aggression in Selbsthass um. Sie verfolgen sich selbst. Das kann bis zum Selbstmord führen. Ein anderer Weg der Selbstaggression ist die Krankheit z.B. Krebs, aber auch die Neurose, der Verfolgungswahn ( Paranoia).

Bei der Interpretation der Erzählung Kafkas gehen einige von euch zu wenig von der Subjektstufe aus, von der aus alle Figuren einer Erzählung als psychische Momente ein und der selben Persönlichkeit betrachtet werden sollen.

In der Strafkolonie repräsentiert der Reisende das ICH, das Bewußtsein, das in seine eigene Psyche schaut. Der alte Kommandant, der Hinrichtungsapparat und sein Offizier gehören zweifellos zu dem Teil der Psyche, den Freud das ÜBER-ICH nennt. Es ist die Bestrafungsinstanz der menschlichen Psyche von höchst archaischer (= ursprünglicher ) Natur: unerbittlich, rigide, auch grausam und irrational, d.h. der bewußten Vernunft gar nicht zugänglich. Verfehlungen auch kleinerer Art werden unbarmherzig bestraft. Das Strafmaß steht in keinem Verhältnis mehr zur Größe der Verfehlung. Der neue Kommandant repräsentiert das ICH-IDEAL im menschlichen Bewußtsein. Es korreliert mit der Vernunft und will dem irrationalem ÜBER-ICH Grenzen setzen.

Auf der Reise nach innen sieht sich das ICH, autorisiert durch sein ICH-IDEAL, mit seinem archaischen ÜBERICH konfrontiert und erkennt den grausamen Mechanismus seines Strafbedürfnisses. Einmal ins Licht der Vernunft gerückt, kann sich das irrational arbeitende ÜBER-ICH nicht mehr halten. Es löst sich zwangsläufig auf und verliert seinen Schrecken. Die Verfehlung, die nur in den Augen des ÜBER-ICHs eine Verfehlung ist ( Ungehorsamkeit gegenüber dem Vorgesetzten ), bleibt ungesühnt.

Der Verurteilte repräsentiert symbolisch die Triebnatur des Menschen. In der Erzählung korreliert er mit dem Verständnislosen, dem emotional Reagierenden, der nichts begreift, aber über archaische Rache- und Vergeltungsphantasien verfügt. Der Reisende hat keine Sympathie mit dem Verurteilten und nachher Freigelassenen. Er will ihn nicht von der Insel mitnehmen und hindert ihn sogar daran, aufs Boot zu springen.

Die Tropeninsel fern aller Zivilisation repräsentiert symbolisch den unbewussten Bereich der Psyche. Mit seinen Triebkräften aus dem ES-Bereich kann sich das ICH noch nicht anfreunden. Es hat lediglich das Strafbedürfnis seines ÜBER-ICHs außer Kraft gesetzt. Das aber lauert immer noch als permanente Drohung am Grunde seiner Psyche: die Strafmaschine ist zwar zerstört, nicht aber die Prophezeiung, dass der alte Kommandant eines Tages wieder auferstehen wird.

Die Erzählung Kafkas markiert einen wichtigen Punkt in der psychischen Entwicklung eines Menschen: die Phase nämlich, wo sich der Mensch von den normativen Zwängen des ÜBER-ICHs befreit, die konventionelle Moralstufe verlässt zugunsten einer nachkonventionellen Moral, in der das Bewusstsein - die Vernunft - die Normen des Handelns selbst setzt (ICH-IDEAL). Bei Kafka selbst ist es die Überwindung der väterlichen Instanz, die als ÜBERICH seinen Haß selbst in Angst, Schuldgefühl und Sühnebedürfnis umbiegt. In der Strafmaschine genießt er sein Sühnebedürfnis. Er befriedigt in ihr seine Aggression auf den Vater, die durch das ÜBER-ICH in Selbstbestrafung umgewandelt wird. Mit der Zerstörung dieser Strafmaschine verliert Kafka sein Strafbedürfnis und gewinnt an ICH-Stärke.

Mit der Entmachtung des ÜBER-ICHs verliert auch der väterliche Vorwurf der Liederlichkeit in Kafkas Lebensführung seinen Schrecken. In der Erzählung sind die lieblichen Damen nur noch ein Schrecken für den alten Kommandanten und seinen Offizier. Für den Reisenden - wie für den Leser - wirkt das pejorative Verhältnis des Offiziers zur Damenwelt nur noch paranoid und lächerlich.

Im Vergleich zum Urteil ist eine bemerkenswerte Entwicklung festzustellen. Im Urteil steht der Erzähler noch ganz im Bann der väterlichen Instanz.

Seinen Hass auf den Vater sieht Georg B. noch nicht. Er gibt sich ganz als sorgender fürsorglicher Sohn. Dennoch ist sein Hass latent vorhanden. Nur so ist sein Strafbedürfnis, sein Sühnetod, zu verstehen, als er die Verurteilung seines Vaters annimmt und sich von der Brücke in den Tod stürzt. Das Schlussbekenntnis des Sohnes "liebe Eltern, ich habe euch immer geliebt" stimmt also nicht, bzw. es stimmt nur im Bewusstsein des Sohnes. Sein Unbewusstes steht dem entgegen und treibt ihn in den Sühnetod.

In der Strafkolonie hat Kafka die Anachronie des Strafbedürfnisses entlarvt und die Strafmaschine außer Kraft gesetzt.

Achtung: die psychoanalytische Textdeutung auf der Subjektstufe gibt nicht die bewusste Strategie des Erzählers wieder. Sie enthüllt mehr als dem Erzähler bewusst ist. Eine psychoanalytische Deutung bietet sich immer dann an, wenn die Deutung auf der rationalen Ebene unbefriedigend bleibt, was für fast alle Kafka-Texte gilt. Kafkas Erzählungen gleichen häufig Träumen, die dem Träumer genauso rätselhaft erscheinen wie dem Interpreten. Die Psychoanalyse liefert uns einen hilfreichen Schlüssel zur Traumdeutung und damit auch einen Schlüssel zum Verständnis kafkaesker Texte.