gegen den strich
poetische und unpoetische ergüsse




Raikja(1963)

Manchmal - und das besagt in unserer sprache sehr oft, zeitlich gemessen vielleicht sogar fast immer - verbindet mich mein blick mit den gegenständen meiner umwelt; dann hafte ich mit den sinnen an dieser welt und sage: dort bist du, was machen wir...ich habe hunger...oder beginne mit: stell dir vor, neulich da hat ...ich diskutiere mit hochrotem kopf, höre dich, unterbreche dich, sage: idiotisch oder der meinung bin ich auch und oft: so ist es und nicht anders.

Meistens jedoch - und das besagt in der zeit unserer uhren eigentlich fast nie - ermüdet sich mein blick an den alltäglichen gegenständen um mich herum, gleitet ab und entschläft im nullpunkt der leere; dann bin ich so, wie ich bin - einsam - so alt wie ein nutzloser stein und empfinde das weiterpochen des herzens als unnatürlichen, unverständlichen lebenswillen.
Vielleicht ist es zu stein gewordene traurigkeit, sage ich mir dann, wenn ich noch hoffnung habe, oder stumpfsinniges dahindösen, mangel an phantasie, wenn ich verzweifelt bin. Richtig gesehen ist es jedoch nur ein fallen in die schwärze des grundes, das den befreienden aufschlag erwartet, eine müdigkeit nach dem schlaf, die vergessen und aufhören ersehnt.
Und plötzlich - knapp vor dem gefrierpunkt der gedankenleere - geschieht es dann immer, daß ich an raikja denken muß.

Zuerst habe ich sie gar nicht sehen können. Als ich die augen öffnete, lag ich in einer flachen sandmulde, umgeben von zerzaustem büschelgras der dünen. Aber auch das habe ich erst später feststellen können, denn eigentlich war es kein sehen, sondern nur ein einatmen des blauflüssigen morgens, das noch vor allem bewußtsein empfindet. Erst jetzt sah ich durch die gleißenden fluten der helligkeit hindurch den blauen wolkenlosen himmel. Ich riß den reißverschluß auf und trat ihn in plötzlicher bedrängnis von mir in den sand - warm rieselte der sand mir durch die finger und tauchten meine hände etwas tiefer, so spürte ich noch die erfrischende kühle der nacht.

Gestern abend hast du also noch in eine dieser strandkaschemmen in St.e Marie de la Mer gesessen - roh aus holz zurechtgezimmert, wie pilze aus dem harten salzschorf des sandes emporgeschossen im goldrush der touristenattraktion camargue. Toureaux, flamingos, zigeuner - und die jünglinge in weißen verstaubten jeans und karierten wollhemden, den cowboyhut tief in die stirn gedrückt. Sie lehnen an den verandastützen, scharren mit ihren spitzen stiefeln im sand, sprungbereit, die weißgescheckten sattellosen pferde am halfter - schon erwartet man die silberbeschlagenen schnellschüssigen colts lose an den schenkeln baumeln zu sehen, fragt sich, ob man sich nicht unberufen in die kulisse eines filmstudios verirrt hat, sucht vielleicht schon nach regisseuren und camerateams und ist eigentlich dennoch nicht erstaunt, wenn man heimatlich gerührt erhört, daß die weidegründe dieser schnellfüßigen, feurigen cowboys keineswegs woanders liegen als in oberhausen und in köln.

Nicht auszuhalten, sagte ich mir, und dennoch hat es nicht so überzeugend geklungen, wie ich es gern gewollt hätte. Nein! habe ich zwar dem wirt gesagt, der eilfertig hinzukam und den rotwein schwappend nachschenkte. Eh bien, ce soir...jouez de la guitare...eh? und damit deutete er auf meine guitare, zwinkerte mit den augen und gab mir einen aufmunternden klaps - verlockendes angebot: wein, neue gesichter, gespräche, bekanntschaften, interessanter abend. - Nein, sagte ich, und es fröstelte mich etwas bei diesem nein: es hat keinen zweck, ich muß das andere versuchen. Ich muß mich mir selbst aussetzen, und das geht nur dort, wo meine worte, mein lied, meine trauer und flüche ungehört bleiben.

Ich nahm meinen rucksack, schulterte die guitare, und ohne mich nocheinmal umzusehen, schritt ich etwas verbissen in den flammenden ball der untergehenden sonne. Der junge am ufer der Petit Rhone glaubte, nicht richtig verstanden zu haben. Schließlich ging er achselzuckend zu seinem boot und mit einem kräftigen ruck schob er es vom ufer durch die schilfgräser in das brackwasser der Rhone. Am anderen ufer gab er mir die Hand. Mach's gut, sagten seine augen, deine waffe hast du doch durchgeladen, dein messer ist doch hoffentlich scharf genug, und er deutete mit seinem arm gerade aus. Grau du Roi, trente kilometres! und plötzlich da freute mich die kraft meiner schenkel und das scheuern des hosentuches. Ich riß mir die schuhe von den füßen und zertrat den weichen sand, bis ich ihn naß und fest unter mir fehlte und die salzige gischt an meinen knien flockte.

Schwarz war die nacht und mondlos. Nur meine nassen füße ertasteten die grenze des grenzenlosen und gaben mir die richtung. Seltsam, raikja, sagte ich später zu ihr: ich konnte eigentlich gar nicht sagen, daß das meer links von mir liegt und wenige schritte rechts hinter den dünen die sumpfwüste der salzseen und schilfwälder. Da war auch kein himmel, der in seiner unendlichen wölbung das meer und den sand begrenzt und zueinander geordnet hätte. Aus den gulis der finsternis schwamm die schwärze der nacht heran und verband sich mit der luft, dem wasser und den sand. Waren die trosse der ordnung tagsüber im hellen sonnenlicht straff gespannt, meer, dünen und seen fest miteinander verzurrt, so schienen jetzt die ankerseile - kaum der wachsamkeit des lichtstrahls entronnen - schlaff hindurch zu hängen und im leichten windhauch gefährlich zu schwanken.

"So, wie der winter in seinen hagelstürmen und schneebergen selbstzufrieden glänzt und dabei den warmen frühlingswind vergessen hast, so hast du vor deiner nacht die wolke durch den regen und den strand durch das meer gesehen."

Ja, raikja. Leise scheppernd hatte das meer seine krallen aus dem sand gezogen, und eine leichte unwirsche handbewegung Neptuns nach rechts hätte genügt, und ich wäre als fisch weiter nach westen gezogen.

Eben! lachte raikja, das ist dein großer fehler gewesen, o großer Poseidon, du bist eben nicht vom meer gekommen. Und eh ich noch die strafende antwort bereit hielt, war sie schon mit ihrem lachen in das wasser gesprungen, so daß ich nur noch den plötzlichen wasserschwall unwillig zwar, aber dennoch gelassen von mir schütteln konnte. "Du bist eben nicht vom meer gekommen..."ich lächelte und dachte an den morgen nach der nacht.

Es ist morgen, sagte ich mir, als ich mich aufrichtete, ein junger morgen, der gerade aus der waschmaschine gekommen noch frisch und saftig duftet und - ich konnte es nicht lassen - kaskadejungfräulich, blau in seiner fülle, nicht schon verblichen in der sengenden glut des mittags. Hell und glatt hat der wind die falten und wellen in den sand gebügelt und das meer...
ja, und da habe ich sie plötzlich gesehen, zwanzig schritte vor mir. Nackt aus rotem ton geschnitzt, die beine leicht gespreizt, den rücken mir zugekehrt - so stand raikja am wasser, noch naß perlend vom morgendlichen bad - taubefeuchtet, hätte ich beinahe gesagt, da mich das nicht unangenehme gefühl beschlich, in irgendeiner hübschen fortsetzungsromanze einer illustrierten zu blättern. Das augenreiben nützte nichts: sie war nicht wegzuleugnen. Ihre linke hand schien irgendetwas zu halten, und jetzt, als sie etwas unwirsch ungeschickt das nasse haar nach hinten zu streichen versuchte, bemerkte ich die staffelei auf einem dreibein und das weiße eines papierbogens.

Auf katzensohlen schlich ich mich näher, den erwartungsvoll prickelnden vorgeschmack auf der zunge wie jener sonntagsfrühaufsteher, der auf der morgendlich gedeckten tafel freudig ein weichgekochtes ei entdeckt. Über ihre schulter hinweg beobachtete ich, wie sie die bewegung der wellen in kohlestrichen festzuhalten suchte.

"Hm," sagte ich zu ihr, "meinst du nicht, daß der zeitpunkt ungünstig ist? Stell dir vor - sonnenuntergang: das wasser, der sand, dein nackter körper spiegeln die rote glut der sonne und du stehst vor deiner staffelei, den gezückten kohlestift in der hand, vielleicht sogar mit religiösem augenaufschlag wie Echnaton vor der sonne - das click der camera des twenphotographen hinter dem gebüsch nicht zu vergessen - versteht sich..."

Zwei dunkle augen bohrten sich in die meinen.

"Nun ja," setzte ich versöhnlich hinzu, "ich vergaß die mücken am abend und wer ist schon zum märthyrer geboren."

Und eh ich noch feststellen konnte, ob schreck, überraschung oder mehr ärger in ihrem bohrenden blick lag, hatten sich ihre augen zu einem spalt geschlossen, und ein spöttisches lächeln umspielte ihre lippen.

"Ach, du bist es, Odysseus, ich hätte dich wenigstens vom meer her erwartet, und nun erscheinst du mit sandverklebten augen, den stallgeruch der ziegen noch im haar - noch dazu sind deine lenden weiß und, wie mir scheint, nicht so fest, wie ich sie mir wünsche. Siehst du, wenn du wenigstens von dort gekommen wärst - schaumgeboren, schaumgekrönt." Und sie deutete auf das meer.

Ich weiß, ich hätte es nicht tun sollen. Ich schaute unwillkürlich in die richtung. Ich hätte es mir gleich denken können, als sie ihre blitzenden augen hinter den gesenkten wimpern versteckte und mit einem so süßen, spöttischen lächeln sprach. Denn ehe ich mich versah, fühlte ich einen kräftigen stoß, stolperte über ein blitzschnellgestrecktes bein und klatschte der längelang in das wasser.

"Siehst du, mein lieber Odysseus, jetzt weißt du, woher du kommen mußt und verstehst vielleicht die dir gegebene richtung etwas besser als vorhin."

Es wird wohl das lachen gewesen sein, daß sie iritierte. Es war wohl auch kein lachen, denn ich lachte nicht laut, ich lachte überhaupt nicht. Es war kein explosives lachen, das sich auslachen kann. Es war ein lachen ohne ende und wohl auch ohne anfang, weil es immer schon da war. Es war nur plötzlich da, weil ich hineingefallen war in ein meer von glühenden wellen.

Es war auch nicht, daß sie irritiert war. Sie hatte sich nur plötzlich flach herumgeworfen, beine und arme in den sand gespreizt zum schnellen sprung, wenn nicht ihr blick mehr als nur ein katzenhaftes lauern gewesen wäre.

Mein gott, wie macht sie es jetzt? Ich habe es genau gesehen: gespannteste erwartung und die ängstlichkeit des durch erfahrung immer wieder getäuschten. Ein wort zuviel - eine betonung nur um eine nuance falsch und ...

Ich war überrascht, wie ruhig, beiläufig, wie fast gelangweilt sie sagte:
"Na und? Was willst du mir jetzt schon sagen? Daß das wetter schön ist und der himmel so blau - zweifelsohne - dann wirst du mich fragen, wie ich heiße, wie alt ich bin, wo ich herkomme, was ich tue....ich heiße zum beispiel..."
"Halt! Raikja!" Diesmal lachte ich wirklich. "du wärst imstande! Meinst du, ich würde meiner Phantasie irgendwelche grenzen setzen wollen, in dem ich dich als annemarie oder karin begreife, die zu meinem leidwesen volksschullehrerin werden will?"

"Raikja,", auch sie lächelte jetzt, nur begrenzt durch deine wunschvorstellungen. Gut, chann, willkommen im reich quatoll, bar jeder gesetzlichkeit - jedoch, wie du sehen wirst - sammle schon mal das feuerholz - nicht ungebunden an qualvolle ordnungszeremonien..."

Und in uns war ein lachen, das nicht laut, nicht leise und bestimmt außerhalb des amüsierten lächelns lachte....