Lieber rube,

herzlichen dank für deine ausführliche replik zur matrix. Mit deiner philosophischen kritik habe ich allerdings verständnisschwierigkeiten.

  1. Kant soll nicht mehr das letzte wort haben. Aber warum ausgerechnet nun berkeley mit seinem esse percipi, für den die welt verschwindet, wenn er die augen schließt? Wenn ich dich recht verstehe, outest du dich nun als vertreter des empirismus. Die dinge existieren nicht, was existiert, sind lediglich die subjektiven sinneswahrnehmungen des wahrnehmenden. Nicht die welt an sich wird wahrgenommen, sondern nur die wahrnehmungen, eine selektierte und interpretierte sinnesdatenmenge. So verkündet schlick als vertreter des modernen empirismus: die erkenntnis über die welt ist eo ipso subjektiv.
  2. Abgesehen davon, dass der moderne empirismus der kopernikanischen wende kants folgt - kant also auch hier ausgangspunkt des modernen empirismus ist-, so krankt der moderne empirismus an seiner metaphysischen voraussetzung, die er selbst nicht empirisch begründen kann (nachzulesen bei Stegmüller. Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie). Zumindest ist er in seinem programm gescheitert, sich aus seinen metaphysischen voraussetzungen zu befreien.
  3. Das esse percipi berkeleys hat gegenüber kant den gewaltigen nachteil, dass erkenntnis nur noch in der subjektiven befindlichkeit des wahrnehmenden begründet liegt und eine solipsistische position gar nicht mehr vermeidbar ist. Zwar sagt auch kant, dass die dinge nur in ihrer bezogenheit auf das erkennende subjekt zum erkenntnisgegenstand werden, über die dinge an sich also gar nichts gesagt werden kann, dennoch sind die dinge als erscheinungen des erkennenden subjekts intersubjektiv objektivierbar. So sind raum und zeit apriorische anschauungsformen der menschlichen gattung und nicht in die subjektive befindlichkeit des einzelnen erkenntnissubjekts gestellt.
  4. Kant soll gar nicht das letzte wort haben. Er fungiert eher als ausgangspunkt der modernen philosophie für weitere überlegungen. So hat die moderne sprachphilosophie das kantsche paradigma weiterentwickelt und die apriorischen metaphysischen anschauungs- und begriffsformen auf grammatische strukturen der sprachgemeinschaften beziehen wollen.
  5. Ebenso ist mein versuch, mit hilfe der jungschen archetypen das spektrum der apriorischen anschauungsformen zu erweitern, als weiterentwicklung des kantschen philosophieparadigmas aufzufassen. Ich nehme den wesentlichen gedanken kants auf, dass unsere anschaung der dinge von a priori existierenden anschauungsformen strukturiert werden, die nicht empirischen ursprungs sind, die also unsere erfahrung bestimmen, ohne selbst aus der erfahrung zu stammen. Zweifellos erfüllt die jungsche definition von dem, was ein archetypus ist, genau diese kantische bedingung. Der archetypus wird von jung als ein selbst unanschauliches bereitschaftssystem aufgefasst, das unsere anschauung strukturiert, ohne selbst in der anschaung profil zu gewinnen.
  6. Du fragst rhetorisch: sind farb-, wärme- und ausdehnungsdaten genuine attribute der dingwelt und konterst mit berkeley, der alle unterscheidenden kategorien in das erkennende subjekt verlegt. Mich wundert, dass du nun kant verübelst, wenn er den raum als apriorische anschauungsform und nicht als attribut der dingwelt auffasst.
  7. Anderseits scheinst du hier auch hinter berkeley zurück zu fallen, wenn du den raum als attribut der dingwelt auffasst und als gegenstand der erfahrung bezeichnest. Diese vorkopernikanische position ist auch die traditionelle sicht des common sense, die einzunehmen natürlich nur der philosoph als ehrenrührig empfindet. Was dich indes nicht abhalten soll, diese position einzunehmen. Schließlich gibt es auch philosophen des common sense wie moore, auf den du deine sichtweise stützen könntest.
  8. Wie kommt es, dass der perspektivisch dargestellte würfel auf der tafel vom rezipienten als dreidimensionales gebilde aufgefasst wird und seltener als das zusammenfügen unterschiedlicher flächen wie bei einem tangram-spiel? Sicherlich hat das, wie du andeutest, mit unserem erlernten wissen zu tun. Wer keinen würfel kennt, wird auch den auf der tafel gemalten würfel nicht erkennen. Deine antwort indes, das dreidimensional interpretierte bild beruhe auf unserer erfahrung, ist höchst problematisch. Die katze z.b. nimmt das wollknäuel wahr und spielt mit ihm. An dem naturalistisch dargestellten bild des wollknäuels geht die katze achtlos vorbei. Zwischen bild und dargestelltem gegenstand kann sie keine verbindung herstellen. Die erfahrung des dreidimensionalen wollknäuels reicht also bei der katze nicht aus, um im bild das wollknäuel zu erkennen. Nun kannst du sicherlich mit recht einwenden, dass der erfahrungsraum der katze ein anderer ist als der des menschen, wo bilder z.b. gar nicht vorkommen. Interessant ist aber, dass der erfahrungsraum sowohl der katze als auch des menschen gar nicht von der dingwelt abhängt. Ob ein gebilde als drei- oder zweidimensional interpretiert wird, hängt offensichtlich nicht von der natur des dinges ab, sondern von der perspektive des erkennenden. Was auch immer das wollknäuel für die katze sein mag, es ist nicht derselbe wahrnehmungsgegenstand, den wir menschen als wollknäuel bezeichnen, eben auch kein räumlicher gegenstand. So spricht doch einiges für die kantische sicht, die räumlichkeit eines dinges an der menschlichen anschauung und nicht an der natur des dinges festzumachen.
  9. Ob raum und zeit immer schon apriorische anschauungsformen vor aller erfahrung gewesen sind, wie kant unterstellt, steht durchaus in frage. Ich meine irgendwo gelesen zu haben, dass der mensch vor 1500 v. chr. noch gar nicht in der lage gewesen sein soll, räumlich perspektivisch zu sehen. Ob das an der bicameralen psyche liegt, die den altmenschen angeblich noch bestimmt haben soll, sei einmal dahingestellt. Die räumlich-perspektivische erfassung der dingwelt scheint wenigstens eine ziemlich junge erfindung der menschheit zu sein.
  10. Dass du den erkenntnistheoretischen zusammenhang zwischen dem matrix-film und der cartesischen ausgangsfrage nicht siehst, wundert mich. In den religions- und philosophischen fortbildungen wenigstens wird der film matrix als paradima der cartesischen fragestellung thematisiert. Ich bin also nicht der erste und einzige, der diesen zusammenhang herstellt. Zur erinnerung: Descartes fragt sich, ob wir die welt so sehen, wie sie ist oder ob nicht ein allmächtiger betrüger existieren könnte, der uns eine scheinwelt vorgaukelt, genau also eine solche welt, die die matrix erzeugt. Descartes glaubt nun, mit hilfe seines methodischen zweifels zeigen zu können, dass wir in keiner scheinwelt leben. Warum ihm das nicht gelingt, versuche ich in meinem aufsatz aufzuzeigen und illustriere das scheitern der cartesischen methode am beispiel neos im film. Wenn nämlich neo nach derselben methode wie descartes gewissheit über seine welt erlangen wollte, so käme er wie descartes zur gewissheit seiner existenz und die gottes und würde fälschlicher weise daraus schließen, dass seine welt keine scheinwelt sein kann.
  11. Die scheinwelt der matrix ist in der tat eine räumliche, in der alle physikalischen naturgesetze wie z.b. die gravitation gelten. Sie unterscheidet sich also nicht von der welt, die wir tagtäglich erfahren. Die matrix selbst, die wahre wirklichkeit, ist in diesem physikalischen scheinraum nicht anzutreffen. Sie befindet sich auf einer höheren, metaräumlichen dimension (ich spreche deshalb hier von der vierten dimension). Von dieser dimension aus operieren die wächter der matrix und später auch neo, um die scheinwelt nach ihren bedürfnissen zu ändern. Auch trinity gelingt es von hier aus, neo vom tod auferstehen zu lassen. So wenigstens interpretiere ich ihren kuss auf den wirklichen mund neos, der dem schon getöteten leib in der scheinwelt wieder das leben einhaucht. Zwischen wirklichem leib und scheinleib scheint ja im film in sofern ein zusammenhang zu bestehen, als der wirkliche leib ohne seinen scheinleib nicht existieren kann (verstehen muss man das nicht).
  12. Dein argument, die scheinwelt der matrix sei in wirklichkeit gar keine räumliche, weil keine reale, unterstellt fälschlicherweise, dass räumlichkeit nur in der realität existieren kann. Jede betrachtung eines gemäldes, eines fotos, eines films zeigt dir, dass die räumlichkeit im kopf des betrachters entsteht, denn auf der zweidimensionalen vorlage ist sie nicht vorhanden. Wenn du nun mit recht der scheinwelt der matrix die realität absprichst, so gilt dieses argument nur für die, die außerhalb der matrix stehen und von dort aus den raum der scheinwelt der matrix verändern können. Es gilt aber nicht für die, die in der welt der matrix leben und von der matrix gar nichts wissen. Mit hilfe descartes kommen sie nicht aus ihrer scheinwelt heraus.
  13. Ich glaube nun nicht, dass unsere raum-zeitliche welt eine scheinwelt ist und unsere existenz so wie die von sophie und alberto nur eine eingebildete ist. Aber alle erkenntnisse, die wir über unsere realität haben, sagen nichts über eine von uns unabhängige außenwelt aus. So sagt der cartesische ich- und gottesbeweis nichts über die realität aus, dafür umsomehr über die struktur unseres selbst. Das ist meine eigentliche these.
  14. Das SELBST ist mehr als das bewusste ICH. Um das graphisch zu illustrieren, greift c.g.jung zum bild der kugel. Die beleuchtete vorderansicht der kugel repräsentiert das bewusstsein des SELBST, das ICH. Die unbeleuchtetete dunkle rückseite der Kugel dagegen symbolisiert das unbewusste des SELBST. So weit c.g. jung. Ich habe darüber hinaus das cartesische koordinatenkreuz mit der waagerechten geschlechtsachse (animus und anima) und der senkrechten moralachse (gott und teufel)  auf die kugel projiziert. Den nullpunkt des koordinatenkreuzes auf der beleuchteten vorderseite der kugel definiere ich als den ausgangspunkt des ich-bewusstseins. Projiziert auf die kugel ergeben die beiden ordinaten des cartesischen kreuzes zwei kreise, die sich auf der unbeleuchteten rückseite der kugel zum zweitenmal schneiden. Diesen mathematischen punkt nenne ich in bewusster abweichung zum antipoden, dem gegenfüßler, der auf der gegenseite der kugel wohnt, die antipode. Diese antipode symbolisiert zweierlei:1. den ausgangspunkt des gottheitsarchetypus, der dem anfänglichen atavistischen gottesbegriff zugrunde liegt, in dem gott und teufel noch nicht von einander getrennt sind und 2. den ausgangspunkt des tiermenschen, bei dem sich die anima noch nicht vom animus getrennt hat. Die antipode symbolisiert den ausgangspunkt der menschheit vor ihrem sündenfall, als der mensch sich noch nicht vom tier unterscheidet und noch nicht weiß, was gut und böse ist. Mit der geburt des bewusstseins dehnt sich das ICH entlang der beiden ordinaten aus. Der teil des beleuchteten feldes auf der vorderseite der kugel wird immer größer. Der animus trennt sich von der anima, das gute vom bösen. Das bewusstsein trennt die gegensätze bis zur höchstmöglichen extremität. Das männliche wird zum absoluten gegenpol des weiblichen (entwicklung aller vorpatriarchalischen kulturen hin zum patriarchat) und gott der absolute gegenpol zum teufel (entwicklung vom polytheismus zum monotheismus). Das entzweiende bewusstsein hat seine größte ausdehnung erreicht, wenn die gesamte vorderseite der kugel beleuchtet ist. Auf die rückseite der kugel vermag das bewusstsein nicht zu dringen. Dieser teil des SELBST bleibt dem ich-bewusstsein stets verborgen, aber, und das ist entscheidend, hat einen messbaren einfluss auf die handlungsweise des menschen. So wird der moralist nach wie vor vom teufel geritten und das um so mehr, je mehr er den teufel bekämpft. Gerade der moralist ist begnadetes opfer des in ihm wütenden tiermenschen, von dem er gar nichts weiß. Jung spricht hier von der schattengestalt, die mit notwendigkeit an jeder lichtgestalt klebt.
  15. Um diesen zusammenhang zwischen bewusstem und unbewusstem SELBST zu sehen, müssen wir natürlich die kugel verlassen, das SELBST transzendieren. Der transzendentalphilosoph  schaut aus der perspektive des satelliten auf die kugel und kennt damit die unbeleuchtete rückseite der kugel (ohne allerdings schon damit den unbewussten teil seines eigenen SELBSTs zu erkennen). Die kugel als bild des SELBST zeigt deutlich, warum das SELBST dem bewusstsein immer transzendent bleiben wird. Als beleuchteter teil der kugeloberfläche ist das bewusstsein quasi zweidimensional und kann die dreidimensionalität der kugel prinzipiell nicht erfassen.
  16. ICH, GOTT, TEUFEL, ANIMUS, ANIMA gehören im cartesischen sinne zu den res cogitans. Sie gehören zu unserer begriffswelt, von denen wir keinen begriff streichen können, wenn wir unsere welt verstehen wollen. Sie gehören darüber hinaus zu den randbegriffen, an die das bewusstsein nur heranreicht, ohne sie ganz zu erfassen. Sie gehören zum transzendentalen SELBST, das die transzendentale bedingung unseres bewusstseins ist. Sie sind die transzendentalen archetypen, die unsere anschauung erst strukturieren.
  17. Der philosophische fehler des bewusstseins ist es, die ihm transzendenten archetypen als transzendente entitäten in die außenwelt zu projizieren. Das ist auch dann ein fehler, wenn GOTT nicht nur als archetypus des SELBST existierte, sondern eine vom SELBST unabhängige existenz hätte. Selbst wenn das der fall sein sollte: die philosophie kann keine sinnvolle aussage über ein gebiet treffen, das außerhalb des SELBST liegt. Sinnvolle philosophische aussagen lassen sich nur über dinge treffen, die gleichsam auf der kugel des SELBST verortet sind. Ob also GOTT und TEUFEL noch eine vom SELBST unabhängige existenz haben, bleibt müßige spekulation. Im übrigen kann diese spekulative idee nicht mehr erklären, als die jungsche archetypenlehre über GOTT erklären kann, so dass sie dem ockhamschen messer zum opfer fällt.
C'est tout.

Ich hoffe, dir reicht's         harald