Harald von Rappard (November 99)

Der ungeteilte Himmel über der geteilten Republik

Recht, Moral und Politik im bürgerlichen und sozialistischen Selbstverständnis
Eine transzendentalphilosophische Analyse zum Urteil des BGH gegen die Politbüromitglieder der ehemaligen DDR

Das Urteil ist gesprochen. Die Verurteilung der DDR-Spitzenpolitiker zu mehrjährigen Haftstrafen ist in letzter Instanz und damit endgültig vom Bundesgerichtshof bestätigt worden und das ausgerechnet an dem symbolträchtigen Datum zehn Jahre nach Öffnung der Mauer gerade durch jene, die jetzt pikanterweise verurteilt worden sind.

Die Verurteilung findet in der Presse weithin Beifall. Der Tenor: es dürfe nicht sein, daß die Kleinen bestraft und die Großen laufen gelassen werden.

Eines ist klar und für jedermann einsichtig: wenn der Mauerschütze für seinen tödlichen Schuß bestraft wird, dann muß auch der für den Schießbefehl Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden. Wenn aber der Mauerschütze zu Unrecht bestraft wird, dann läßt sich die Gerechtigkeit nicht dadurch herstellen, daß man die Verantwortlichen zu Unrecht bestraft.

Die Verurteilten und deren Klientel, die sich heute im Wählerspektrum der PDS findet, sprechen von Sieger- und Rachejustiz (sehen wir vom reumütigen Schabowski ab, der bemerkenswerter Weise Schuldgefühle zeigt).Für Marxisten, so weit es diese noch gibt, ist die Verurteilung a priori Ausdruck bürgerlicher Klassenjustiz und deshalb nicht außerhalb ihrer Erwartung.

Dabei haben es sich die bundesrepublikanischen Gerichte nicht leicht gemacht. Im Rechtsstaat gilt schließlich der Grundsatz: nulla poena sine lege. Bestraft kann nur werden, wer gegen bestehende Gesetze verstößt. Die DDR-Politiker sind nach dieser Auffassung nur bestrafbar, wenn sie gegen damals geltendes DDR-Recht verstoßen haben. Selbst wenn kein DDR-Gericht die SED-Politiker jemals zur Rechenschaft hätte ziehen können, so lässt sich immerhin überprüfen, ob Politik und Justiz im Einklang mit dem oder gegen das DDR-Recht gehandelt haben. Und hier glauben die Richter fündig geworden zu sein. Mit der Anerkennung der Menschenrechte in der DDR-Verfassung und in der Helsinki-Erklärung habe sich die DDR selbst einem Maßstab unterworfen, gegen den die eigene Rechtspraxis ständig verstoßen habe. So war die Republikflucht zwar ein legaler Straftatbestand im DDR-Recht, aber illegitim in bezug auf das Menschenrecht auf Freizügigkeit, also unrechtes Recht. Die Aufrechterhaltung der Mauer und die rechtliche Verfolgung der Republikflüchtigen ist deshalb als Verfassungsbruch zu bewerten und macht die DDR eo ipso zu einem Unrechtsstaat, da nach Meinung des Gerichts die DDR ohne Mauer nicht hätte existieren können. Jeder also, der sich aktiv an der Aufrechterhaltung des DDR-Staates beteiligt hat, hat sich nach der Logik des BGH eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht.

In meiner Analyse möchte ich zeigen, dass dem BGH-Urteil ein borniert bürgerliches Rechtsverständnis zugrunde liegt, das dem sozialistischen Rechtsverständnis gar nicht gerecht werden kann.


Das sozialistische Rechts- und Moralverständnis

These: DDR-Justiz und BRD-Justiz sind nicht nur inkompatibel in bezug auf das geltende positive Recht, sondern viel wesentlicher in bezug auf die Moral, die das jeweilige positive Recht begründet. Die DDR-Justiz hat sich immer offen als Klassenjustiz verstanden, sich zur Diktatur des Proletariats ausdrücklich bekannt. Die DDR hat sich gerade nicht als bürgerlicher Rechtsstaat verstanden, der die Gewaltenteilung fordert und das Politische streng vom Rechtlichen und vom Moralischen zu trennen sucht. Im sozialistischen Staat fällt Moral, Recht und Politik zusammen. Legal ist hier nur das, was auch politisch legitim ist und legitim ist nur das, was im wohlverstandenen Interesse der Arbeiterklasse ist. Die sozialistische Moral fordert gerade zu eine Einheit von Legalität und Legitimität, also von Gesetz und Moral und Politik. In einem solchen Rechtsverständnis ist legal immer das, was politisch opportun ist. Das Recht paßt sich also immer und muß sich immer an die Politik anpassen, im bürgerlichen Verständnis ein unvorstellbarer Vorgang!

Wenn der sozialistische Staat nur durch Mauer und Schießbefehl politisch aufrechterhalten werden kann, was der Bundesgerichtshof in seiner Urteilsbegründung ausdrücklich attestiert, dann folgt daraus tautologisch, daß der Schießbefehl nicht nur legal, sondern auch legitim ist und damit moralisch und gesetzlich eingefordert werden muß. Der sozialistische Staat gilt in der sozialistischen Moral als das legitime Mittel, die Herrschaft der Arbeiterklasse zu sichern und zwar ausdrücklich gegen die bürgerliche Klasse, die ihr das Herrschaftsrecht streitig zu machen sucht.

Der Einwand, daß mit dem Schießbefehl Menschenrechte verletzt werden, muß die sozialistische Moral als bürgerliche Moral zurückweisen. Die sozialistische Moral ist eine kommunitaristische Moral, die der Gemeinschaft einen höheren Stellenwert zuweist als dem Recht des Einzelnen. Wer der Gemeinschaft den Rücken kehrt oder sie zu fliehen sucht, handelt unmoralisch und damit nicht nur illegitim, sondern illegal. Er erfüllt den Straftatbestand der Republikflucht. Die bürgerlichen Individualrechte werden in der sozialistischen Moral eingeschränkt. Der sozialistische Bürger darf sich und seine Individualität nur innerhalb der Gemeinschaft entwickeln, nicht aber auf Kosten der Gemeinschaft, gegen die Gemeinschaft oder jenseits von der Gemeinschaft.


Recht und Moral in bürgerlicher Sicht

Im bürgerlichen Rechtsverständnis der Bundesrepublik gibt es diese Bindung des Individuums an die Gemeinschaft nicht. Dem Individuum wird hier jede Freiheit zugestanden, außer die, die geltenden Gesetze zu brechen. Er hat hier im Rahmen der Gesetze die Freiheit, sich die Lebensgrundlagen anderer anzueignen, seine Macht auf Kosten anderer zu vergrößern, die Gemeinschaft zu fliehen, sich gegen die Gemeinschaft zu stellen. Er hat im Rahmen der Legalität die Freiheit zur Unmoral. Moral ist im bürgerlichen Rechtsverständnis Privatsache, die den Staat nichts angeht und deshalb durch keine Gesetze geregelt wird. Im bürgerlichen Staat gilt das Legalitätsprinzip. Im sozialistischen Staat dagegen das Legitimitätsprinzip. Das Spannungsverhältnis zwischen Legalität und Legitimität ist für die bürgerliche Gesellschaft konstitutiv. (Das Legale ist hier nicht immer das Legitime und das Illegale kann durchaus das Legitime sein). In der sozialistischen Gesellschaft dagegen darf es nicht existieren, weil in ihr, wie oben schon gesagt, Legalität und Legitimität zusammenfallen, zumindest der Theorie nach zusammenfallen müssen.


Der sozialistische Staat: die Diktatur der Vernunft

Natürlich stellt sich sofort die Frage nach der Legitimität des sozialistischen Systems, wenn große Teile der Bevölkerung aus der Gemeinschaft ausbrechen wollen.

Ein Staat, der seine Bürger gegen deren Neigung und Interesse auf die Gemeinschaft hin verpflichtet und sie in die Gemeinschaft zwingt, ist sicherlich wenig attraktiv und wird immer als Zwangsstaat empfunden werden. Ein solcher Staat ist aber deshalb nicht schon unmoralisch. Er wäre der moralische Staat par exellence, wenn die Bürger aus Einsicht in die Notwendigkeit sich gegen ihre individuellen Neigungen für die Gemeinschaft entscheiden. Aber da diese Einsicht mehrheitlich fehlt, ist der sozialistische Staat die Diktatur der Moral, die die Bürger gegen ihre Einsicht zur Vernunft zwingt, d.h. nur der nichteinsichtige Bürger erfährt den sozialistischen Staat als Zwangsstaat.

Der sozialistische Staat ist noch kein freier Staat, aber kann zu einem freien Staat werden, wenn er keine Mauer und keinen Schießbefehl mehr zu seiner Aufrechterhaltung braucht. Historisch hat sich dieser Staat der Moralität in der DDR nach 89 sogar kurzzeitig verwirklichen können, ehe sich die DDR an die Bundesrepublik anschloß und den Sozialismus aufgegeben hat.


Der bürgerliche Staat und seine unmoralische Ökonomie

Die bürgerliche Ethik betrachtet den Menschen nicht als bloßes Mittel, sondern als Selbstzweck und leitet aus dieser Formulierung des kategorischen Imperativs die Menschenrechte ab (z. B. den Artikel 1 unseres Grundgesetzes: die Würde des Menschen ist unantastbar).

Die kapitalistische Wirklichkeit beruht dagegen auf der permanenten Menschenrechtsverletzung. Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ist hier nicht nur ein peripheres, akzidentelles Moment, sondern das substantielle Wesensmoment kapitalistischer Ökonomie.

In der bürgerlich kapitalistischen Gesellschaft kann der Mensch prinzipiell dem kategorischen Imperativ Kants nicht folgen. Der Kapitalismus beruht ja gerade darauf, daß hier eine Klasse von arbeitenden Menschen zum bloßen Mittel für eine andere, nicht arbeitende Klasse gemacht wird. Es ist also bloße Ideologie, die die wirklichen Verhältnisse verschleiert, wenn das Bürgertum der Bundesrepublik am kategorischen Imperativ Kants festhält.


Die Verkehrung der Moral im ideologischen Bewusstsein des Bürgers

Die eigentliche Perversion ist, daß diese für das System konstitutive Menschenrechtsverletzung im bürgerlichen Bewußtsein nicht vorkommt, die sozialistische Beschränkung egoistischer Moral dagegen als Freiheitsberaubung und Menschenrechtsverletzung klassifiziert wird.

Die wirklichen Verhältnisse werden im Kopf des Bürgers geradezu auf den Kopf gestellt. Was der Bürger Freiheit nennt, ist in Wahrheit Unfreiheit. Was der Bürger Autonomie oder Selbstbestimmung nennt, ist in Wahrheit Heteronomie oder Fremdbestimmung. Was für den Bürger Unterdrückung der Freiheit ist, ist für den Sozialisten Unterdrückung egoistischer Unmoral. Was in der bürgerlichen Moral Recht ist, ist in der sozialistischen Moral Unrecht und vice versa.

So ist es nur konsequent, wenn der Bundesgerichtshof den Schießbefehl an der Mauer als Menschenrechtsverletzung verurteilt. Im bürgerlichen Horizont kann das Verhalten der DDR-Führung nur als Unrecht gesehen werden. Es ist aber ebenso konsequent, wenn der Schießbefehl im sozialistischen Horizont zur moralischen Pflicht erhoben wird und in gar keinem Fall mit dem DDR Recht kollidieren kann.

Was der Bundesgerichtshof nicht sieht, ist, daß er in seiner bürgerlichen Sicht das bornierte Klasseninteresse der kapitalistischen Bourgeoisie vertritt. Die BRD-Justiz ist ebenso Klassenjustiz wie die DDR-Justiz. Der einzige Unterschied besteht darin, daß sich die DDR-Justiz immer ihres Klasseninteresses bewußt ist, die BRD-Justiz dagegen im ideologischen Wahn lebt, sie lasse sich bei der Verurteilung der DDR-Justiz von einer universalistischen Moral jenseits aller Klassen leiten.

Im bürgerlichen Horizont ist die DDR a priori ein Unrechtsstaat, weil ihre Aufrechterhaltung nur mit Waffengewalt gegen die Interessen eines großen Teils, wenn nicht sogar der Mehrheit der Bevölkerung erzwungen worden ist. In meta-bürgerlicher Hinsicht erkennen wir dagegen, daß die Unterdrückung der Interessen der Bürger genauso wenig zum Unrechtsstaat führt wie das Befolgen der bürgerlichen Interessen schon zum moralischen Rechtsstaat. Die Zustimmung der Bürger zum Staat kann die Moralität oder Unmoralität eines Staates nicht definieren. (Die Zustimmung der Deutschen zum faschistischen Staat wird 1938 auf über 70 Prozent geschätzt.)


Der bürgerliche und der sozialistische Staat im Lichte der Moralentwicklung nach dem Kohlberg-Habermas-Schema

Der sozialistische Staat ist kein Rechtsstaat und er versteht sich nicht als Rechtsstaat. Aber daraus folgt nicht schon logisch, daß er ein Unrechtsstaat ist. Dies ist er nur im bürgerlichen Verständnis. Der sozialistische Staat ist a priori ein moralischer Staat und zwar moralischer als jeder bürgerliche Staat, dessen Legalitätsprinzip zumindest nicht über die konventionelle Moral-Stufe hinausgeht.

Der sozialistische Staat ist seinem Selbstverständnis nach auf der sechsten Stufe der Moralentwicklung im Kohlberg-Habermas-Schema angesiedelt, auf der Stufe also, wo auch die Gesinnungsethik Kants angesiedelt ist. Moralität auf der sechsten Stufe ist nicht die Bindung an das gegebene Recht (vierte Stufe der Moralentwicklung) auch nicht abhängig von der Zustimmung der Mehrheit (5.Stufe der Moralentwicklung), sondern einzig und allein abhängig von der guten Gesinnung, hier von der sozialistischen Gesinnung, aus der heraus Legalität und Politik bestimmt werden.

Der sozialistische Staat versteht sich eindeutig als Gesinnungsstaat. Die richtige Gesinnung wird zum Ausgangspunkt und zum Kriterium richtiger Politik und Justiz und ist daher von entscheidender Bedeutung. Bricht die sozialistische Gesinnung zusammen, so bricht auch der sozialistische Staat zusammen. Erziehungsdiktatur und Inquisition sind deshalb weder amoralische noch periphere, sondern konstitutive Merkmale sozialistischer Staaten. Der sozialistische Staat hat strukturelle Ähnlichkeit mit dem platonischen Staat der Philosophen, in dem die Vernunft der Wenigen gegen die Unvernunft der Mehrheit zu regieren versucht.

Hegelsch gesprochen ist es die moralische Gesittung der Arbeiterklasse, die im sozialistischen Staat zum konkret Allgemeinen wird.


Gemeinschaftsrecht contra Individualrecht

Ist das Recht des Individuums höher anzusetzen als das Recht der Gemeinschaft? Oder hat die Gemeinschaft einen moralisch höheren Wert als der Wert des einzelnen Individuums? An dieser Frage entscheidet sich das axiomatische Rechtsverständnis des bürgerlichen und sozialistischen Staates.

Im bürgerlichen Bewußtsein stellt sich interessanterweise diese Frage gar nicht erst. Die Moral ist hier einzig und allein die Domäne des privaten Individuums. Der Staat hat sich in die Privatsphäre des Bürgers nicht einzumischen. Den moralischen oder unmoralischen Lebensentwurf gestaltet der einzelne Bürger selbst. Der bürgerliche Staat hat lediglich dafür Sorge zu tragen, daß jeder einzelne Bürger seiner Privatmoral folgen kann, nicht aber, was er zu befolgen hat. Die Freiheit des Bürgers ist deshalb eine schrankenlose Freiheit und findet naturgemäß ihre Grenze nur in der Freiheit des anderen. Nur dort, wo die Freiheit des Einzelnen auf die Freiheit des Anderen trifft, bedarf es der Gesetze, die auch nur an dieser Grenze regulierend eingreifen.

Die bürgerliche Trennung von öffentlichem Recht und privater Moral wird allerdings an einigen Stellen in unserer Verfassung durchbrochen. In der Abtreibungsfrage z.B. darf der Bürger nicht mehr seiner privaten Moral folgen. Hier schreibt der Staat seinen Bürgern (anders als die DDR) eine allgemein verbindliche Moral vor, was in der bürgerlichen Gesellschaft von den meisten Bürgern als Skandal empfunden wird. Hier greift der Staat auf vorbürgerliches Rechtsverständnis zurück, dem noch eine christliche Metaphysik zugrunde liegt und betreibt aus bürgerlicher Perspektive gesehen im eigentlichen Sinne Verfassungsbruch.


Die These des Liberalismus Das Verhaltens- bzw. ethische Axiom der bürgerlichen Gesellschaft lautet: je mehr der einzelne Bürger in den Stand gesetzt wird, für sein eigenes Fortkommen und für seine eigene Wohlfahrt zu sorgen, je weniger also der Staat eingreifen muß, desto mehr steigt auch das Wohl der Allgemeinheit. Das Allgemeinwohl wird damit als die Summe der geglückten Lebensentwürfe des Einzelnen verstanden nach dem Motto: je mehr Individuen in einer Gesellschaft ein glückliches Leben erreichen, desto besser geht es auch der Gesamtgesellschaft.

Das Konzept ist schon uralt und von Adam Smith formuliert worden. In unserer Parteienlandschaft ist es die FDP, die diesen Standpunkt am reinsten vertritt und glaubt, den Anforderungen der Moderne am meisten zu genügen.


Die Widerlegung der liberalistischen These

So schön das Konzept ist, so wenig hat es mit der kapitalistischen Wirklichkeit zu tun. Auch dem bürgerlich beschränktesten Geist dämmert es, daß bei der offensichtlichen Schere zwischen Arm und Reich, die sich immer mehr öffnet, der Wohlstand für alle zunehmend zur Utopie wird. Gleichwohl hält der Bürger starr an ihr fest und das Abrutschen eines großen Teils der Bevölkerung in die Armut für selbst verschuldet und damit vermeidbar. Erst aus der Marxschen Brille erkennen wir, daß die Anhäufung des Reichtums bei einem Bevölkerungsteil und die Verarmung des anderen Bevölkerungsteils systembedingt ist: der Reichtum der einen wird erst ermöglicht durch die Verarmung der anderen.


Die Entwicklung zum kapitalistischen Sozialstaat: das Konzept des Sozialdemokratismus

Weil die ökonomische Wirklichkeit so und nicht anders ist, hat sich mit Notwendigkeit der Sozialstaat entwickeln müssen, der der systembedingten Verarmung der Bevölkerung Schranken zu setzen sucht. Durch die Besteuerung der Reichen soll ein Teil des Reichtums wieder zurück an die Armen fließen, um die Verelendung der Bevölkerung zu vermeiden.

Am reinsten wird dieses Konzept durch den linken Flügel der SPD vertreten. Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse werden nicht mehr in Frage gestellt, die Eigentumsverhältnisse an Produktionsmitteln im bürgerlichen Recht festgeschrieben. Die permanente Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die Klasse der Kapitalisten ist bürgerliches Recht und damit Klassenrecht. Das permanent sich vollziehende Unrecht an der Arbeiterklasse wird nur gemildert durch eine Politik der gerechteren Umverteilung des erwirtschafteten Reichtums von oben nach unten, durch Steuerpolitik also.

In diesem Konzept der sogenannten sozialen Marktwirtschaft sind sich CDU und SPD einig gegen das Konzept der FDP, die die reine Marktwirtschaft vertritt. In der bürgerlichen Gesellschaft stehen Recht und Politik a priori in einem Spannungsverhältnis zueinander. Nur die Politik kann die durch das bürgerliche Recht zementierte Ungerechtigkeit, wenn nicht aufheben, so doch abzumildern versuchen.


Die Blindheit des bürgerlichen Rechts gegenüber seinem Unrecht

Im bürgerlichen Rechtsverständnis selbst kommt sein Unrecht allerdings nicht vor. Sein Unrecht erscheint nur als moralisches Unrecht, das aus dem legalistischen Rechtsverständnis ausgeschlossen bleibt.

Das bürgerlicher Recht ist der Moral gegenüber blind. Die moralische Gerechtigkeit ist im bürgerlichen Rechtsstaat nicht einklagbar. Sie ließe sich nur gegen das bürgerliche Recht politisch durchsetzen. Da dies der bürgerliche Rechtsstaat nicht zuläßt, kann immerhin die Politik die Auswüchse der bestehenden Ungerechtigkeit abzumildern versuchen. Recht und Moral sind im bürgerlichen Staat völlig unabhängig voneinander. Politik mag sich von moralischen oder unmoralischen Motiven leiten lassen, sie bleibt aber an das bürgerliche Recht gebunden. Überschreitet sie das bürgerliche Recht, wird sie durch die judikative Gewalt in ihre Schranken verwiesen. Die Konstruktion der Gewaltenteilung sorgt dafür, daß der bürgerliche Rechtsstaat erhalten bleibt.


Die Illegitimität des bürgerlichen Rechtsstaates

Philosophisch prekär wird das ethische Axiom der bürgerlichen Gesellschaft, wenn die Marxsche Sichtweise zuträfe. Wenn bewiesen werden kann, daß sich das utilitaristische Verhalten der einzelnen Individuen gerade nicht zum Allgemeinwohl der Gesellschaft summiert, sondern einen tödlichen Attraktor generiert, der die Gesellschaft in den Untergang reißt, in den Krieg gegen die Natur und sich selbst, dann hat die bürgerliche Ethik ihre Legitimität verloren. Dann wird es zur moralischen Pflicht, die bürgerliche Freiheit des Individuums zu beschränken.

In der sozialistischen Gesellschaft wird dem Individuum die Freiheit genommen, seinen Neigungen zu folgen. Ihm wird die Freiheit genommen, sich die Lebensgrundlagen anderer anzueignen. Ihm wird die Freiheit genommen sich gegen die Gemeinschaft zu stellen. Ihm wird, schlicht gesagt, die Freiheit zur Unmoral genommen.

Freiheit erlangt das Individuum im sozialistischen Staat erst dann, wenn es sich von seinem falschen Begriff der Konsumfreiheit verabschiedet, die Beschneidung dieser Freiheit nicht nur passiv hinnimmt, sondern sie aktiv akzeptiert und aus Einsicht sozial handelt. Erst wenn der Mensch aus Einsicht und nicht aus Trieben handelt, ist er wirklich frei. Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit. So definiert die Philosophie der Aufklärung die Freiheit gegen den konsumorientierten Freiheitsbegriff im Kapitalismus. Aus der Sicht Kants wäre der bürgerlich-kapitalistische Staat am weitesten von der Freiheit des Menschen und damit von der Moralität entfernt, der sozialistische Staat dagegen am weitesten von den Trieben, Neigungen und Wünschen seiner Bürger.

Es ist ganz eindeutig: nur der sozialistische Staat ermöglicht dem Menschen, dem kategorischen Imperativ zu folgen. Die bürgerliche Gesellschaft fordert zwar moralisch seine Befolgung, verrechtlicht andererseits Verhältnisse, in denen a priori seine Befolgung unmöglich wird.

In der bürgerlichen Gesellschaft ist der Bürger prinzipiell nur Mittel in der ökonomischen rechtlichen und politischen Sphäre. Hier ist er nie Selbstzweck. Wenn er dennoch auch als Selbstzweck betrachtet werden soll (was der kategorische Imperativ fordert), so betrifft das nur die moralische Sphäre. Aber diese ist ja als Privatsphäre ausschließlich Reservat des Individuums, in das sich der Staat nicht einzumischen hat. Ökonomisch, rechtlich und politisch ist der Bürger unfrei, frei ist er nur in seiner Moral und diese läßt sich nur individuell im privaten Raum, nicht aber gesellschaftlich in der Wirklichkeit verwirklichen. In seinem Bewußtsein wähnt der Bürger allerdings frei zu sein, seine Handlung dagegen fesselt ihn ständig und macht ihn zum Sklaven seiner von ihm selbst erzeugten Verhältnisse. Diese faktische Schizophrenie charakterisiert das Wesen des bürgerlichen Individuums, ohne daß sie im bürgerlichen Bewußtsein auftaucht.

Die philosophische Transzendentalanalyse zeigt, daß das Wesen des bürgerlichen Individuums nur von einem metabürgerlichen Standort begriffen werden kann, über den das bürgerliche Individuum selbst nicht verfügt.

Die philosophische Analyse zeigt des weiteren, daß der sozialistische Staat zweifellos auf einer höheren moralischen Stufe steht als der bürgerliche Staat. Dies ist aber nur aus einer transzendentalen Sicht einsehbar. In bürgerlicher Sicht erscheint nämlich die Sachlage genau umgekehrt. Hier ist der sozialistische Staat genauso wie der faschistische Staat ein Unrechtsstaat, weil beide Staaten die Individualrechte des Menschen verletzten.

Daß auch der bürgerliche Staat die Individualrechte des Menschen verletzt, in dem er die sogenannten sozialen Grundrechte wie das Recht auf Arbeit, angemessene Entlohnung, menschenwürdige Existenz aus den Grundrechten ausklammert, die immerhin in der Menschenrechtserklärung der UNO vom 10.12.1948 im Artikel 23 eingefordert werden, sei hier nur nebenbei erwähnt und zeigt die ideologische Beschränktheit der bürgerlichen Sichtweise.


Die falsche Gleichsetzung von Sozialismus und Faschismus

Aus bürgerlicher Sicht ist die Gleichsetzung von Sozialismus und Faschismus logisch konsequent. In beiden Systemen fällt die Legitimität mit der Legalität zusammen. In beiden Systemen ist die bürgerliche Gewaltenteilung prinzipiell aufgehoben. Beide Systeme sind totalitäre Gesinnungsstaaten. Beide Systeme schränken das Individualrecht zugunsten einer kommunitaristischen Moral ein. Beide Systeme legitimieren den Gesinnungsterror gegen alle Abweichler, die sich der Gemeinschaft entziehen wollen. Beide Systeme bedürfen inquisitorischer Behörden, die die Gesinnung kontrollieren. Beide Systeme sind Erziehungsdiktaturen.

Obwohl beide Systeme als gegensätzliche Pole in größter Feindschaft zueinander stehen, fallen sie der Erscheinung nach als völlig identische Systeme zusammen. Dennoch zeugt es von Begriffslosigkeit, den Faschismus mit dem Sozialismus gleichzusetzen. Dem Wesen nach sind nämlich beide Systeme völlig verschieden. Die kommunitaristische Moral des Faschismus ist eine Binnenmoral und sie definiert sich bewußt als ethnische Binnenmoral, die sich allen anderen Ethnien gegenüber als Unmoral legitimiert. Die faschistische Moral definiert sich also als Moral der Unmoral gegenüber anderen Völkern. Die Ausrottung störender Völker wird als Recht legitimiert. Auschwitz war für die Faschisten eine moralische Anstalt zur Entseuchung der arischen Rasse. Auschwitz funktionierte für die Faschisten um so moralischer, je leidenschaftsloser die Vernichtung der Juden und Zigeuner betrieben wurde, das heißt, je mehr die Vernichtung sogenannter minderwertiger Rassen aus Pflichtgefühl dem Deutschtum gegenüber und nicht aus sadistischer Neigung erfolgte. Der sadistische Blutrausch, der sich beim Schlachten von Menschen offensichtlich kaum vermeiden ließ, war auch den Nazis ein Gräuel und, wie Himmler anmerkte, seinen Männern kaum noch zuzumuten. Deshalb ersetzten die Nazis die viehische Abschlachtungspraxis durch die "saubere Endlösung" der unblutigen Vergasung und überließen die Vernichtung der Körper den jüdischen Gefangenen selbst. Symptomatisch ist hier die Haltung Eichmanns, der sich durchaus als moralischer Mensch im Sinne Kants verstand, der aus Pflicht und nicht aus Neigung den Transport der Juden in die Gaskammern organisierte.


Die falsche Gleichsetzung von Sozialismus und Stalinismus

Und wie verhält es sich im sozialistischen GULAG? Soll die Folter-Praxis bis zur physischen und psychischen Vernichtung von Menschen nur deshalb gerechtfertigt werden, weil sie aus der guten, sozialistischen, universalistischen Moral erfolgte?

Natürlich nicht! Kein Sozialismus kann die physische und psychische Vernichtung von Menschen rechtfertigen. Der sozialistische Staat hat nur das legitime Recht, die bürgerliche Unmoral in die Schranken zu weisen. Dazu hat er nicht nur das Recht, es ist auch seine Pflicht, die egoistischen Neigungen so zu unterdrücken, daß sie keine politische Wirksamkeit entfalten können. Eine Privatmoral, die sich gegen die Gemeinschaft stellt und zugelassen wird, unterhölt die sozialistische Moral und bringt die geltende öffentliche Moral zum Einsturz. Aber rechtfertigt dies schon Gefängnisse und Ausschluß aller Abweichler aus der Gemeinschaft? Es rechtfertigt allenfalls erzieherische Einflußnahme auf den Dissidenten. Aber rechtfertigt dies die Einsperrung in Erziehungslager? Genügt nicht die Aussperrung des Dissidenten von allen Funktionen, in denen er politisch Wirksamkeit entfalten kann, analog der bürgerlichen Berufsverbotpraxis für Kommunisten im öffentlichen Dienst?

Ich halte die Berufsverbotspraxis im bürgerlichen Staat für völlig unnötig: es ist absolut egal, welche Gesinnung der einzelne Bürger in der bürgerlichen Gesellschaft hat, sei diese nun christlich, moslemisch oder kommunistisch, sie entfaltet im Kapitalismus keine, absolut keine Wirksamkeit. Die Berufsverbotspraxis des bürgerlichen Staates ist eine Überreaktion und beruht auf der Illusion, daß gute und schlechte Gesinnung einen politischen Einfluß auf das bürgerliche System nimmt. Hier ist der Staat nur Opfer seiner Ideologie, seines Glaubens, der Staat könne politisch bestimmen, wohin die Gesellschaft läuft. Im sozialistischen Staat dagegen bestimmt in der Tat die Politik, wie die Gesellschaft sich entwickelt. Hier hat die Gesinnung politische Wirksamkeit und eine falsche Gesinnung hat dementsprechend politische Folgen. Nicht von ungefähr hat in der DDR jedes gesprochene und geschriebene Wort eine eminent wichtige Bedeutung gehabt. Nicht von ungefähr ist jedes"falsche" Wort unterdrückt und wegzensiert oder gar verfolgt worden. In der bürgerlichen Gesellschaft kann jeder sagen und schreiben, was er will. Meinungen werden hier nicht verfolgt, eben weil sie keine Bedeutung haben. Der sozialistische Staat ist auf die Gesinnung seiner Bürger angewiesen, der bürgerliche nicht.

Aber wer entscheidet im Sozialismus über die moralisch richtige Gesinnung?

Die Partei der Arbeiterklasse, so lautet die Antwort. Und wer wählt die Partei? Gerade nicht demokratisch gewählte Interessenvertreter der nationalen Arbeiterklasse, sondern der freiwillige Zusammenschluß einer Gruppe von Gesinnungsethikern, die gewillt sind im wohlverstandenen Interesse der Arbeiterklasse und zwar der internationalen Arbeiterklasse zu handeln. Die Partei der Arbeiterklasse ist also weder durch Wahl legitimiert, noch rekrutiert sie sich notwendig aus der Arbeiterklasse. Legitimation erhält die Partei lediglich aus der sozialistischen Gesinnung und durch ihren Anspruch im wohlverstandenen Interesse der internationalen Arbeiterklasse zu handeln. Aber wer bestimmt die richtige sozialistische Gesinnung, wer legt fest, was im wohlverstandenen Interesse der Arbeiterklasse ist und was nicht? Es genügt hier nicht, die Schriften der marxistischen Klassiker als heilige Schrift zu kanonisieren, denn auch der rote Leitfaden bedarf der Interpretation, wenn er politisch die Praxis anleiten will. Wer soll hier das Interpretationsmonopol bekommen und darf es überhaupt zu einem Interpretationsmonopol kommen?

So imposant das dogmatische Lehrgebäude des Marxismus-Leninismus auch erscheinen mag, nach dem Erdbeben von 89 wirkt es heute wie ein in den Grundfesten erschüttertes Gebäude, in das niemand mehr einzuziehen wagt, wohnlich war es ja noch nie und die Arbeiterklasse hat nie in ihm gewohnt. Es war immer nur Studentenwohnheim der staatstragenden Kader.

Die Problematik der kommunistischen Partei als führende Partei der Arbeiterklasse ist ihre Selbstlegitimation und zwar nicht die Tatsache ihrer Selbstlegitimation, sondern wie diese Selbstlegitimation zustande kommt: ohne Diskurs im öffentlichen Raum. Den moralisch geforderten herrschaftsfreien Diskurs (7.Stufe der Moralentwicklung im Kohlberg-Habermas-Schema) hat es im Sozialismus nie gegeben.

Auf der sechsten Stufe im Kohlberg-Habermas-Schema ist Legitimität nicht mehr wie in der fünften Stufe durch demokratische Mehrheitsentscheidung erreichbar. Wenn also die kommunistische Partei im wohlverstandenen Interesse der Arbeiterklasse handelt, dann ist sie dazu legitimiert, selbst wenn die Arbeiter mehrheitlich dagegen sind. Was die Mehrheit der Arbeiter interessiert, muß nicht immer schon in ihrem wohlverstandenen Interesse sein. Wer aber kontrolliert, ob die Partei wirklich im wohlverstandenen Interesse der internationalen Arbeiterklasse handelt, ob sie nicht vielleicht nur dem Interesse der nationalen Arbeiterklasse folgt (Stalin) oder gar nur die staatstragende Kaderkaste bedient (Ceausescu)? Die Partei kann sich nur selbst kontrollieren. Die Selbstkontrolle funktioniert nur, wenn die Partei für alle, die sich zum Kommunismus bekennen, offen ist, kein Kommunist aus der Partei ausgeschlossen werden darf und innerhalb der Partei ein herrschaftsfreier Diskurs möglich ist, in der jeder Kommunist gleichberechtigter Kommunikationspartner ist. Wer Kommunist ist, bestimmt der Einzelne selbst durch Wort und Tat und nicht die Partei, nicht die Parteiführung. Jedes Parteimitglied ist offen für Kritik und Selbstkritik und ist aufgefordert zur Kritik und Selbstkritik.

Alle diese schönen Formulierungen sind in den einschlägigen Partei-Statuten zu finden und in ihrem Anspruch auf der höchsten Moralstufe angesiedelt.

Die Geschichte der kommunistischen Parteien zeigt aber, daß die Partei-Statuten nur Makulatur gewesen sind. Die gegenseitige bis zum blutigen Terror gehende Unterdrückung der Kommunisten untereinander, Haeresie und Abspaltung sind der blutrote Faden in der Geschichte der kommunistischen Bewegung.

"Die Revolution frißt ihre Kinder" so betitelte Leonardt den Zerfleischungsprozeß der Kommunisten untereinander, die stalinistische Säuberung, der Tausende von Kommunisten zum Opfer fielen.

Der Sozialismus, der auf der gesinnungsethischen Moralstufe stehen bleibt, droht ständig in einen autoritären Etatismus umzuschlagen oder gar - wie geschehen - in den Stalinismus. Ist der Stalinismus eine Entartung des Sozialismus oder führt jeder Sozialismus in den Stalinismus? Mutiert der Sozialismus im Stalinismus gar zum Faschismus?

Sicher ist nur, daß der Terror der Moral um nichts weniger blutig ist als der Terror der Unmoral und wenn sich der internationale Sozialismus und der Nationalsozialismus nur durch das Vorzeichen von einander unterscheiden und identisch negative Vorzeichen jeweils dem gegnerischen System zuschieben, dann sind die Vorzeichen austauschbar und die Systeme auch strukturell identisch und nicht nur der Erscheinung nach.

Das stimmt, aber es stimmt nur aus der bürgerlichen Sicht heraus. Es ist eine richtige Schlußfolgerung, der aber eine falsche Sichtweise zugrunde liegt.


Transzendental-philosophischer Exkurs:

Für das magische Bewußtsein gibt es keinen größeren Unterschied als den zwischen böse und gut, schwarz und weiß. Mordors Heerscharen in Tolkiens "Herr der Ringe" sind die Macht des Bösen, so wie für Reagan die Sowjetunion das Reich des Bösen gewesen ist. Gondors Heerscharen dagegen sind die Macht des Guten, so wie die US-Streitkräfte als Bollwerk der Freiheit gegen die Bedrohung aus dem Osten angesehen worden sind. Abgesehen davon, daß sich in der Literatur des Ostens das Freund-Feind-Schema, das Gute und das Böse, genau umgekehrt dargestellt hat, gibt es natürlich eine strukturelle Identität zwischen Ost und West: die hierarchische Befehlsstruktur, die Waffen, der Kampf, Treue, Verrat, Schmerz, Triumph, Leiden, Enttäuschung, Sieg, Niederlage, Hoffnung. Ist die Sowjetmacht die böse und die US- Macht die gute oder verhält es sich umgekehrt? Nur das Bewußtsein auf der magischen Stufe weiß hier eine Antwort und zwar eine Standort bezogene Antwort: das vom Standort abstrahierende Bewußtsein kann die Frage nicht mehr beantworten, ähnlich dem bürgerlichen Bewußtsein, das nicht mehr entscheiden kann, ob das sozialistische System moralischer ist als das faschistische. Im bürgerlichen Bewußtsein sind das Faschistische und das Sozialistische gleichermaßen Unmoral. Für das Bürgertum sind Faschismus und Sozialismus strukturell identisch.

In metabürgerlicher Sichtweise ergibt sich dagegen ein ganz anderes Bild. Die faschistische Gesellschaft hat ökonomisch nach wie vor die bürgerlich kapitalistische Klassengesellschaft zur Grundlage. Die Klassengesellschaft hat sie nur ideologisch abgeschafft, nicht aber in der Wirklichkeit. Der Faschismus ist die Antwort des nationalen Kapitals auf die kommunistische Bedrohung, die perfekteste Leugnung der Klassengesellschaft, um diese beizubehalten. Der faschistische Staat ist also dem Wesen nach ein bürgerlich kapitalistischer Staat und damit strukturell identisch mit der bürgerlichen Gesellschaft, nur der Erscheinung nach ist er ein sozialistischer Staat. Er ist eine ideologische Variante des bürgerlichen Nationalstaats.

Der sozialistische Staat dagegen ist dem Wesen und der Erscheinung nach ein post-bürgerlicher nicht mehr kapitalistischer Staat, zumindest dem Begriffe nach (die sogenannten realsozialistischen Staaten waren nach außen hin auf dem Weltmarkt national-kapitalistische Staaten).

Zur Frage zum Verhältnis von Sozialismus/Faschismus/ Stalinismus/ Kapitalismus ergibt sich metabürgerlich gesehen eine ganz andere Antwort.

Der Faschismus ist die totalitäre blutige Fratze des Kapitalismus, die das Bürgertum zeigt, wenn es sich bedroht fühlt. Der Stalinismus dagegen ist die totalitäre blutige Fratze des Sozialismus, wenn er in seiner Existenz bedroht wird.


Die Überwindung des Stalinismus durch den Bau der Mauer

So pervers es klingen mag, die rigorose Abschottung des Ostens vom Westen durch den eisernen Vorhang und den Bau der Mauer quer durch Deutschland ist für den Sozialismus die einzige Möglichkeit gewesen sich vom Stalinismus zu befreien. Der Bau der Mauer hat den Druck des kapitalistischen Westens auf den sozialistischen Osten weggenommen, so daß der Sozialismus die Chance hatte, die zivilere Seite seines Wesens zu entwickeln. Die Mauer hatte in der Tat Schutzwallfunktion. Wenn auch der Ausdruck "antifaschistischer Schutzwall" verschleiert, daß der Druck des Westens auf den Osten sich primär als Sog zum Westen hin kund tat: die eigene Bevölkerung also am Weglaufen gehindert werden mußte. Ohne diesen Damm wäre, wie jeder weiß, die DDR ausgeblutet und der Sozialismus insgesamt zusammengebrochen, was ja auch mit dem Fall der Mauer geschah. Das Attribut antifaschistisch zur Charakterisierung der Mauer ist natürlich nur aus propagandistischer, denunziatorischer Absicht begründet und nicht durch die wirkliche politische Lage. Richtig ist zwar, daß der Faschismus die bürgerlich kapitalistische Gesellschaft voraussetzt und sich nur aus dieser entwickeln kann, der Faschismus also die Kehrseite der kapitalistischen Gesellschaft ist, dennoch ist die Gleichsetzung von Kapitalismus und Faschismus falsch. Die faschistische Fratze zeigt der Kapitalismus, wie schon oben gesagt, nur in seiner existentiellen Bedrohung. Sein alltägliches, normales Gesicht ist das parlamentarisch demokratische und nur in dieser Gestalt kann er überhaupt attraktiv wirken. Ebenso falsch ist die bürgerliche Gleichsetzung von Sozialismus und Stalinismus. Der Sozialismus kann nur zum Stalinismus entarten, wenn er sich existentiell bedroht fühlt. Genauso wie die bürgerliche Moral der Vernunft unter den Bedingungen ihrer existentiellen Bedrohung in den Terror umgeschlagen ist, was die französische Revolution illustrativ gezeigt hat. Stalinismus und Faschismus sind also nicht die Kehrseiten ein und derselben Medaille - so erscheint es nur im bürgerlichen Horizont -sondern die Kehrseiten ihrer Systeme. Beide Kehrseiten sind negativ, aber sie stehen nicht auf derselben moralischen Stufe. Allerdings ist der Terror der Moral um nichts weniger grausam als der Terror der Unmoral. Die Schreckensherrschaft gehört zu beiden Systemen.


Die verantwortungsethische Antwort auf die gesinnungsethische Frage

Inwiefern soll nun ausgerechnet der Terror der Moral legitimer sein als der Terror der Unmoral? Ist es ausschließlich der gute Zweck, der jede Handlung als moralisch legitimiert? Kann überhaupt das sittlich Gute durch verwerfliche Handlungen erreicht werden? Heiligt der gute Zweck auch die bösen Mittel?

Von einem abstrakten gesinnungsethischen Standpunkt aus müssen wir diese Fragen eindeutig verneinen. Die Fragen lassen sich indes nicht außerhalb des politischen Kontextes beantworten. Was moralisch verwerflich ist, läßt sich nur innerhalb der historischen politischen Situation beantworten. Ist das Ganze durch den Einzelnen bedroht und dessen Ausschaltung die einzige Möglichkeit, das Ganze vor dem Untergang zu bewahren, so ist seine Tötung verantwortungsethisch zu rechtfertigen. Denken wir an das volle Rettungsboot, das zu kentern droht, wenn die noch im Wasser Befindlichen auch ins Boot wollen. Ihre Abweisung und damit Verurteilung zum Tode des Ertrinkens ist in dieser Situation legitim.

Ich will jetzt nicht der Frage nachgehen, ob der Stalinismus die einzig mögliche Form gewesen ist, wie der Sozialismus in der durch den Faschismus bedrohten Sowjetunion hat überleben können. Der Stalinismus hat sicherlich dazu geführt, daß der Sozialismus seine Attraktivität auf Intellektuelle verloren hat. Dennoch kann der Stalinismus nicht an der Elle eines Moralmaßstabes gemessen werden, der unabhängig vom historischen politischen Kontext oder gar vom bürgerlichen Standort aus angelegt wird.

Die ethische Aussage, daß der gute Zweck nicht durch verwerfliche Mittel erreicht werden kann, gilt nach wie vor. Die Frage nur ist, welches Mittel verwerflich ist und welches nicht. Und diese Frage läßt sich eben nicht außerhalb des politischen Rahmens beantworten, indem sich diese Frage stellt.

Aus sozialistischer Perspektive war die Errichtung der Mauer absolut kein verwerfliches Mittel, sondern die einzige Möglichkeit, sich in der Abschottung zum Westen hin friedlich weiterzuentwickeln und sich von der terroristischen Form des Stalinismus zu befreien. Das moralisch höhere Niveau des Sozialismus läßt sich nur durch eine rigorose Abschottung und Eindämmung erhalten. Das Triebgefälle zum niedrigeren moralischen Niveau des Kapitalismus ist ungeheuer groß. Die kleinsten Löcher im Damm provozieren den Dammbruch. Der Sozialismus ist quasi der unbewegliche See, nur durch die festen Mauern der Talsperre auf hohem Niveau gehalten. Der Kapitalismus dagegen ist der brausende zum Meer hin stürzende Fluß, der nur noch dem Gefälle folgt, dem Trieb nach unten.


Die wirkliche Schuld der DDR-Spitzenpolitiker

Die sozialistischen Dammwächter haben fahrlässig gehandelt. Sie haben die Mauer geöffnet in dem irrigen Glauben dadurch den Auswanderungsdruck minimieren zu können. Mit der Öffnung der Mauer haben sie erst die Flutwelle ausgelöst, die den Damm und die DDR fortgespült hat. Nach DDR-Recht hätten die Politbüromitglieder wegen mangelhafter Aufrechterhaltung der Mauer zur Rechenschaft gezogen werden müssen.

Die in der BRD und durch die BRD verurteilten Spitzenpolitiker der DDR können sich immerhin damit trösten, dass der Untergang der DDR sie davor bewahrt hat, sich vor einem DDR-Gericht verantworten zu müssen: sie wären nicht so glimpflich davon gekommen.

Um Missverständnisse zu vermeiden: mir liegt fern, den DDR-Sozialismus zu verteidigen. Auch der überzeugteste Kommunist wird sich kaum der Einsicht versperren können, daß seine Vorstellung vom Sozialismus sehr wenig mit dem zu tun hat, was der DDR-Sozialismus verwirklicht hat. Ich plädiere nur dafür, daß Menschen, insbesondere auch Politiker, nach dem Maßstab sich messen lassen müssen, dem sie sich selbst verpflichtet fühlen. Der bürgerliche Rechtsmaßstab- das hoffe ich zumindest gezeigt zu haben-, wird dem Handeln der DDR-Politiker ganz und gar nicht gerecht.

Deshalb halte ich Egon Krenz & CO noch lange nicht für unschuldig. Im Gegenteil: die DDR ist nicht nur ökonomisch zusammengebrochen, sondern auch, gerade auch moralisch, weil sie ihrem eigenen sozialistischen Maßstab nicht gerecht geworden ist. Daß der postbürgerliche Sozialismus, der sich in den Schriften von Marx und Engels artikuliert, zu einer vorbürgerlichen Bonzokratie feudalistischer Prägung mutierte, hätten sich die Klassiker sicherlich nicht vorgestellt. Die Avantgarde der Arbeiterklasse, die die einmalige Chance hatte, in einem Teil Deutschlands einen sozialistischen Staat zu errichten, war in ihrer Aufgabe offensichtlich überfordert. Viele Gründe gibt es für ihr Scheitern. Ein nicht unbedeutender Grund liegt in ihrem beschränkten Denkhorizont, der nie postbürgerlich, sondern allenfalls kleinbürgerlich war, so kleinbürgerlich eben, wie auch die Mehrheit der Arbeiter dachte. Den postbürgerlichen Moralmaßstab, den ich für den Sozialismus reklamiere, den hat es im realexistierenden Sozialismus der DDR nur der Ideologie nach gegeben, nie aber in der politischen Wirklichkeit. Der wahre Sozialismus war nur noch Ideologie, um die unerträgliche Herrschaftspraxis einer Bonzokratie zu verschleiern. Hier sehe ich die eigentliche Schuld der DDR-Elite, die nur in einem wirklich erfolgreich war: in der Verhinderung eines wirklich existierenden Sozialismus.

Aber das ist sicherlich kein Straftatbestand in der BRD, eher ein Anlaß für den Bundespräsidenten, die Genossen Krenz & CO mit dem Bundesverdienstkreuz auszuzeichnen!


Das bürgerliche Rechtsverständnis als Ideologie der bürgerlichen Mittelklasse

Meine Aussage unterstellt allerdings, dass der oberste Repräsentant des bürgerlichen Staates das Interesse des Kapitals vertritt. Das ist wahr und falsch zugleich. Falsch ist die Aussage auf empirischer Ebene. Kein Bundespräsident sieht sich bewusst und intentional als Interessensprecher des nationalen Kapitals. Im bürgerlichen Bewusstsein wäre dies ein höchst anrüchiger Zustand, ein Skandal ersten Ranges. In der Transzendentalreflexion dagegen, die den bürgerlichen Horizont überschreitet, ist die Aussage durchaus wahr. Folgen wir der transzendentallogischen Einsicht von Marx, so funktioniert der bürgerliche Staat als ideeller Gesamtkapitalist.

In der bürgerlichen Ökonomie gibt es keinen Gesamtkapitalisten. Real existieren nur Einzelkapitalien, die gegeneinander konkurrieren. Es fehlt hier die Instanz, die das Interesse des Gesamtkapitals wahrnehmen kann. Die Rolle des Gesamtkapitalisten ist in der bürgerlichen Gesellschaft dennoch notwendig. Er sorgt für die Produktions- und Reproduktionsbedingungen des Kapitals, für die der einzelne Kapitalist nicht mehr sorgen kann. Er realisiert damit das Klasseninteresse der Kapitalisten. Die Rolle des Gesamtkapitalisten kann interessanterweise die Klasse der Kapitalisten nicht wahrnehmen. Das Interesse der Einzelkapitalisten steht nämlich im Widerspruch zu deren Klasseninteresse. So sind der Sozialstaat und eine starke Gewerkschaft durchaus im Interesse des Gesamtkapitalisten, nie und nimmer aber im Interesse des einzelnen Unternehmers. Würden die Kapitalisten ihre Interessen durchsetzen, würde die Arbeiterklasse so weit verelenden, dass auch das Kapital sich nicht mehr reproduzieren könnte. Das Klasseninteresse der Kapitalisten kann also nur von einer nichtkapitalistischen Instanz verwirklicht werden, personell von einer dritten Klasse jenseits der Ausbeuter und Ausgebeuteten. Diese in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft konstitutive Mittelklasse ist die staatstragende Klasse, die auch personell den Staat bildet und den gesamten kulturellen Überbau bestimmt. Ihr Klassenbewusstsein ist das herrschende Bewusstsein der Gesamtgesellschaft. So bedingt ihr klassenspezifischer Ort über den Klassen die herrschende Ideologie der Klassenlosigkeit der heutigen bürgerlichen Gesellschaft. Im Bewusstseinshorizont der staatstragenden Klasse ist ihre objektive Funktion, das Klasseninteresse der Kapitalisten zu verwirklichen, nicht einsehbar. Natürlich ist die Wirtschaft bestrebt ihr Interesse im politischen Raum durchzusetzen (z.B. durch ihre Lobby-Arbeit im Parlament) und immer wieder kommt es vor, dass sich die Politik allzu willig vor den Karren bestimmter Lobbyisten spannen lässt. Die Tatsache aber, dass diese Tatbestände in der Öffentlichkeit immer wieder als skandalös empfunden werden, zeigt, dass das Bürgertum an der Fiktion eines autonomen politischen Entscheidungsraumes festhält, vor allem an der Fiktion, dass das bürgerliche Recht auf Menschenrecht und nicht auf Klassenrecht beruht.

Auch wenn das bürgerliche Recht transzendental betrachtet Klassenrecht ist, im bürgerlichen Horizont ist und bleibt es auf das Menschenrecht bezogen. Die Klassengesellschaft als transzendentale Bedingung des bürgerlichen Rechts kommt im bürgerlichen Rechtsverständnis nicht vor. Der Vorwurf des Verurteilten Krenz, er sei Opfer bürgerlicher Klassenjustiz, ist nicht falsch, aber geht ins Leere. Kein bürgerlicher Richter weiß um seinen klassenspezifischen Standort und empfindet den Vorwurf als absurde Unterstellung. Krenz macht hier den Fehler von seinen DDR-Richtern auf die BRD-Richter zu schließen: die DDR-Richter waren sich sehr wohl ihres Klassenstandpunkts bewusst, wenn sie den Republikflüchtigen zu Gefängnisstrafen verurteilten. Die DDR-Justiz verstand sich ja ausdrücklich als Klassenjustiz. Vice versa gilt das für die bürgerlichen Richter gerade nicht.

Das bürgerliche Rechtsverständnis, das sich in den Gesetzen des bürgerlichen Staates artikuliert und das Bewusstsein der staatstragenden Mittelklasse reflektiert, lebt geradezu von der Fiktion, unabhängig von politischen und wirtschaftlichen Interessen zu sein. Nur in dieser Illusion entwickelt es wiederum seine politische Wirksamkeit im Sinne der wirklich Herrschenden: der Kapitalisten. Das bürgerliche Recht hat also die ideologische Funktion, die wirklich vorhandenen ungerechten Machtverhältnisse zu verschleiern, ist sich dieser ideologischen Funktion aber nicht bewusst.

Egon Krenz wird also vergeblich auf das Bundesverdienstkreuz des Bundespräsidenten warten. Das wird ihm eher – klammheimlich - vom Präsidenten der Arbeitgeber verliehen, die nach dem Untergang des Sozialismus (der immer nur eine Karikatur des Sozialismus war) wieder Morgenluft wittern.


Die Aporien des Sozialismus

Mein polemischer Schlenker wird natürlich der wirklichen Schuld der sozialistischen Politiker nicht gerecht. Zur Frage steht nämlich, ob die sozialistischen Politiker eine realistische Chance hatten, ihrem sozialistischen Moralmaßstab zu genügen. Da darf man berechtigte Zweifel haben. Eine sozialistische Moralinsel inmitten der Brandung kapitalistischer Unmoral aufrecht erhalten zu wollen, ist auf Dauer gar nicht machbar und ist genau sowenig erfolgreich wie die Kantische Pflichtethik, die sich gegen die menschliche Triebnatur wendet. Ein politisches System, das sich einer universalistischen Moral wie dem Sozialismus verpflichtet fühlt und den Primat der Politik über das wirtschaftliche Bedürfnis setzt, ist offensichtlich zum Scheitern verurteilt.

Es ist schon bemerkenswert, dass die DDR-Sozialisten diesem grundlegenden Lehrsatz von Marx so wenig Beachtung geschenkt haben. Das Sein bestimmt das Bewusstsein, so lautet die Grundthese des Materialismus als Gegenthese zum Idealismus. Brecht hat diesen Lehrsatz auf die griffige Formel gebracht: erst kommt das Fressen, dann die Moral. Die DDR-Sozialisten waren so kühn und idealistisch, diese Formel wieder umzukehren. Indem sie die Moral über das Fressen gestellt haben, unterwarfen sie sich einem Handlungsmaßstab, an dem sie tagtäglich gemessen und den sie tagtäglich nur verfehlen konnten. Nepotismus, Vetternwirtschaft, Korruption, Begünstigung, Benachteiligung, Machtmissbrauch sind gesellschaftliche Attraktoren in jeder Klassengesellschaft. In der bürgerlichen Gesellschaft sind sie gang und gäbe im Wirtschaftssektor und nur im Rechts- und Moralverständnis verpönt. In der sozialistischen Gesellschaft ist dagegen die Existenz derartiger Attraktoren tödlich, weil systemsprengend. Die Privilegierung einer Gruppe, sei es durch die Errichtung von Intershop-Läden, in denen der DDR-Bürger ohne Westmark nicht einkaufen konnte oder durch Einrichtung begünstigter Areale für die Herrschaftseliten (Wandlitz) stellen das sozialistische System in Frage. Dieses Unrecht kann nicht dadurch relativiert oder entschuldigt werden, dass auf die viel krassere Privilegierung großbürgerlicher Herrschaftseliten in der kapitalistischen Gesellschaft verwiesen wird.

Hier muß mit zweierlei Maß gemessen werden. In der bürgerlichen Gesellschaft ist es kein Verbrechen, wenn, was der Fall ist, eine große Klasse von Menschen hunderttausendmal reicher ist als der durchschnittlich Verdiendende. Die DDR-Elite hat kaum zehnmal soviel wie ihr ärmster Bürger gehabt. Aber diese Differenz ist in der sozialistischen Moral ein schon nicht mehr hinzunehmender Skandal.

Daß die DDR-Genossen gegen ihre eigene sozialistische Moral gehandelt haben, ist für jedermann deutlich, auch ihnen selbst bewusst gewesen. Dennoch konnten sie nicht anders handeln oder glaubten zumindest, nicht anders handeln zu können. Sie waren nur theoretisch, nicht faktisch Herr ihrer Entscheidung: die wirtschaftliche Krise hat sie dazu gezwungen. Je mehr nämlich die sozialistische Planwirtschaft gegenüber der riesigen Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise ins Hintertreffen geriet und geraten musste, desto höher war der Bedarf propagandistischen Aufwands, das sozialistische System vor der eigenen Bevölkerung zu rechtfertigen, desto mehr gerät und geriet die sozialistische Elite in den Widerspruch zum Volk. Die Angst vom Volk weggefegt zu werden bedingt wiederum ihre Abschottung vom Volk und den Aufbau eines repressiven Apparats wie der STASI, um die Aufmüpfigkeit des Volkes schon im Keim zu ersticken, und das alles natürlich immer nur im wohlverstandenen Interesse des Volkes. Die sozialistischen Moralisten handelten also nach der Maxime: wir müssen das unmündige Volk vor sich selbst beschützen. Unbeaufsichtigt wirft es sich sofort in die Arme des unmoralischen Kapitalismus, in dem die Arbeiterschaft zu ewiger Knechtschaft verurteilt wird. Es ist also nur sozialistische Fürsorgepflicht, wenn der Staat die Gesinnung seiner Bürger kontrolliert, um ungute Gesinnung beizeiten wieder gerade zu biegen.

Kein Zweifel: eine derartige oberlehrerhafte Moral, die dem erwachsenen Menschen die Mündigkeit abspricht, ist für jedes selbstbewusste Individuum eine Zumutung und provoziert geradezu dessen Rebellion. Aber was ist, wenn der Oberlehrer recht hätte und die Menschen nur scheinbar mündige Wesen sind, die in Wahrheit nicht wissen, was sie tun und die tödlichen Folgen ihrer Handlung nicht erkennen? Ist der Oberlehrer nicht dann moralisch verpflichtet, gegen den Willen dieser Menschen zu handeln?

Der sozialistische Moralist gerät hier in ein klassisches Dilemma, in eine unauflösliche Aporie: er kann den Sozialismus nur dadurch aufrechterhalten, dass er unsozialistisch handelt. Er kann den Sozialismus nur retten, indem er ihn beseitigt, ein gewiss untauglicher Rettungsversuch.

Krenz & CO entpuppen sich eher als die überforderten Helden einer klassischen Tragödie, die nur das Falsche tun konnten, als die bösen Charaktere eines Schurkenstückes. Unsere Politiker dagegen erweisen sich als die Protagonisten einer Komödie mit tragischem Ausgang, einer Groteske im Sinne Dürrenmatts, in der die Helden immer nur das Gegenteil von dem erreichen, was sie beabsichtigen.

Unsere politischen Helden wenigstens, die sich auf der übrig gebliebenen Bühne der bürgerlichen Gesellschaft tummeln, glauben nur die Protagonisten der Handlung zu sein. Sie sehen nicht, dass sie Marionetten des Kapitals sind. Die lenkenden Schnüre allerdings, die die PDS immer wieder auszumachen sucht, gibt es nicht. Das Kapital ist keine Person oder Gruppe von Personen, nicht die graue Eminenz, die die Figuren hinter der Bühne lenkt. Das Kapital ist das Sachgesetz des Marktes und das sitzt in den Köpfen unserer politischen Helden und lenkt alle ihre Schritte hinein in das große Finale, in den ultimativen Untergang.

Aber das sehen nur wir Zuschauer außerhalb der bürgerlichen Bühne, nicht die Spieler selbst. Unsere Rufe sind für sie nur Kassandrarufe.


Das philosophische Paradigma der Vernunft als Voraussetzung der Ideologiekritik

Meine philosophische Analyse wird sicherlich nicht auf ungeteilte Zustimmung treffen. Stringent folgt sie nur für den, der am Paradigma der Vernunftsphilosophie festhält und damit den Wahrheitsanspruch nicht aufgibt. Es ist klar: wer den Wahrheitsanspruch aufgibt, der kann nicht mehr zwischen Schein und Wirklichkeit unterscheiden. Für den ist Ideologiekritik prinzipiell nicht mehr möglich. Für den postmodernen Konstruktivisten gibt es keine falschen Gedankenkonstrukte, die die wirklichen Verhältnisse verschleiern können, sondern nur viable, taugliche Konstrukte, die zur Wirklichkeit passen, wobei sich die Frage nach der Wahrheit gar nicht mehr stellt. Zweifellos passt die bürgerliche Ideologie der Klassenlosigkeit hervorragend auf die moderne Gesellschaft. Dass das, was passt, falsch sein kann, ist ein Gedanke, der im Konstruktivismus nicht denkbar ist. Wer auf dem Kopf steht, sieht die Welt verkehrt. Diese Aussage kann aber nur von einem getroffen werden, der nicht auf dem Kopf steht. Der auf dem Kopf Stehende kann die Verkehrtheit seiner Ansicht empirisch nicht erkennen. Er kann sie nur transzendental erkennen, indem er aus seinem Horizont herausgeht und sich auf die Füße stellt. Die Bedingung der Möglichkeit des Gesichtsfeldes kommt im Gesichtsfeld nicht vor und ist deshalb eine transzendentale Bedingung. Der auf dem Kopf Stehende sieht nicht gleichzeitig die Perspektive, aus der heraus er die Welt betrachtet. Hier zeigen sich die Grenzen des Wahrheitsrelativismus und des Konstruktivismus. Die transzendentalen Bedingungen von Weltbildern und Konstrukten lassen sich in diesen philosophischen Ansätzen nicht mehr sichtbar machen.

Erkenntnisgewinn verspricht dagegen erst ein transzendentalphilosophischer Ansatz, der ein Weltbild erst dadurch versteht, dass er es übersteigt. So ist die Defizienz bürgerlicher Rechtsprechung nur aufweisbar, wenn der bürgerliche Horizont überschritten wird. Der transzendentallogische Schlüssel ist nicht einer der unendlich vielen viablen Schlüssel, die ins Schloß der Wirklichkeit passen, sondern der Schlüssel, der mehr von der Wirklichkeit aufschließt als irgendein passender Schlüssel.

Der Konstruktivist kann in dem bürgerlichen und sozialistischen System nur zwei viable und nichtkompatible Weltbilder sehen und damit zwei Rechtssysteme, die gleichberechtigt nebeneinander stehen. Eine gegenseitige moralische Verurteilung ist für ihn deshalb a priori nicht möglich und jede stattfindende Verurteilung ein imperialistischer Akt, in der das eine Rechtssystem über das andere gestülpt wird.

In der Transzendentalreflexion wird dagegen deutlich, dass beide Systeme demselben philosophischen Paradigma, der Aufklärung nämlich, verpflichtet sind und ihm gleichzeitig widersprechen.

Der Sozialismus kann unter den Bedingungen des Kapitalismus seinen Vernunftsanspruch nicht einlösenv. Das moralische System lässt sich nur mit unmoralischen Mitteln aufrechterhalten, das wiederum die Moralität des Systems zerstört.

Der bürgerliche Staat hat die Vernunft im ökonomischen Bereich abgeschafft, bzw. in eine instrumentelle Vernunft verwandelt, die der philosophischen Vernunft der Aufklärung, der Selbstbestimmung, widerspricht. Geltung hat die nichtinstrumentelle Vernunft nur in der Sphäre des Geistes, in der Moral, aber nicht in der bürgerlichen Wirklichkeit. Dadurch bekommt sie eine ideologische Funktion, nämlich die ungerechten Verhältnisse in der bürgerlichen Klassengesellschaft zu verschleiern. Die bürgerlichen Rechtsverhältnisse leben vom Schein der Moralität, ohne wirklich moralisch zu sein.

Der sozialistische Staat setzt sich in seiner politischen Praxis offen ins Unrecht und erzeugt permanent den moralischen Protest.

Im bürgerlichen Staat dagegen erscheint die Unmoral immer im Gewand der Moral und bleibt dadurch verborgen.

Im sozialistischen Staat sind die Machtverhältnisse transparent. Deutlich ist hier, wer über wen herrscht. Im bürgerlichen Staat dagegen ist die Klassenherrschaft nicht mehr sichtbar. Die Herrschaft der Menschen über Menschen erscheint hier nur noch als die Herrschaft der Sache über den Menschen, der alle zu folgen haben. Die Klassenherrschaft des Bürgertums ist deshalb ungleich schwerer zu bekämpfen und zu beseitigen als die der Kader im sozialistischen System.

Der Geist indes, der die wirklichen Verhältnisse durchschaut, kann sich mit dem bürgerlichen System nicht mehr abfinden, solange zumindest nicht, wie er am Paradigma der philosophischen Vernunft festhält. Er wird nicht eher ruhen, als bis die in der Reflexion erkannten Widersprüche auch in der politischen Wirklichkeit beseitigt sind.

Mit dem Untergang des DDR-Sozialismus ist ja noch nicht der Sozialismus als solcher obsolet geworden. Es hat sich eben gezeigt, daß ein moralisches System sich im Kapitalismus nicht aufrechterhalten läßt. Ein Sozialismus, der nur mit immensem diktatorischen Aufwand in strengster Abgeschlossenheit zum Kapitalismus hin aufrechtgehalten werden kann, ist ein sehr instabiler Attraktor. Erst wenn der Kapitalismus seine Attraktivität in den fortgeschrittensten Industriestaaten einbüßt und dort obsolet geworden ist, ergibt sich die realistische Chance einer sozialistischen Umgestaltung. Die Kommunisten hätten dieser zentralen These von Marx wohl mehr Beachtung schenken sollen.


Schlussbetrachtung

Nun könnte vielleicht der Einwand gemacht werden, dass die vorliegende Argumentationsskizze eine Problemlage behandelt, die mit dem Untergang der DDR ihre Aktualität und damit ihre Relevanz für die heutige Situation verloren habe. Dieser Einwand muß zurückgewiesen werden. Mit dem Untergang der DDR ist eben nicht schon das sozialistische Bewußtsein in der deutschen Bevölkerung untergegangen. Selbst wer dem untergegangenen Sozialismus keine Träne nachweint (selbst die Augen der Mehrheit der PDS bleiben hier trocken) und darüber hinaus inständig hofft, er würde niemals mehr auferstehen, kann die Realität ja nicht verleugnen, dass große Teile der Bevölkerung bis in die Wählerschaft der SPD und GRÜNEN hinein sozialistisch denken. Sogar zum Kommunismus selbst bekennen sich immer noch viele Menschen, wenn auch nicht mehr in der Öffentlichkeit. Das Bewußtsein der Deutschen ist nach wie vor geteilt und der Riß zwischen den Deutschen verläuft nur scheinbar entlang der alten Demarkationslinie zwischen Ost und West. In Wahrheit geht der Riß quer durch Ost und West. Zwei inkompatible Paradigmen des Bewußtseins, das bürgerliche und das sozialistische stoßen einander im Raum und kämpfen seit Anbeginn der kapitalistischen Gesellschaft um Vorherrschaft. Das sozialistische Bewußtsein hat im Kapitalismus a priori eine inferiore Stellung und ist im Laufe der deutschen Geschichte nur kurzzeitig in der DDR zum Mainstream des Bewußtseins geworden. Der aktuelle Mainstream ist zweifellos das bürgerliche Bewußtsein, das das sozialistische Bewußtsein mit Erfolg unter die Oberfläche der Öffentlichkeit drückt. Die Homogenität der öffentlichen Meinung, die sich beispielhaft in der Rezeption des BGH-Urteils zeigt, beweist gerade nicht eine in sich befriedete Gesellschaft. Sie reflektiert einzig und allein die spezifische Sichtweise der staatstragenden Klasse, ohne daß diese Sichtweise als klassenspezifische durchschaut wird. Das gesprochene Recht der bürgerlichen Gerichte erfährt dagegen das sozialistische Bewußtsein immer als unmoralischen Akt der Repression. Die Hegemonie des bürgerlichen Bewußtseins bedeutet also immer einen Akt der Unterdrückung, auch wenn der Bürger das so nicht sieht. Und je mehr die Unterdrückung gelingt, desto stärker wird der sozialistische Gegenentwurf, der immer wieder aus dem Untergrund hervorbricht. An dieser Dialektik scheitert der bürgerlicher Pazifizierungsversuch wieder und wieder. Der Kampf zwischen den beiden inkompatiblen Bewußtseinsparadigmen bestimmt den Überbau unserer Gesellschaft und verweist damit auf deren Anatomie: die antagonistische Klassenstruktur.

Der Marxsche Begriff des Klassenkampfes beschreibt diese Situation allerdings nur unzulänglich. Die Bewußtseinsparadigmen sind nämlich nicht unmittelbar den empirischen Klassen zuzuordnen. Der Prolet denkt ans Fressen und nicht sozialistisch. Und sozialistisch denkt der Intellektuelle, der nicht mehr hungert. Nicht die Klassen erzeugen Bewußtseinsformen, sondern die bürgerliche Klassengesellschaft generiert Bewußtseinsformen, die prinzipiell von allen Individuen dieser Gesellschaft unabhängig von ihrer Klassenlage eingenommen werden können. Die Wahrscheinlichkeit ist allerdings größer, dass sich das Muster der Bewußtseinsformen auch klassenspezifisch verteilt (das Sein bestimmt das Bewußtsein), allerdings anders, als sich das Marx gedacht hatte. So denkt die Geldaristokratie überwiegend bürgerlich und wählt entsprechend ihres Interesses die bürgerlichen Parteien, die CDU und die FDP. Das Proletariat dagegen denkt zunehmend weniger sozialistisch, sondern zutiefst kleinbürgerlich und wandert teilweise von der SPD weg zur CDU. Auch das entspricht seinem gewandelten Interesse: dem Aufstieg zur bürgerlichen Klasse. Das deutsche Proletariat erfüllt heute mehr und mehr die Attribute, die die Klasse der Kleinbürger definieren. Folgerichtig greifen alle Proleten, die aus dem Klassenaufstieg heraus zu fallen drohen, auf faschistische und nicht auf sozialistische Denkmuster zurück (hier liegt die Wurzel des aufkommenden Rechtsradikalismus). Die Rolle des klassischen Proletariats haben heute in der BRD die Ausländer, die Türken, übernommen, ohne die die deutsche Gesellschaft gar nicht mehr lebensfähig wäre. Das eigentlich sozialistische Reservoir verlagert sich vom Proletariat auf die staatstragende Mittelklasse, auf die Klasse also, die gleichzeitig das Interesse des ideellen Gesamtkapitalisten vertritt. Die antagonistische Klassenstruktur unserer Gesellschaft wird also nur noch ideologisch in der und durch die Mittelklasse ausgefochten und erscheint gar nicht mehr als Klassenkampf zwischen dem Proletariat und den Kapitalisten, den beiden Grundklassen der kapitalistischen Gesellschaft. Es ist der Aufstand der Moral gegen die ökonomische Vernunft des Kapitals, die die staatstragende Klasse selbst entzweit. Personell sind es die Linksintellektuellen, die sich gegen die Technokraten der Macht erheben. Die Erhebung bleibt allerdings virtuell. Was die rechte Hand tut, darf der linke Kopf beschreien, nicht aber von der linken Hand verändert werden. Die staatstragende Klasse erzeugt die Opposition und weist ihr die Rolle der Kassandra zu. Linke Hände werden dagegen beizeiten und schnell abgehackt. So hat die Berufsverbotspraxis in den 70er Jahren die aufmüpfige jeunesse doree sehr schnell zur Raison gebracht. Daß sie heute an den Hebeln der Macht das Lied von der ökonomischen Vernunft singt, ist kein Widerspruch, sondern nur ihrer Klassenfunktion geschuldet. Revolutionär ist die staatstragende Klasse nur in ihrer Jugend, in der sie ihre Klassenaufgabe noch nicht zu erfüllen hat.

Sozialistisches Bewußtsein? Vergeblich sind alle seine Ausrottungsversuche durch das bürgerliche Bewußtsein. Die staatstragende Klasse ist es selbst, die immer wieder die sozialistische Idee generiert, solange sie an ihrer Aufgabe krankt, die Rolle des Gesamtkapitalisten zu übernehmen und gleichzeitig Recht, Moral und Politik in Übereinstimmung zu einander bringen will. Das System des kapitalistischen Marktes mit einem politischen Rechtsverständnis zu verbinden, das auch nur annähernd den moralischen Ansprüchen genügt, die z.B. die CDU für ihre abendländisch-humanistische Leitkultur reklamiert, kommt der Quadratur des Kreises gleich. An diesem Anspruch wird die staatstragende Klasse immer wieder zerreißen.

Ich glaube nicht, daß der Kapitalismus durch einen Akt der Vernunft aufgehoben werden kann. Ich befürchte eher, daß die destruktive Dynamik des Kapitalismus zu derart schrecklichen Folgen führen wird, daß die Menschheit gar nicht mehr anders kann, als den Kapitalismus aufzugeben. Wenn auch eine Verhaltensänderung in den seltensten Fällen aus der Einsicht in die Vernunft erfolgt, so ist die Erkenntnis dessen, was vernünftig ist, eine Voraussetzung für die Verhaltensänderung. Solange die Einsicht in die Unvernunft unserer rechtlichen, politischen und moralischen Verhältnisse nicht vorhanden ist, kann an Veränderung per se nicht gedacht werden. Die vorliegende Transzendentalanalyse hat vorrangig diese aufklärende Funktion.