Harald v. Rappard (April 1999)

ETHIK: Lehre vom richtigen Handeln

Frage Kants: Was soll der Mensch tun?

Ausgangsfragen

1. Gibt es in einer Gesellschaft allgemein verbindliche Normen, an die sich das Individuum halten muß?

2. Gibt es allgemein verbindliche universell geltende Normen oder sind die geltenden Normen nur auf die jeweilige Kultur bezogen?

Die Entwicklung der Ethik im Licht des Kohlberg-Habermas-Schemas(KHS)

Position des Hedonismus kennt keine moralische Normen
hält sich an das Lustprinzip
Aristipp Tue das, was dir die meiste Lust bereitet
Vermeide das, was dir Unlust bereitet

diese Extremposition ist am weitesten von der Moral entfernt und entspricht der Stufe "Null" im KHS
Glückstheorien in der Antike der Extremhedonismus findet schon in der Antike seine Kritiker. Man sieht deutlich, daß die kurzfristige Lustbefriedigung nicht zum Glück führt, sondern zu Leidenschaft.
Epikur Jede Leidenschaft schafft Leid
Ziel des Weisen: die Seelenruhe ( Ataraxie)
Glücklich ist nur der Weise, der sich von allen Leidenschaften fernhält. "Suche dir gute Freunde und halte dich von den Frauen fern!"
Aristoteles Ziel des Lebens ist die Glückseligkeit (Eudämonia)
Ein glückliches Leben führt nur, wer das rechte Maß zwischen den Extremen findet.
Das aristotelische Mittelmaß ist die anzustrebende Tugend (z.B. das rechte Maß beim Essen ist die Mitte zwischen den Extremen Völlerei und Askese)
Utilitarismus(Lehre vom größten Nutzen) Im Grunde sind die antiken Glücksethiken nur Spielarten des Utilitarismus: das Gute ist immer das Nützliche ( allenfalls 2.Stufe im KHS).
Keine Glückstheorie ist in der Lage, eine moralische Norm zu begründen: wenn der Nutzen als höchster Wert menschlichen Handelns angesehen wird, ist die Moral nur Mittel, dieses Ziel zu erreichen (also im Grund genommen überhaupt keine Moral)
die Pflichtethik des Sokrates In der Antike ist es erstmals Sokrates, der ein völlig anders Paradigma von Moral entwirft. "Lieber Unrecht erleiden als Unrecht tun"
Moral ist nicht mehr Mittel, sondern Zweck richtigen Handelns.
Die Moral fordert Handlungen ein, die gegen die Neigung des Menschen als notwendig und richtig eingesehen werden.
Moralisches Handeln wird somit zur Pflicht des Menschen.
In der sokratischen Position finden wir erstmals eine Moralstufe vor, die im KHS als nachkonventionell eingestuft werden muß. Der Maßstab des Handelns ist einzig und allein die Einsicht in die Notwendigkeit der moralischen Norm(6.Stufe im KHS) und nicht das bloße Befolgen vorgegebener Normen (4.Stufe im KHS).
Das revolutionär Neue ist, dass Sokrates mit dem Utilitarismus bricht. Gut ist nicht mehr das, was nützt, auch nicht das, was das Gesetz vorschreibt, sondern was vor der einzigen Instanz -der Vernunft, dem Logos- Bestand hat. Damit wird die Instanz moralischen Handelns in den Menschen verlagert(weg von der Göttern, weg vom Staat). Genau das haben die Athener als ungeheure Anmaßung empfunden. Nicht von ungefähr haben sie ihn wegen Gotteslästerung und Jugendverführung zum Tode verurteilt.
Als Sokrates nach seiner Verteidigungsrede als schuldig im Sinne der Anklage erklärt wird, schlägt er die von seinen Freunden vorbereitete Fluchtmöglichkeit aus. Er begründet seine Haltung mit der Achtung, die man vor dem Gesetz haben muß. Die Verurteilung halte er er zwar für falsch, aber er sei nach Recht und Gesetz, das sich die Athener selbst gegeben haben, verurteilt worden. Man könne das Gesetz nicht dann brechen, wenn es einem schadet und nur dann anwenden, wenn es einem nützt. Das Gesetz hat für S. einen höheren Wert als der Mensch, der durch das Gesetz zu Fall kommt.
Aufgabe Begründe, warum die scheinbar legalistische Argumentation von Sokrates (4.Stufe im KHS) in Wahrheit von einem nachkonventionellen Standpunkt aus erfolgt.
Grenzen der sokratischen Ethik Obwohl S. vom nachkonventionellen Standpunkt das Gesetz legitimiert, bleibt er doch noch ganz der atheniensischen Polis verhaftet. Gegen den Zustand tyrannischer Willkür rechtfertigt er das demokratische Recht der Athener (5.Stufe im KHS) Er hinterfragt aber gar nicht, ob demokratische Mehrheitsentscheidungen immer vernünftig sind.
Pflichtethik Kants Erst mit Kant erreicht die philosophische Ethik endgültig den nachkonventionellen Standpunkt der 6.Stufe im KHS.
Wesentlich zum Verständnis der Kantschen Position sind die Begriffe Freiheit, Autonomie, Selbstbestimmung des Menschen. Es sind Begriffe, die erstmalig zu Beginn der Aufklärung im 18. Jhdt. in Europa ins Zentrum der Philosophie rücken.
Der philosophische Begriff der Freiheit wird von der Selbstbestimmung her gedacht. Freiheit heißt gerade nicht, tun und lassen, was man gerade möchte. Dieser konsumorientierte Freiheitsbegriff bedeutet das Gegenteil des philosphischen Freiheitsbegriffs: nämlich Fremdbestimmung durch die Triebe (Heteronomie).
Moralisch handelt der Mensch erst, wenn er aus Einsicht in die Notwendigkeit handelt und nicht aus Neigung. Dazu bedarf es der Vernunft und vor allem der Freiheit, gegen seine Neigung handeln zu können. Moral hat Zwangscharakter. Sie fordert mit Verbindlichkeit eine moralische Handlung. Wie die Natur Naturgesetzen folgt, so unterliegt die menschliche Handlung dem moralischen Gesetz. Im Unterschied zu allen Stufen davor wird auf der sechsten Stufe der Moralentwicklung der einzelne Mensch selbst zum moralischen Gesetzgeber. Er selbst und nicht ein anderer, nicht die Eltern (Stufe 1), nicht die Partnerbeziehung (Stufe 2), nicht die Gruppen (Stufe 3), nicht das Volk, die Ethnie, die Nation (Stufe 4), nicht die demokratische Gesellschaft (Stufe 5). Erst auf der 6. Stufe hat der Mensch seine vollständige Freiheit erlangt, seine Autonomie. Die moralischen Normen sind ihm nicht mehr von außen gesetzt, er setzt sie sich selbst, und genau das macht seine Freiheit aus. Die Freiheit ist nicht mehr Willkür, weil sie sich an das moralische Gesetz bindet.
der kategorische Imperativ Das moralische Gesetz, an das sich das Individuum bindet, läßt sich durch die kategorischen Imperative Kants ausdrücken.
1. Handele nach der Maxime, die du zu einem allgemeinen Gesetz machen kannst.
2. Handele nach der Maxime, die den Menschen niemals als bloßes Mittel, sondern als Selbstzweck betrachtet.
In der ersten Formulierung wird deutlich, dass nur diejenigen Handlungen moralisch sind, die keinem partikularen Interesse folgen. Nur das ist moralisch, was für alle Menschen moralisch ist. Daraus folgt, dass kein Mensch, keine Gruppe, keine Ethnie, keine Rasse aus der Moralität ausgeschlossen werden darf (Kriterium der Universalisierbarkeit moralischer Normen).
In der zweiten Formulierung wird auf die Unantastbarkeit der menschlichen Würde abgehoben, von der die Menschenrechte abgeleitet werden.
die Freiheit zum Bösen Wenn dem Menschen Selbstzweckcharakter zugesprochen wird, dann verbietet sich sein Mißbrauch zu fremden, nicht von ihm selbst gesetzten Zwecken. So ist die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen eindeutig unmoralisch.
Die Freiheit, die sich nicht an das moralische Gesetz bindet, ist die Willkür. Wenn der Mensch ein freies Wesen ist, so hat er auch die Freiheit, seine Freiheit zu mißbrauchen. Er kann sich zum Bösen entscheiden, das moralische Gesetz brechen, oder es gar nicht erst anerkennen.
Böses tun kann allerdings nur der moralische Mensch, der schon auf der 6. Stufe steht. Ein Mensch, der sich seinen Trieben hingibt, handelt zwar nicht moralisch, aber noch nicht böse. Der kubanische Plantagenbesitzer, der seine Neger in nur sechs Jahren zu Tode arbeiten läßt, handelt nur von der 6. Stufe aus betrachtet böse, er selbst betrachtet den schwarzen Sklaven als bloßes Arbeitsmittel. Er schließt ihn aus seiner Moralität aus und sieht sich nicht als bösen Menschen. Seine beschränkte Moralität zeigt, dass er noch nicht auf der 6. Stufe steht.
böse Diktatoren?
oder gute Führer aus binnenmoralischer Sicht?


die konventionelle Moral der Mehrheit der Menschen
Hitler, Stalin und jetzt Milosovic gelten als böse Menschen, weil ihnen unterstellt wird, dass sie in Willkür gehandelt und das moralische Gesetz gebrochen haben. Aus der Sicht der Faschisten, Stalinisten und der Mehrheit der Serben erscheint das Handeln ihrer Protagonisten alles andere als verwerfllich, sondern in Bezug auf ihre Binnenmoral als moralisch gerechtfertigt. Im Horizont der Binnenmoral werden die Menschenrechte der Außenstehenden nicht etwa aberkannt, sie tauchen gar nicht erst auf. Die Verfolgung einer Ethnie ist für die verfolgende Ethnie niemals ein moralisches Problem. So zeigen die ethnischen Konflikte auf dem Balkan, in der Türkei, in Palästina, in Afrika etc. weniger die abgrundtiefe Bosheit politischer Machthaber auf als die retardierte Moralentwicklung bei der Mehrheit der Menschen, die die nachkonventionelle Stufe gar nicht erreicht.
die Menschheit in der nachkonventionellen Phase der Moralentwicklung Dass anderseits der Völkermord in der Weltöffentlichkeit als Skandal empfunden wird und ein internationales Tribunal zur Verfolgung von Kriegsverbrechen existiert, zeigt ebenso deutlich, dass die Menschheit (wenn auch interessanterweise nicht die Mehrheit der Menschen) die 6. Stufe der Moralentwicklung erreicht hat.
der gesinnungsethische Standpunkt der NATO im Kosovokonflikt Auch das Eingreifen der NATO in den ethnischen Konflikt zugunsten der verfolgten Schwächeren wird argumentativ von der 6. Stufe her gerechtfertigt. Wenn die Menschenrechtsverletzungen der Kosovo-Albaner durch die Serben nur mit Gewalt beendet werden können, dann ist die Gewalt nicht nur legitim, sondern sogar moralisch geboten.
Kritik des NATO-Militärschlags aus verantwortungsethischer Sicht Die Gesinnungsethik fordert in diesem Fall ein Eingreifen ohne Wenn und Aber, selbst wenn das eigene Leben und das der Aggressoren dabei gefährdet wird.
die Fragen, die sich ein Gesinnungsethiker nicht stellt Verantwortungsethisch stellt sich indes die Sachlage ganz anders dar. Ist die Folge der moralischen Intervention der NATO die nicht mehr zu verhindernde Vertreibung und Ausrottung der Kosovo-Albaner im großen Stil, dann ist die gesinnungsethisch gebotene Intervention verantwortungsethisch eben nicht mehr gerechtfertigt, selbst wenn der militante Flügel der Kosovo-Albaner die Intervention der NATO begrüßt.
die Grenzen der Gesinnungsethik Hat die NATO die Folgen ihres Militärschlags gegen Milosevic genügend bedacht? War die "ethnische Säuberung" des Kosovo nicht voraussehbar ? Hat die NATO bedacht, dass sie automatisch zur Kriegspartei der UCK wird, deren bornierte Binnenmoral um nichts der Binnenmoral eines Milosevic nachsteht? Hat die NATO bedacht, dass ein Krieg gegen Milosevic nicht vom Krieg gegen die Serben zu trennen ist, dass mit jeder Bombe die Serben sich fester um ihren Führer scharen? Hat die NATO die Auswirkung auf Russland bedacht, auf die Rolle der UN etc. ... ? Alle diese Fragen stellt sich ein Gesinnungsethiker nicht, aber ein Verantwortungsethiker muß sie sich stellen.
der Krieg als ultima ratio der Politik? Wir sehen deutlich die Grenzen des gesinnungsethischen Standpunkts. Mit der Gesinnungsethik kann man keine Politik betreiben, und wenn man mit der Gesinnungsethik Politik betreibt, dann hat sie verheerende Folgen.
die Notwendigkeit des rationalen Diskurses Die Crux ist, dass sich die moralisch richtige Gesinnung nie durch Krieg durchsetzen kann.
Der Krieg mag die ultima ratio partikularistischer Interessen sein. So war vielleicht der Golfkrieg das letzte und einzig mögliche Mittel, die irakische Annexion Kuweits rückgängig zu machen, um die amerikanisch-europäischen Ölinteressen zu wahren. Der Krieg kann indes keine ultima ratio sein, um der Gesinnungsethik zum Sieg zu verhelfen. Die Gesinnungsethik Kants verlangt die Einsicht in die Notwendigkeit moralischen Handels und kann prinzipiell nicht erzwungen werden.
Zum politischen Diskurs (7. Stufe des KHS) besteht deshalb keine Alternative. Zum moralischen Diskurs gehört es, dass sich die Diskursteilnehmer als gleichberechtigt anerkennen und ohne Herrschaftsinteressen sich auf die Normen ihres Handeln verständigen. Der herrschaftsfreie Diskurs ist ein Ideal, den die Vernunft einfordert. Er ist der Maßstab für jeden realen politischen Diskurs. In jedem politischen Diskurs geht es natürlich um handfeste Interessen, die sich widersprechen. Aber die Regel gilt: nur im politischen Diskurs lassen sich Konflikte lösen.
War der Krieg wirklich die einzige Alternative? Unsere Politiker behaupten, es habe keine Alternative zum Krieg gegeben. Milosevic sei eben nicht diskursbereit gewesen. Von Diskurs kann allerdings nicht mehr die Rede sein, wenn es stimmen sollte, dass den Serben in Rambouillet ein fertiger Vertragstext vorgelegt worden ist nach der Devise:" Unterschrift oder Bombardierung!", ein Vertrag, der in nicht veröffentlichten Zusatzartikeln angeblich den Jugoslawen eine über den Kosovo hinausgehende militärische Besetzung durch die Nato auferlegt hat. Dass der Vertragstext nicht vollständig der Öffentlichkeit bekannt gemacht worden ist, gibt Anlass zu schlimmstem Verdacht. Offensichtlich hat die NATO Legitimationsschwierigkeiten für ihren Militärschlag befürchtet.
Aber selbst wenn wir annehmen, Milosevic hätte den Völkermord oder die systematische Vertreibung der Kosovo-Albaner geplant und die Verhandlung in Rambouillet absichtlich scheitern lassen, um die NATO zu einem Militärschlag zu provozieren, unter dessen Deckmantel er dann erst hemmungslos seine bösen Pläne verwirklichen kann - die NATO also in die von Milosevic aufgestellte Falle getappt ist - so wäre der Militärschlag der NATO verantwortungsethisch erst recht nicht zu rechtfertigen. Die Folgen des Militärschlags waren für die NATO voraussehbar und von der NATO auch befürchtet worden.
die Politik der Sackgasse in den Krieg Unter verantwortungsethischem Gesichtspunkt hätte die NATO sicherlich auch die Folgen bedenken müssen, die entstehen würden, wenn sie nicht im Kosovo interveniert hätte. Nicht zu Unrecht hätte dann die Glaubwürdigkeit der Nato gelitten und wäre als Papiertiger entlarvt worden. Das politische Droh-Inszenarium der NATO, mit dem man Milosevic zur Räson hat bringen wollen, verlangt in letzter Konsequenz, dass man die Drohungen auch wahrmachen kann. Die Politiker haben sich damit auf ein Gleis gesetzt, von dem sie nicht mehr abspringen konnten. Derartige Gleise kennen wir zur Genüge in der Geschichte. Sie führen regelmäßig zum GAU der Politik, in die Katastrophe (siehe 1. Weltkrieg). Die Menschenrechte zu schützen war man ausgezogen (gesinnungsethisch ehrenswert) und das Resultat ist bestensfalls ein verheertes, entvölkertes Land mit Tausenden von Toten. Dieser Wahnsinn kann verantwortungsethisch nicht mehr gerechtfertigt werden.
die Einordnung aller bestehenden Moralnormen in das Kohlberg-Habermas-Schema Kommen wir auf die Ausgangsfragen der Ethik nach der Allgemeinverbindlichkeit von Normen zurück. Das KHS ermöglicht uns eine Antwort.
1. Empirisch gesehen finden wir eine Reihe unterschiedlicher Normen vor, die sich gegenseitig widersprechen.
2. Alle existierenden Normen können dem 7-stufigen KHS zugeordnet werden.
3. Die Normen relativieren sich nicht gegenseitig. Sie weisen eine Rangordnung auf, die sich sowohl in der individuellen Entwicklung eines Menschen vom Kleinkind bis zum Erwachsenen (Ontogenese) widerspiegelt als auch in der Philosophiegeschichte der Menscheit (Philogenese).
der Fortschritt in der Moralentwicklung Prinzip der Moralentwicklung: der sich ausbreitende Geltungsbereich der Moral bis hin zur universellen Gültigkeit.
4. Die nachkonventionellen Moralstufen erreicht nicht jeder Mensch. Es ist davon auszugehen, dass die Mehrheit der Menschen auf der konventionellen Moralstufe stehen bleibt.
die Ankunft der Menschheit in der nachkonventionellen Phase 5. Dennoch ist die Gesellschaft der Gegenwart schon in der nachkonventionellen Phase angekommen. Das zeigt sich darin, dass der konventionelle Standpunkt bewußt eingenommen werden kann und eingenommen wird als Antwort und Abwehr nachkonventioneller Moralvorstellungen. ( Eine Gesellschaft, die noch in der konventionellen Phase ist, wäre blind für ihre eigenen Konventionen. So ist die islamische Gesellschaft in Persien, Afghanistan, Algerien usw. schon in der nachkonventionellen Phase. Sonst wäre der islamische Fundamentalismus nicht entstanden, der als Reaktionsbildung auf die nachkonventionellen Moralvorstellungen dieser Gesellschaften betrachtet werden muß.)
die Seins- Sollens- Differenz 6. Die Allgemeinverbindlichkeit nachkonventioneller Normen ist empirisch nicht gegeben, aber ethisch gefordert. Die Geltung moralischer Normen ist nicht aus der Empirie ableitbar, sondern nur aus der Vernunft. Hier gilt der Satz Kants, dass das Sollen nicht aus dem Sein abgeleitet werden kann.
der naturalistische Fehlschluß Wer gegen diese Regel verstößt, begeht einen sogenannten naturalistischen Fehlschluss.
die verfehlte Politik aus dem gesinnungsethischen Ansatz 7. Der gesinnungsethische Standpunkt auf der 6 . Moralstufe reicht nicht zur Bewältigung des praktischen Lebens. Er spiegelt die idealistische Phase des jungen Erwachsenen und führt politisch bestenfalls zu einem illusionären Idealismus (ohne den allerdings die Gesellschaft ärmer wäre) und schlimmstenfalls zum moralischen Rigorismus, der im moralischen Terror enden kann (die Jakobiner in der frz. Revolution, die Bolschewisten in der russ. Revolution, die Rote Armee Fraktion der Baader-Meinhof-Gruppe in den 70ern).
die Forderung nach einer Politik des öffentlichen Diskurses 8. Gefordert ist der verantwortungsethische Standpunkt in der Politik, der die Folgen des Tuns bedenkt und in einem rationalen Diskurs in der Öffentlichkeit (und nicht im stillen Kämmerlein) gefunden werden muss.
Universalismus contra Kulturrelativismus Die Streitfrage zwischen den Kulturrelativisten und den Universalisten läßt sich ebenfalls aus dem KHS beantworten.
1. Die empirische Existenz unterschiedlicher Kulturen, mit unterschiedlichen Moralvorstellungen beweist nicht die Kulturrelativität aller Normen.
2. Auch die außereuropäischen Kulturnormen lassen sich dem Stufenschema zuordnen.
3. Wenn auch die nachkonventionellen Normen nur aus dem europäischen Raum entstanden sind, heißt das nicht, dass sie nur eine europäische Gültigkeit haben. Die europäische Aufklärung ist dem Denken des europäischen Mittelalters genauso fremd wie die individuellen Menschenrechte den kommunitaristischen (auf die Gemeinschaft bezogenen) Traditionen Asiens .
Die nachkonventionelle Moral entwickelt sich nicht evolutiv aus der konventionellen Moral heraus. Das heißt, sie wächst nicht automatisch aus der konventionellen Stufe hervor. Um aus der Konvention heraus zu kommen, bedarf es eines revolutionären Bewußtseinsschritts, eines bewußten Abstandnehmens von der Tradition, in der man aufgewachsen ist.
4. Die jeweils geltenden Konventionen der unterschiedlichen Kulturen sind in der Tat nicht kompatibel und der Versuch, moralische Normen zu finden, die allen Kulturen gemeinsam sind, ist ein schwieriges Unterfangen. Eine nachkonventionelle Moral dagegen hat a priori universelle Gültigkeit. Sie bildet ja keine neue zusätzliche Konvention, sondern nimmt Abstand von allen Konventionen und ist daher von keiner Tradition mehr abhängig. So unterschiedlich die Kulturen auch sein mögen, der Schritt aus der jeweils geltenden Moraltradition heraus ist prinzipiell von jeder Kultur aus möglich.
Der Kulturrelativist hat also jeweils nur die konventionellen Moralstufen der Kulturen im Blick und sieht dementsprechend völlig zu Recht deren Inkompatibilität. Seine Behauptung indes, dass alle moralischen Normen nur Geltung innerhalb einer Kultur haben, kulturübergreifende Normen also nicht existieren, ist falsch und zudem in sich widersprüchlich.
Widersprüchlich ist sie, weil sie selbst nur aus einer kulturübergreifenden, also metakulturellen Sicht formulierbar ist, deren Existenz sie abstreitet.
Falsch ist sie, weil die nachkonventionellen Moralstufen dem Kulturrelativisten nicht ins Blickfeld geraten und wenn, dann als spezifische Konventionen aus dem europäischen Kulturkreis mißverstanden werden ( Feyerabends Vorwurf des Eurozentrismus, wenn Europäer die Menschenrechte als universell gültig proklamieren).
Zudem macht der Kulturrelativist einen naturalistischen Fehlschluß, wenn er von der empirisch festgestellten Inkompatibilität moralischer Normen auf die Nichtexistenz universell gültiger Normen schließt

Aufgabe Betrachte unsere multi-kulturelle Gesellschaft aus der Perspektive des Kulturrelativisten und aus der Perspektive einer nachkonventionellen Moral. Zu welchen Ergebnissen kommst du?
Achtung

reflektierte Moral gegen unreflektierte Moral
Die bisherige Darstellung vermittelt den Eindruck, als könne das KHS die gesamte Moralität der Menschheit erfassen und hierarchisieren. Das KHS erfaßt in der Tat die reflektierende Moral, aber ganz und gar nicht die unreflektierte Moral unseres alltäglichen Moralverständnisses und steht sogar quer zu ihm.
Unser unreflektiertes Moralverständnis geht von ganz anderen Werten aus, die gerade nicht von der Vernunft bestimmt sind, sondern schon vor jeder Reflexion unser Verhalten bestimmen. Die Fähigkeit zum Mitleid ist z. B. schon vor aller Vernunft vorhanden. Das Mitleid stellt sich spontan ein und nicht als Ergebnis einer Reflexion.
Charakter und Tugenden

Aufgabe:
Beschreibe die Schwierigkeiten, die christlichen Kardinaltugenden (Glaube, Liebe, Hoffnung, Demut) in das KHS einzuordnen
Zu diesen vorrationalen Werten gehören unsere sogenannten Charaktereigenschaften, unsere Tugenden und Untugenden. Großzügigkeit, Mut, Treue, Aufrichtigkeit, Offenheit, Sensibilität definieren den guten Charakter und Geiz, Feigheit, Treulosigkeit, Verlogenheit, Verschlageneheit, Verschlossenheit, Gefühlslosigkeit, Herzlosigkeit den schlechten. Auch die sogenannten Sekundärtugenden, die als Erziehungsziele gelten wie Fleiß, Ordentlichkeit, Pünktlichkeit und die entsprechenden Untugenden wie Faulheit, Unordentlichkeit und Unpünktlichkeit sind vorrationale Werte (wiewohl sie von der Vernunft begründet oder abgelehnt werden können), insofern sie unser Verhalten vor aller Vernunft bestimmen.

Unabhängig von der Frage, ob die Tugenden und Untugenden Resultat von Erziehung, Ergebnis einer nichtbewußten Sozialisation oder in der Genetik des Menschen schon angelegt sind, als Charaktereigenschaften bestimmen sie unser vorrationales moralisches Verhalten, sind also dessen kausale Determinanten.
moralisches Verhalten
contra moralische Handlung
Gegenstand der reflektierenden Moral ist nun nicht das wie auch immer geartete moralische Verhalten, sondern die moralische Handlung. Hier muß man sich den wichtigen Unterschied zwischen Verhalten und Handlung klar machen. Verhalten ist kausal bestimmt. Es ist die Wirkung einer davor liegenden Ursache. Handlung dagegen ist intentional (beabsichtigt) und teleologisch (zielorientiert) bestimmt. Der Grund der Handlung ist das Ziel der Handlung.

Ursache-Verhalten als Wirkung der Ursache
Handlung------------------Ziel/Grund der Handlung

Aufgabe 1. Begründe, warum jemand, der ohne Nachdenken ins Wasser springt, um ein ertrinkendes Kind zu retten, sich moralisch verhält, aber nicht moralisch handelt.
2. Jemand, der Angst vor dem Wasser hat, nicht gut schwimmen kann, springt ins Wasser, um das Kind zu retten. Verhält er sich moralisch oder handelt er moralisch?

Die vorrationale Moral ist zweifellos sehr wichtig und für das Zusammenleben der Menschen vielleicht viel wichtiger als die bewußte Moralentscheidung der Vernunft. Die Frage stellt sich, warum die Vernunftethik den wichtigen, wenn nicht gar wichtigsten Teil der empirisch existierenden Moralität des Menschen ausklammert.
Man muß sich klar machen, dass die Vernunftethik erst in der nachkonventionellen Phase ansetzt, in der die vorrationale Moral kein Kriterium richtigen Handelns mehr ist. Das charakterlich gute Verhalten ist nicht schon eo ipso (aus sich heraus) vernünftiges Handeln. Aus Mitleid handeln kann mitunter zu moralisch falschen Handlungen führen.
Aufgabe Mache Dir durch Beispiele klar, dass sich jede oben aufgeführte Tugend in eine Handlung setzen läßt, in der sie moralisch falsch ist (Hinweis: Mit den preussischen Tugenden der Pünktlichkeit, Ordentlichkeit, Disziplin und Fleiß läßt sich jedes KZ führen).

Es ist ein weit verbreiteter Irrglaube, dass die SS-Verbrecher minderwertige Charaktere gewesen sind (in Einzelfälle hat es diese sicherlich gegeben) . Ihre Charaktereigenschaften haben sich nicht von denen des Normalbürgers unterschieden. Verbrecher sind sie nicht aufgrund ihrer Charaktereigenschaft geworden (auch der beste Charakter kann zum Verbrecher werden), sondern aufgrund ihrer verbrecherischen Binnenmoral, ihrer Gesinnung. Als gute Charaktere mögen sie Mitleid mit ihren jüdischen Opfern gehabt haben, als Moralisten haben sie ihr "falsches" Mitleid überwunden und das in ihren Augen Richtige getan: die Vernichtung der jüdischen Rasse.
Aufgabe Begründe, warum sich A. Eichmann in der Rechtfertigung seines Tuns auf die Pflichtethik Kants bezogen hat und zeige auf, warum er sich zu Unrecht auf Kant bezieht.
die Moral der Unmoral Die Vernunft, die sich einer Binnenmoral verschreibt, wird zur falschen Vernunft, zur unmoralischen Vernunft, die die natürliche vorrationale Moral bedeutungslos werden läßt. Eine solche Moral der Unmoral ist beabsichtigt. Sie determiniert nicht ein unbewußtes Verhalten, sondern sie begründet eine unmoralische Handlung, ein Verbrechen.
der Unterschied zwischen nicht-moralisch und unmoralisch Auf der konventionellen Stufe der Moralentwicklung verhält sich der Mensch allenfalls moralisch, er handelt nocht nicht moralisch. Und kann er die vorgebene Norm nicht erfüllen, so verhält er sich allenfalls nicht-moralisch, ohne schon unmoralisch zu handeln. Verhalten ist kausal determiniert. Die Ursachen des Verhaltens können geklärt und das Verhalten des Menschen erklärt werden. Das Verhalten eines Jugendlichen mag frech und unverschämt sein. Er will es aber gar nicht sein und weiß meist selbst nicht, warum er sich so verhält. Zur moralischen und unmoralischen Handlung gehört die Freiheit und die nimmt der Mensch sich erst, wenn er die konventionelle Stufe verläßt und die Normen seines Handelns selbst setzt. Erst jetzt verhält er sich nicht mehr, sondern er handelt, und er kann moralisch und unmoralisch handeln. Die falsche Vernunft der Binnenmoral, die die Unmoral gegen andere zur Moral macht, entsteht erst in der nachkonventionellen Phase, biegt sich aber bewußt zurück und nimmt den konventionellen Standpunkt ein und sucht die eigene Konventionen gegen andere Konventionen durchzusetzen.