Geschichtsphilosophie

Ausgangsfragen:
1. Hat die Geschichte ein Ziel und welches Ziel? (teleologische Erklärung)
2. Verläuft die Geschichte nach Gesetzen und welche sind das ?(kausale Erklärung)

Erklärungsmodelle

1. Schichtenmodell
Geschichte ist eine Aufeinanderfolge von Zeitepochen und wird so betrachtet wie die Geologie die Erdgeschichte: als aufeinander abgelagerte Schichten. Zwischen den Schichten besteht kein logischer Zusammenhang, außer der Zeitfolge. Ein Ziel oder Sinn der Geschichte gibt es nicht.
Das Schichtenmodell ist das metaphysische Modell der empirischen Geschichtswissenschaft.
2. Das zyklische Geschichtsmodell
Geschichte ist die Wiederkehr des ewig Gleichen (Vorbild: der Jahresrhythmus und seine alljährliche Wiederholung)
Das zyklische Geschichtsmodell ist das metaphysische Modell des Hinduismus und Buddhismus. Das Rad der Wiedergeburten dreht sich ewig weiter. Glückseligkeit und Befreiung erreicht nur der einzelne Mensch (und zwar zu jeder Zeit), der aus dem Rad der Wiedergeburt auszusteigen vermag ( durch Meditation und gute Lebensführung).
Ziel des Weisen ist also, aus der Geschichte auszusteigen. Die Geschichte selbst hat kein Ziel.
3. Die linearen Geschichtstheorien

a) das eschatologische Modell der Juden, Christen und Moslems
Sie haben alle einen Anfang und ein Ende, aber kein Ziel. Es sind noch keine teleologischen Geschichtsmodelle.

Die Geschichte beginnt mit dem Sündenfall und endet mit der Erlösung durch Gott. Die Geschichte selbst weist keine Entwicklung auf, weder zum Guten noch zum Schlechten. Sie wird als Phase der Entfremdung von Gott gesehen, also als durchweg negativer Zustand. Zwar endet die Geschichte im ewigen Heil mit der Errichtung des Himmelreiches auf Erden (Reich Gottes). Nicht die Geschichte führt aber zum Heil, sondern Gott selbst. Der Mensch kann sich nicht selbst erlösen, aber er kann immerhin die Bedingung dafür schaffen, dass er am Ende erlöst wird.
b) das Regressionsmodell
Am Anfang steht das goldene Zeitalter, das sich über das silberne, kupferne, eiserne hin zum Plastikzeitalter verschlechtert.
Dieses metaphysische Geschichtsmodell der augusteischen Zeit ist auch das Grundmodell, wie der Erwachsene seine eigene Geschichte wahrnimmt: die goldene Kindheit am Anfang im Vergleich zur desullusionierenden Gegenwart. Wie oft sagen wir: "Früher war alles besser, heute dagegen ...".
c) das Progressionsmodell
Die Metaphysik der Fortschrittsgläubigkeit: Alles wird immer besser nach dem Modell des technologischen Fortschritts.
Der Fortschrittsglaube stützt sich zwar empirisch auf den technologschen Fortschritt, ist aber selbst metaphysischen Ursprungs. Er sieht die Wirklichkeit nur noch unter dem Aspekt der Machbarkeit und alle Probleme durch bessere Technologien lösbar. Sein metaphysische Brille hindert ihn zu erkennen, dass mit dem Fortschritt der Technologie die Probleme erst entstehen und exponentiell anwachsen, so dass eine Lösung immer weniger wahrscheinlich wird (vergleiche Peter Kafka).
Die Technikfeindlichkeit andererseits ist nicht minder metaphysischen Ursprungs und einem konservativen Standort geschuldet, der in b) beschrieben wird.
Anmerkung zu den linearen Geschichtsmodellen
Die linearen Geschichtsmodelle begreifen die Geschichte als einen Zeitstrom, der, wie der Fluss einem Gefälle gehorchend, in die Zukunft fließt. Für die Eschatologen ist die Geschichte ein gleichsam unterirdischer Fluss, der in eine lichte Zukunft fließt.
Für die Progressisten wird der Geschichtsfluss immer breiter und gewaltiger bis zur Weite des erahnten Ozeans.
Für den Regressisten wird der Geschichtsfluss immer dünner, bis er in der Wüste versandet.
Für den Apokalyptiker mündet der Geschichtsfluss im tödlichen Wasserfall. Allen linearen Geschichtsmodellen ist gemeinsam, dass die Gegenwart als passives Boot seiner Bestimmung zutreibt.
4. Die nicht-linearen Geschichtsmodelle
Die nicht-linearen Geschichtsmodelle begreifen dagegen die Geschichte als Evolutionsprozess aus dem einfachen Anfangszustand zu immer komplexeren Zuständen. Geschichte wird nicht mehr als Fluss begriffen, der passiv dem Gefälle folgt, sondern als aktiver Verwandlungsprozess von primitiven Zuständen zum immer höheren Organisationsformen (so wie die Evolutionsbiologen die Entwicklung der Arten begreifen).
Ähnlich wie die Evolutionsbiologie zwei unterschiedliche Erklärungsmodelle anbietet, nämlich den teleologischen Ansatz Lamarcks und den kausal-deterministischen Darwins, finden wir auch in der Geschichtsphilosophie die beiden Modelle.
a) der teleologische Ansatz Hegels
Geschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit. Am Anfang der Geschichte ist sich der Mensch seiner wesentlichen Substanz, der Freiheit, noch nicht bewußt. Er ist nur an sich frei, das heißt er ist nur dem Wesen nach frei, aber noch nicht wirklich. Der Mensch existiert schon seit Beginn nur als Gesellschaftswesen, und als Gesellschaftswesen ist er in die Gesellschaft eingebunden, noch nicht frei. Frei ist in den ersten Gesellschaften nur EINER, der Despot, und seine Freiheit erscheint auf dieser Anfangsstufe noch als bloße Willkür gegenüber seinen Untertanen. In der theokratischen Gesellschaft z. B. des alten Ägyptens, wird die Freiheit, wenn auch in der Form schrankenloser Willkür, dem Pharao erstmals bewusst.
In der oligarischen Gesellschaft des antiken Griechenland sind schon EINIGE frei, die die Gesellschaft beherrschen. In der attischen Demokratie breitet sich die Freiheit auf alle attischen Bürger aus. Die Unterschicht, insbesondere die Sklaven dagegen bleiben unfrei. Die römische Antike weitet die Bürgerrechte über die Stadtgrenze hin aus. Immer mehr Menschen erhalten die Freiheit. Dennoch ist die Antike eine Sklavenhaltergesellschaft geblieben, die durch Ausbeutung von Sklaven ihre Lebensgrundlagen erhält.
Erst im Christentum taucht erstmals der Gedanke auf, dass alle Menschen vor Gott gleich sind und keiner über den anderen stehen darf. Der Gedanke der Freiheit für alle wird von Jesus formuliert, dafür wird er ans Kreuz geschlagen. Seine Ideen sind zu revolutionär, als dass sie von der Klasse der Herrschenden ertragen werden könnten. Die Idee der Freiheit für alle bedeutet noch nicht die wirkliche Freiheit für alle. Der Prozess der Verwirklichung dieser Idee ist der Gang der Geschichte selbst - ein mühsamer Prozess, aber immerhin ein wirklich stattfindender Prozess. In der frz. Revolution wird die bisher nur ideell existierende allgemeine Freiheit erstmals zum politischen Programm und der Versuch beginnt, sie auch in der politischen Wirklichkeit durchzusetzen.
Hegel sieht diesen Geschichtsprozess der ständigen Erweiterung der Freiheit im Bewusstsein des Menschen als den Gang des Weltgeistes aus seiner Entfremdung zu sich selbst.
Im Gegensatz zur Natur, die durch Notwendigkeit, d.h. durch Kausalität determiniert ist, ist der Geist seinem Wesen nach Freiheit. Indem sich der Weltgeist im Lauf seiner Geschichte immer mehr der Freiheit bewusst wird, kommt er immer mehr auch zu sich selbst. Die Geschichte endet, wenn der Weltgeist ganz bei sich selbst angekommen ist: im Bewusstsein seiner absoluten Freiheit, im Bewusstsein Gottes. Geschichte ist also die Geschichte Gottes aus der anfänglichen Unbewusstheit seines Selbstes hin zum Bewusstsein seiner selbst.
Der Weltgeist als Subjekt der Geschichte
Subjekt der Geschichte ist für Hegel der Weltgeist und nicht das einzelne Individuum. Der Weltgeist realisiert sich im einzelnen Volksgeist und dessen Geschichte. Nicht nur die vielen einzelnen Individuen, ganze Völker gehen unter, wenn sie ihren Zweck, die Verwirklichung von mehr Freiheit, erfüllt haben.
Männer, die Geschichte machten
Die Heroen der Geschichte sind die historischen Persönlichkeiten wie Alexander, Caesar und Napoleon, in denen sich der Geist ihres Volkes am schärfsten bündelt und entwickelt und die die Geschichte machen und vorantreiben. Diese politischen Persönlichkeiten repräsentieren nicht etwa die Mehrheitsmeinung des Volkes. Das, was sie zur gestaltenden Persönlichkeiten der Geschichte werden lässt, ist ihre Fähigkeit, kommende notwendige Entwicklungen politisch gegen die Mehrheitsmeinung durchzusetzen. Erst durch ihr Wirken entwickelt sich der Weltgeist voran. Haben sie ihre Aufgabe erfüllt, so geht die Geschichte genauso rücksichtslos über sie hinweg, wie sie über die Völker hinweggeht. Sie werden auf dem Altar der Geschichte hingeopfert. Die Geschichte wird weder den Individuen noch den Völkern gerecht, denn es ist nur der Weltgeist, der sich in der Geschichte verwirklicht, nicht das Glück der Völker oder Individuen.
die Wirklichkeit ist vernünftig
Bosheit, Schlechtigkeit, Ungerechtigkeit und Leid erfährt der einzelne Mensch. In der Perspektive des Weltgeistes dagegen - und nur in dieser Perspektive - ist das, was geschieht, immer auch vernünftig. Für Hegel besteht ein Seins-Sollens-Differenz nur in der subjektiven Sicht des Einzelnen (im subjektiven Geist). Objektiv ( im objektiven Geist) gibt es diese Seins-Sollens-Differenz nicht. Für Hegel ist die Geschichte eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes auf dem Weg zu sich selbst, zur absoluten Freiheit.
Die Dialektik und die Rolle des Negativen
Das Negative erweist sich von der Dialektik des Geistes her als notwendiges Durchgangsstadium zum Vernünftigeren. Das Prinzip der Entwicklung des Geistes ist die Negation der Negation (gleich Affirmation). In jedem erreichten Geschichtszustand gibt es ein Moment der Vernunft, selbst wenn es dem einzelnen Menschen als schlecht oder böse erscheint. Der die Geschichte Betrachtende ( der Geschichtsphilosoph) muss das vernünftige Moment hinter der unvernünftigen Erscheinung finden und es als Stufe in der Entwicklung des Geistes zu sich selbst begründen. Bevor die Entwicklung nicht ihr Ende gefunden, hat jede erreichte Stufe auch ein unwahres, falsches Moment an sich. Genau dieser Widerspruch treibt die Geschichte voran. Der Geist kann sich nicht auf das einmal Erreichte ausruhen. Er selbst negiert das Erreichte und bildet eine Gegenposition dazu (Antithese). Ständig versucht der Geist eine neue, höhere Position zu schaffen, in der das positive und das negative Moment der alten Position aufgehoben sind (Synthese als Negation der Negation) (In der Literatur ist die Figur Fausts ein Beispiel für den vorwärtsstürmenden Geist).
So schreitet der Geist fort von Position zur nächsthöheren Position, bis er im absoluten Geist keine Position mehr erschaffen kann, die ihm gegenüber bleibt. Dann ist der Geist ganz bei sich selbst angekommen und hat nur noch sich selbst zum Gegenstand. Erst dann ist der Geist zu Gott geworden, zu jenem Geist nämlich, der in keiner Relation mehr zu anderen Geistern oder Geistigem steht und deshalb absoluter Geist genannt wird.
Für Hegel ist der absolute Geist kein transzendenter Geist jenseits der Geschichte oder Empirie, der quasi von außen die Geschichte lenkt. Ein transzendenter Gott, der in irgendeinem wie auch immer gearteten Verhältnis zur Geschichte und empirischen Wirklichkeit stünde, wäre ein relativer und gerade kein absoluter Geist.
Der absolute Geist ist Resultat und Ziel des Geschichtsprozesses. er ist der Grund der Geschichte (im teleologischen und nicht im kausalen Sinne).
Der absolute Geist realisiert sich in der Geschichte auf dreierlei Weise:
1. in der Kunst: im Kunstwerk der bildenden Kunst ist sich der absolute Geist erstmals zum Gegenstand geworden, allerdings auf eine äußerliche, nur durch die Sinne wahrnehmbaren Weise.
2. in der Religion: hier ist der absolute Geist in der Innerlichkeit des Menschen präsent als religiösen Erfahrung, als Offenbarung.
3. in der Philosophie: hier vermittelt sich der absolute Geist in der Reflexion des Menschen, in der begreifenden Vernunft. Und erst in der Philosophie (von Hegel!) begreift der absolute Geist sich selbst.
Der absolute Geist ist der Geist, der im und nur im Geist erscheint. Gott existiert nirgendwo anders als in der Kunst, in der Religion und in der Philosophie.
In der politischen Sphäre dagegen verwirklicht sich der Weltgeist (nicht der absolute Geist) in der Geschichte der einzelnen Volksgeister, deren einziger Zweck die Hervorbringung und Erhaltung des Staates sind.
Der Staat als die Sittlichkeit des Volkes
Geschichte beginnt für Hegel erst mit der Staatenbildung der Völker. Im Staat konkretisiert sich die Sittlichkeit des jeweiligen Volkes. Die Idee der allgemeinen Gültigkeit wird erst im Staat konkret: In seiner Verfassung und seinen Gesetzen. Ohne Staat gibt es noch keine Sittlichkeit, keine allgemeine Gültigkeit, keinen allgemeinen Willen, kein Recht.
In der Geschichte des Geistes wird also die Idee der Allgemeinheit erstmals im Staat zur konkreten Wirklichkeit. Davor - vor der Staatenbildung - hat der Geist noch nicht den Charakter der Allgemeinheit. Er ist hier noch zersplittert in partikularistische Interessen und Triebe und ganz und gar noch Natur und unfrei. Erst im Staat befreit der Mensch sich von seiner Natur, indem er im Staat das moralische Gesetz als allgemeingültig setzt. Der Staat macht die Sittlichkeit eines Volkes aus oder die Sittlichkeit eines Volkes spiegelt sich erst im Staat wider.
Die Weltgeschichte ist nun die Geschichte der Völker und ihrer Staaten mit dem Ziel, dass sich in den Staaten die Substanz des Geistes, die Freiheit, verwirklicht. Der vollkommene Staat wäre der Staat, dessen Sittlichkeit darin bestimmt ist, dass alle Staatsbürger sich ihrer Freiheit bewusst im Staat das moralische Gesetz geben, dem sie sich aus Einsicht unterwerfen.
Für Hegel kann interessanter- und notwendigerweise nicht der demokratische Staat der vollkommene Staat sein. Der demokratische Staat ist durch die Meinung der Mehrheit bestimmt, und diese Mehrheit lässt sich wiederum von partikularistischen Interessen leiten und nicht durch die Einsicht in die Notwendigkeit moralischen Handelns. Für Hegel ist die preußische Monarchie das Vorbild eines idealen Staates. Der Staat wird vom König repräsentiert, der an der Spitze des Staates dem Allgemeinwohl verpflichtet ist und als Nichtgewählter von keiner Interessengruppe abhängig ist. Der ideale Staat verhilft dem Allgemeinwillen des Volkes gegen die partikularistischen Interessen der einzelnen Individuen zu seinem Recht.
Kritik
Die unselige völkische Idee des Nationalsozialismus kann sich durchaus mit Recht auf Hegels Philosophie berufen.
1. Nach Hegel hat jedes Volk nicht nur ein Recht auf einen eigenen Staat, es kann auch nur im Staat zu sich selbst kommen.
Für Hegel hat jedes Volk einen eigenen spezifischen Volksgeist, der sich von den Geistern anderer Völker unterscheidet. Volk ist nicht nur einfach Bevölkerung, sondern wird als ein organisches Ganzes betrachtet, das durch Abstammung, Sprache, Kultur und Geschichte bestimmt ist und sich im sogenannten Volksgeist widerspiegelt (die Reduktion des faschistischen Volksbegriffs auf Rassezugehörigkeit kann sich allerdings nicht auf Hegel berufen). Eine multikulturelle Gesellschaft hat im Hegelschen Denken keinen Platz.
2. Der Volkswille -und das ist das Entscheidende - ist für Hegel nicht die populistische Meinung der Mehrheit und kann deshalb auch nicht durch demokratische Verfahren abgefragt werden. Der Volkswille ist die Vernunft des Volkes, die im Staat d.i. in der staatlichen Führung zum Ausdruck kommt.
3. Nur der Politiker macht Geschichte, der an der Spitze des Staates dem vernünftigen Willen des Volkes zum Durchbruch verhilft. Doch was ist die Vernunft des Volkes? Fällt sie utilitaristisch mit dem zusammen, was für das jeweilige Volk nützlich ist? Und kollidiert der Wille des Volkes mit dem Volkswillen eines anderen Volkes? Und in welcher Leitfigur bündelt sich der Volkswille? Etwa in Hitler oder Milosevic?
4. Für Hegel besteht die Freiheit eines souveränen Staates darin, auch Krieg gegen einen anderen Saat zu führen. Eine über den Staat hinausgehende Sittlichkeit gibt es für Hegel nicht, zumindest nicht auf der politischen Ebene der Weltgeschichte (wohl auf der Ebene der Philosophie).
5. Der Staat einer multikulturellen Gesellschaft oder auch ein denkbarer Weltstaat wäre nur unter Aufgabe des Volksbegriffs möglich
Für Hegel dagegen ist auch der fortgeschrittenste Staat noch an sein Volk gebunden und dadurch von beschränkter Moralität. Kein Staat verlässt die konventionelle Moralstufe und gegenüber anderen Staaten und Völkern behauptet er eine imperialistische Moral, die die Sittlichkeit anderer Völker nicht gelten lässt.
Ausrottung der Indianer
So sind die indianischen Völker ihrer Sittlichkeit und Staatlichkeit ohne moralische Skrupel seitens der europäischen Eroberer beraubt worden: für Hegel ein Fortschritt aus der Sicht des Weltgeistes, der sich im Staat des führenden Volkes in der Geschichte konkretisiert, aber - auch für Hegel - ein Skandal im moralischen Empfinden des Menschen.
Hitlers Macht
Wie sind Hitler und Milosevic aus Hegelscher Sicht zu beurteilen? Zweifellos hat Hitler seine Eroberungspolitik des Ostens als notwendig vernünftiges Ziel des deutschen Volkes verstanden und sich selbst als legitimer Vollstrecker des deutschen Volkswillens. Und nicht nur Hitler hat das so gesehen. Die enorme Macht hat Hitler überhaupt nur dadurch bekommen, dass das Volk in seiner Mehrheit ihm willig folgte. In der Geschichte des deutschen Volkes hat es nie einen Mann gegeben und wird es wahrscheinlich nie wieder einen geben, in dem sich der Wille eines ganzen Volkes auf so extreme Weise bündeln ließe. Hitler erfüllt alle Bedingungen, die Hegel an die Heroen der Geschichte stellt. Sie repräsentieren nicht einfach nur die Mehrheitsmeinung des Volkes und halten sich an das Gesetz und die Moral des Volkes, im Gegenteil: sie durchbrechen geltendes Recht - hier das demokratische Recht der Weimarer Republik - , um neues Recht zu setzen, eine neue Sittlichkeit eines neuen Staates, in der sich die Freiheit des ganzen Volkes widerspiegelt, und das geschieht auf gespenstische Weise: ein ganzes Volk unterwirft sich schrankenlos und durch alle sozialen Klassen hindurch bedingungslos dem Willen eines Einzigen (EIN Reich, EIN Volk, EIN Führer) und zwar freiwillig: die Unterwerfung als Akt der Freiheit! Und diejenigen, die sich nicht unterwerfen, werden ausgeschaltet oder liquidiert.
Der totalitäre Staat und seine perverse Sittlichkeit
Der totalitäre Staat entsteht, in dem der Wille eines ganzen Volkes (und nicht nur der Wille einer Klasse) am reinsten zum Ausdruck kommt. Der abweichende Wille des Einzelnen, einer Minderheit wird rechtlos . Der Abweichende wird zum Verfolgten. Unfreiheit existiert nur für ihn, den Andersdenkenden. Deshalb ist es nicht ganz richtig, den totalitären Staat als Staat der Unfreiheit zu bezeichnen. Der totalitäre Staat ist die perverse Sittlichkeit der Freiheit, indem die Mehrheit des Volkes sich freiwillig dem Willen des Führers unterwirft und mit jeder Schandtat der Führung einverstanden ist "Führer befiehl, wir folgen!"
Hitler hat sein Volk nicht in den Untergang getrieben. Das Volk ist ihm in den Untergang gefolgt!
Eben sowenig treibt Milosevic sein serbisches Volk in den Ruin, es folgt ihm in den Ruin. In Milosevic bündelt sich der großserbische Volksgeist. Milosevic aufgeben hieße für die Serben, den Traum vom großserbischen Reich aufzugeben.
"Die Serben sind groß oder nichts" lautet die Maxime von Milosevic. Die Mehrheit der Serben denkt ebenso, und nur deshalb hat er immer noch die Macht in Belgrad.
Die Unmoral des völkischen Geistes und seiner Führer
Der totalitäre Staat ist sicherlich die beste Staatsform für ein Volk, seinen imperialistischen Willen gegen andere Völker durchzusetzen. Aber wie lässt sich dieser Imperialismus rechtfertigen? Sicherlich immer nur aus der Binnenmoral des Volkes.
Aber jede Binnenmoral ist eine beschränkte Moral und tritt in den Widerspruch zur allgemeinen Vernunft, die sich als staatenübergreifende Instanz und damit als nachkonventionelle Stufe der Moral auch in der politischen Wirklichkeit bilden muss und - im Widerspruch zu Hegel- auch bildet (Internationales Tribunal gegen Kriegsverbrechen).
Der Unrechtsstaat im Hegelschen Denken
Hegel hat die Entwicklung zum totalitären Staat nicht vorausgesehen. Der totalitär völkische Staat wird anderen Völkern gegenüber zum bösen Staat.
Wie kann der Weltgeist im bösen Unrechtsstaat zu sich selbst kommen, im Staat, in dem die Freiheit zum Bösen zur Sittlichkeit geworden ist?
Ein Staat, der zu Auschwitz führt, ist ein böser Staat, auch wenn die faschistische Binnenmoral die Vernichtung der Juden für moralisch hält. Ebenso ist der serbische Staat, der zur Vertreibung der Kosovo-Albaner führt, ein böser Staat, selbst wenn die Vertreibung im serbischen Interesse moralisch gerechtfertigt wird.
Zur Bosheit gehört die Freiheit, sie zu wählen und das Bewusstsein, das moralische Gesetz zu brechen.
Die Nazis wussten, dass sie mit der Judenvernichtung das universelle moralische Recht der Menschlichkeit brechen. Dennoch wählten sie diesen moralischen Rechtsbruch, weil sie ihre faschistische Binnenmoral höher stellten als das universelle Menschenrecht.
Auch Milosevic weiß, dass seine Politik der Vertreibung Menschenrechtsverletzung ist, aber er nimmt sie in Kauf zugunsten einer völkischen Binnenmoral, die er über das Menschenrecht stellt.
Nicht die Bosheit einzelner Menschen widerlegt Hegels Geschichtstheorie, dafür aber das Faktum, dass ein ganzes Volk in Freiheit einen bösen Staat, einen Unrechtsstaat wählt. Der faschistische Staat ist der Staat der Unmoral. Mit seiner Existenz wird die These Hegels fragwürdig, dass das wirklich Existierende auch immer das Vernünftige ist. Auschwitz macht es unmöglich, die Geschichte als eine Rechtfertigung Gottes zu betrachten. Der Weltgeist kann nicht über Auschwitz zu sich selbst gelangen (vergl.) das Paper über Hegel und Holocaust)
b) das kausaldeterministische Geschichtsmodell
Ein Beispiel eines nichtlinearen und gleichzeitig nicht teleologischen Geschichtsmodells finden wir bei P.Kafka vor Begründe an Hand des Papers zu Kafka, warum das der Fall ist. Kafkas kausaldeterministisches Erklärungsmodell geht allerdings in ein teleologisches Erklärungsmodell über. An welcher Stelle erfolgt dieser Übergang? Und warum erfolgt dieser Übergang?
c) das teleologische und gleichzeitig kausaldeterministische Geschichtsmodell von Marx
Begründe, inwiefern die Marxsche Geschichtstheorie eine Verschränkung von teleologischer und kausaler Erklärung ist.

Betrachten wir einmal die Marxsche Geschichtstheorie aus der Sicht der Systemtheorie, wie wir sie durch P.Kafka kennengelernt haben:

Marx hat im Kapital den Attraktor der bürgerlichen Gesellschaft entdeckt, der dem freiheitlichen Gezappel der Individuen eine vorausberechenbare Bahn gibt, aus der das einzelne Individuum vielleicht herausspringen kann, nicht aber die Mehrheit der Menschen. Das wahrscheinlichste Verhalten aller freien Individuen der bürgerlichen Gesellschaft verläuft nach den Gesetzen des Kapitals: es bildet und erzeugt den Attraktor, der wiederum auf das Verhalten der Individuen zurückwirkt: ein echter Teufelskreis.
Das Problem: das Kapital ist kein zyklischer Attraktor, in dem die Gesellschaft eine langlebige, ideale Gestalt gefunden hat, sondern eine dynamische Todesspirale mit apokalyptischem Ende, vergleichbar dem schwarzen Loch im Zentrum der Galaxie, das die ganze Galaxie verschlingen wird.
Rettung besteht nicht, solange die Menschen blind in ihrem Tun tagtäglich den kapitalistischen Attraktor erzeugen, um den sie kreisen.
Solange die Menschen das Kapital erzeugen, sind sie dem Kapital auch verfallen.
Das Verhalten der Menschen im bürgerlichen Zeitalter ist teleologisch und kausaldeterminiert zugleich: teleologisch, weil die Menschen den Attraktor selbst erzeugen, nach dem sie sich richten und kausaldeterminiert, weil der Attraktor die politische und ökonomische Bahn ihres Verhaltens bestimmt. Mathematisch ist der Attraktor als Algorithmus beschreibbar, der die zukünftige Bahnrichtung des Spiralattraktors berechnen kann, nicht allerdings das wirkliche gesellschaftliche Verhalten, das sich immer nur in der Nähe des Attraktors aufhält und um die Attraktorbahn herumzappelt.
Den wirklichen Geschichtsverlauf können wir mit einem mäandernden Fluss zum Meer hin vergleichen. Die Flussrichtung ändert sich ständig. Nie hält sich der Fluss auf der Attraktorbahn zum Meer auf. Dennoch wird die Flussrichtung vollständig vom Atmtraktor bestimmt: irgendwann und irgendwo erreicht der Fluß das Meer, solange es ein Gefälle gibt.
Die Pointe beim Geschichtsfluss ist, dass sein Motor, sein Gefälle erst durch die kapitalistische Gesellschaft erzeugt wird. Eine nichtkapitalistische Gesellschaft verwandelt den Fluss in einen See, der nicht mehr fließt.
Eine Gesellschaft des Siebten Tages hat Peter Kafka diese Gesellschaft genannt,
  • eine Gesellschaft, die ein Bündnis für Nichtarbeit schafft
  • eine Gesellschaft, in der die Konkurrenz um die Lebensgrundlagen nicht mehr nötig ist
  • eine klassenlose Gesellschaft, in der es keinem Menschen mehr erlaubt ist, sich die Lebensgrundlagen anderer Menschen anzueignen
  • eine Gesellschaft der Ruhe, die dem Großen und Schnellen keinen selektiven Vorteil mehr gibt
  • eine Gesellschaft, in der das Geld nicht mehr zum Kapital werden kann, weil es keine Zinsen mehr gibt
  • eine ökologische Gesellschaft, deren Ökonomie das ökologische Gleichgewicht erhält
Die Gesellschaft des Siebten Tages - Marx nennt sie die kommunistische Gesellschaft - hätte nicht mehr das Kapital zu ihrem Attraktor. Sie wäre aus dem tödlichen Attraktor des Kapitals herausgesprungen und hätte einen neuen zyklischen Attraktor gefunden. In der Organisation des Siebten Tages findet die nicht mehr kapitalistische Gesellschaft eine ideale Gestalt, die in Harmonie zur Umwelt eine langlebige Existenzform begründet.
Aber ist die Gesellschaft des Siebten Tages nicht bloß eine Utopie? Wie wahrscheinlich ist der Sprung aus dem Attraktor des Kapitals hin zum Attraktor gesellschaftlicher Vernunft? Ist es nicht wahrscheinlicher, dass die Mehrheit der Menschen blind dem Attraktor des Kapitals bis zur Apokalypse hin folgen wird?
Diese Fragen sind falsch gestellt, weil sie auf empirische Weise nicht beantwortbar sind. Empirisch bestimmbar, d.h. kausaldeterminiert ist das Verhalten des Menschen nur, solange er sich im Attraktor des Kapitals bewegt. Sein Herausspringen aus dem Kapitalattraktor ist dagegen nicht mehr determiniert. Es wäre ein Akt der Freiheit. Solange er sich im Bereich des Kapitalattraktors aufhält, hat er sich zur Unfreiheit verdammt und verhält sich, statt zu handeln. Seine Unfreiheit ist also -ganz im Sinne Sartres - noch eine gewählte, deren Wahl er allerdings nicht durchschaut. Aufgeklärt haben die Menschen jederzeit die Möglichkeit, ihre Unfreiheit zu beenden.
Das Prinzip "Wahrscheinlich geschieht Wahrscheinlicheres" hat nur Gültigkeit, solange sich der Mensch quasi naturwüchsig verhält und seine Freiheit nicht in Anspruch nimmt.
Die Gesellschaft des Siebten Tages ist weder ein zwangsläufiges Produkt der Geschichte, das sich naturwüchsig aus dem Zerfall des Kapitalismus entwickelt, noch ist sie die prinzipiell unerreichbare Utopie.
Zwangsläufig allein ist die Krise, in der die Menschheit gerät, wenn sie im Attraktor des Kapitals verbleibt.
Die Alternative zum Scheitern der Menschheit ist die Organisation der Gesellschaft nach den Prinzipien des Siebten Tages.


Das Marxsche Geschichtsmodell in der Geschichte der Epistemologie

 
Aus marxistischer Sicht ist die Marxsche Theorie die dialektische Gegenposition zur Hegelschen Position. Marx reiht sich in die philosophische Grundrichtung des Materialismus ein und setzt sich damit gegen die philosophische Tradition des Idealismus ab.
die Aporien der dualistischen Weltbildes
Der Streit zwischen Materialismus und Idealismus ist überhaupt nur in einem Modell von Philosophie zu führen, das vor Kant die Erkenntnisheorie bestimmt hat: im sogenannten Dualismus.
Descartes zerteilt die Welt in zwei voneinander unabhängige Sphären: in die Welt der materiellen Dinge (res extensa=die im Raum anzutreffenden Dinge) und in die Welt der immateriellen Gedanken (res cogitans).
Im Dualismus entsteht automatisch das Problem, wie die beiden Welten aufeinander bezogen sind. Sind die Gedanken Abbilder der materiellen Dinge?(Position des Materialismus) Oder sind die materiellen Dinge Abbilder von Ideen? (Position des platonischen Idealismus) Oder sind die materielle und ideelle Welt zwei Parallelwelten, die überhaupt nicht aufeinander bezogen sind (Position des epistemologischen Parallelismus)?
die kopernikanische Wende der Philosophie
Die Streitfrage läßt sich im dualistischen Weltbild nicht lösen.
Mit der sogenannten kopernikanischen Wende der Philosophie, die durch Kant eingeleitet wird, verschwindet das aporetische (=nicht lösbare) Problem des Dualismus. Die empirische Erfahrung spiegelt nicht die Welt wider, wie sie an sich ist, sondern nur, wie sie dem menschlichen Betrachter, dem Subjekt, erscheint. Welterkenntnis ist -transzendental gesehen- immer schon subjektiv. Indem die Welt angeschaut und begriffen wird, wird sie immer nur durch die Brille
d e r Anschaung und d e r Begriffe gesehen, die dem Menschen zur Verfügung stehen. Nach Kant ist also denkbar, dass die Welt auch mit einer anderen Anschaung betrachtet und mit anderen Begriffen begriffen werden kann (Wittgenstein hat dies in seinen Sprachspielen zu zeigen versucht). Die Philosophie nach der kopernikanischen Wende versucht zu begründen, dass die Welterkenntnis von einer Sichtweise abhängt, die selbst nicht aus der Empirie abgeleitet werden kann (die Suche nach den transzendentalen Bedingungen der Erkenntnis)
die Unerkennbarkeit der Welt an sich
Die Welt außerhalb unserer Anschaung und Begriffe ist die Welt an sich, und über diese können wir logischer Weise keine Aussagen treffen. Die von uns betrachtete Welt ist also immer schon unsere Welt, die sich nach unseren Kategorien aufschlüsselt. Hegel hat diese transzendentale Erkenntnis in dem Satz ausgedrückt: das Denkfremde (das Kant noch als unerkennbares Ding an sich zu denken versucht) läßt sich prinzipiell nicht denken.
Philosophie hat es deshalb nur und auschließlich nur mit Gedanken oder Ideen zu tun. Was vor dem Denken liegt, kann nicht gedacht werden. So kann Hegel den Satz formulieren: Jede Philosophie, auch die materialistische Philosophie, ist Idealismus und eine Gegenposition zum Idealismus schlechterdings unmöglich.
Wenn wir den Marxschen Theorieansatz nicht als Rückfall in vorkantianische Postionen sehen wollen (und der Vulgärmarxismus ist zweifellos ein solcher Rückfall), müssen wir die Marxsche Kritik an Hegel anders fassen als in der Abkehr vom Idealismus zum Materialismus.
das epistemologische Modell von Marx

die Kritik an Hegel

die Praxis als transzendentale Bedingung des Geistes

Marx fällt nicht hinter den philosophischen Erkenntnisstands von Kant und Hegel zurück.Im Gegenteil: er setzt ihn voraus. Er stimmt mit Hegel völlig darin überein, dass die Welt, so wie sie sich uns darstellt, nur eine Welt unserer Begriffe sein kann. Es ist indes nicht der Geist, der diese Begriffe bedingt, sondern die gesellschaftliche Praxis, das Handeln der Menschen. Die Praxis und nicht der Geist ist die transzendentale Bedingung des Geistes. Die transzendentalen Bedingungen des Geistes lassen sich nicht aus dem Geist generieren, wie Hegel es tut. Sie sind dem Geist transzendent, wiewohl sie ihn bedingen. Der Geist selbst kann also seine transzendentale Bedingung nicht einsehen. Wie aber kann dann diese transzendentale Bedingung gedacht oder erkannt werden, würde Hegel gegen Marx fragen.
die Erkennbarkeit der transzendentalen Bedingungen des historisch beschränkten Geistes aus der Perspektive eines späteren Geistes
Die Antwort von Marx her ist klar und bestechend: der betrachtende und zu betrachtende Geist ist immer ein historischer und damit beschränkter Geist. Der in der historischen Wirklichkeit sich geltend machende Geist eines Menschen, einer Klasse, eines Volkes, einer Zeitepoche kann prinzipiell nicht seine transzendentale Bedingung (die Bedingung seiner Möglichkeit) erkennen. Deutlich erkennbar aber sind diese transzendentalen Bedingungen einem anderen, historisch späteren Geist. Kein Zeitgenosse kann seinen Horizont überblicken. Dies kann nur der Spätere, der ihn schon verlassen hat.
Die historische Entwicklung von einem Horizont zum nächsten ist nun nicht die Tat der Logik, auch nicht der dialektischen Logik, sondern gesellschaftliche Tat. Am Anfang ist nicht der Logos, der die Tat begründet(Evangelium des Johannes), sondern die Tat, die den Logos begründet (Goethes Faust).
die transzendentalen Bedingungen der Hegelschen Philosophie
So ist auch Hegels Philosophie, die ganze Welt aus dem Geist zu generieren und die Weltgeschichte als den Weg des Weltgeistes zu sich selbst aufzufassen, kein Denkfehler, sondern dem historischen Horizont Hegels geschuldet, aus dem heraus die Weltgeschichte so begriffen werden konnte.
Anders als Hegel sieht Marx aus einem späteren Horizont die transzendentalen Bedingungen der Hegelschen Philosophie, die nur in der bürgerlichen Gesellschaft zu finden sind.
die entfremdete Gesellschaft als historische Bedingung der Marxschen Philosophie

das Sein bestimmt das Bewußtsein
Erst mit der kapitalistischen Gesellschaft verliert die philosophische Vernunft ihre dominante Stellung und pervertiert zum Sachgesetz des Marktes, das fortan die gesellschaftliche Praxis determiniert. Erst jetzt zeigt sich die Ohnmacht der Vernunft und die historische Beschränktheit des Hegelschen Standpunkts.
Dass die vorrationale gesellschaftliche Praxis das Bewußtsein der Gesellschaft bestimmt und nicht umgekehrt (das Sein bestimmt das Bewußtsein), konnte überhaupt erst auffallen, als sich die ökonomische Vernunft des Kapitals von der philosophischen Vernunft abspaltete. Solange die Vernunft die Praxis der Menschen bestimmt, ist sie von ihr gar nicht unterscheidbar. Nur eine defizitäre von der Vernunft entfremdete gesellschaftliche Tätigkeit kann dieser erst auffallen.
Dass Marx also seine Blickrichtung ändert und auf die gesellschaftliche Praxis schaut, um deren ökonomische Gesetze zu finden, hat seine Ursache in den gesellschaftlichen Verhältnissen, die von einer fortschreitenden Entfremdung des Menschen von seiner ihn ausmachenden Tätigkeit charakterisiert sind (die entfremdete Arbeit in der modernen Industriegesellschaft).
das Bewußtsein bestimmt das Sein
Allerdings fällt diese gesellschaftliche Entfremdung nur dem Philosophen auf, der in der philosophischen Tradition des Deutschen Idealismus bzw der Aufklärung steht: Wer über die philosophischen Begriffe der Aufklärung wie Freiheit, Autonomie, Selbstbestimmung, Mündigkeit nicht verfügt, der kann die entfremdete gesellschaftliche Wirklichkeit gar nicht mehr empirisch wahrnehmen.
Hier zeigt sich deutlich, dass die jeweils verfügbaren Begriffe die Empirie bestimmen und nicht die Empirie die Begriffe (der hermeneutische Zirkel: man sieht nur das, was man begreift).
die transzendentale Bedingung der Marxschen Kapitalismuskritik: die Philosophie der Aufklärung
Deshalb ist es ebenso richtig zu sagen: Die Philosophie der Aufklärung ist die transzendentale Bedingung der Marxschen Kapitalismuskritik, was die Marxsche Theorie nicht mehr thematisiert und auch nicht thematisieren kann: sie sieht die transzendentale Bedingung kapitalistischer Gesellschaft, die Entfremdung, was der bürgerlichen Philosophie verborgen bleibt, sieht aber nicht die philosophische Brille, aus der heraus sie die Entfremdung als solche erkennt.
So bleibt es Marx zutiefst verborgen, dass seine Theorie nur aus der Vernunftsphilosophie verständlich wird und das seit Descartes geltende Paradigma der Subjektsphilosophie gar nicht verlässt. Marx selbst glaubt in seiner Kritik an der Philosophie einen Standort jenseits der Philosophie gefunden zu haben. Heute dagegen sehen wir deutlicher, dass die Marxsche Kritik an der Philosophie kein neues Paradigma der Philosophie begründet, sondern die Subjektsphilosophie unter den Bedingungen gesellschaftlicher Entfremdung weiter fortentwickelt.
Eines ist sicher: solange die Menschheit am philosphischem Paradigma der Vernunft festhält, solange wird die Marxsche Kapitalismuskritik als "Kritik der bürgerlichen Vernunft" ein ewig schmerzender Pfahl im Fleische der Philosophie bleiben.
Der Typus der Marxschen Theorie: Transzendentaltheorie der bürgerlichen Gesellschaft

entfremdete Arbeit in subjektiver Sicht
Die Marxsche Theorie ist eine Transzendentaltheorie der bürgerlichen Gesellschaft. Sie beschäftigt sich mit den Bedingungen der Möglichkeit bürgerlicher Gesellschaft.
Die transzendentale Bedingung bürgerlicher Gesellschaft ist die entfremdete Arbeit. Die entfremdete Arbeit ist mehr als nur die von Fremden angeeignete eigene Arbeit. Die Aneignung fremder Arbeit ist das Prinzip aller Klassengesellschaften, in denen sich die politische Klasse die Arbeit der produktiven Klasse aneignet. Entfremdete Arbeit ist Arbeit, in der sich der Arbeitende nicht mehr finden kann, in der er seine Individualität nicht mehr ausdrücken kann, die für den Arbeitenden selbst den Charakter der Fremdheit hat, die sein Selbst nicht mehr tangiert. Entfremdete Arbeit ist industrielle Arbeit von Maschinen, die der Arbeitende nur noch bedient, statt mit ihnen schöpferisch umzugehen und Eigenes zu gestalten. Subjektiv gesehen, also vom Arbeitenden aus betrachtet, ist entfremdete Arbeit eine Tätigkeit, die von jeder Fähigkeit und Individualität des Arbeitenden "abstrahiert"(Marx).
entfremdete Arbeit als objektive Qualität der gesellschaftlichen Arbeit
Aber auch diese subjektive Sicht charakterisiert nur die industrielle, noch nicht die kapitalistische Produktionsweise.
Eine objektive gesellschaftliche Qualität bekommt die Entfremdung der Arbeit erst dann, wenn das Ziel der Produktion der Profit und nicht mehr der Nutzen für die Menschen ist. Erst in diesem Moment bekommt die industrielle Produktion einen Eigenwert. Ziel der Produktion ist nunmehr die Produktion selbst. Es kommt nicht mehr darauf an, was produziert wird, sondern dass produziert wird.
Arbeit und zwar gesellschaftliche Arbeit in dieser höchsten und auch absoluten Form der Entfremdung ist das Kapital. Kapital ist nicht einfach nur Geld, also Anhäufung abstrakt menschlicher Arbeit, sondern Geld erzeugendes Geld, d.h. Geld, das einen Produktionsgang in Gang setzt und ein Produkt erzeugt, das über den Markt verwertet mehr Geld einbringt, als es gekostet hat. Wenn das Ziel des Produktionsprozesses mehr Geld ist und dieses Mehr-Geld zum Ausgangspunkt zu einem erneuten Produktionsprozesses wird zu mehr Mehr-Geld usw, so haben wir jenen Motor vor uns, der die kapitalistische Produktionsweise bestimmt.
Kapital ist nichts anderes als die zum Selbstzweck gewordene entfremdete Arbeit, die zum Subjekt, zum Agens der Gesellschaft wird und das eigentliche Subjekt, den Menschen, zum Objekt macht. Es tritt ein, was Marx die Subjekt-Objekt-Verkehrung nennt.
In dem Moment, wo das Kapital zum Subjekt der Geschichte wird, tritt der Mensch gleichsam von der Bühne ab. Nicht mehr die Menschen machen die Geschichte, nicht die großen Persönlichkeiten, sondern die Sachgesetze des Marktes bestimmen fortan den Handlungsspielraum der Politiker.
Im Kopf dagegen spielt sich dieser Sachverhalt in völlig verkehrter Weise wider. Hier sind es die Politiker und deren Moral oder Unmoral, die die Politik bestimmen.
So erscheint der Kosovo- Krieg in den Köpfen des Westens als der gerechte Krieg einer universalistischen Moral gegen die faschistische Binnenmoral eines Milosevics, in den Köpfen der Serben als gerechter Verteidigungskrieg zur nationalen Selbstbehauptung.
ideologische Sicht contra transzendentale Einsicht am Beispiel des Kosovo-Krieges
Betrachten wir dagegen den Balkankrieg unter dem Gesichtspunkt der Kapitalverwertung, so erscheint der Kosovo-Krieg in einem ganz anderen Licht: Die Auflösung des Vielvölkerstaats Jugoslawien ist selbst nur Ausdruck eines ökonomischen Verteilungskampfes, in dem die Serben auf grund ihrer geographischen Hinterlandlage den Kürzeren gezogen haben und nun verzweifelt bemüht sind, ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt durch Stärkung des Nationalstaates zu erhalten. In einer solchen Situation empfindet jeder Nationalstaat auf dieser Welt jede Sezessionsbestrebung als existentielle Bedrohung(So die Nordamerikaner gegen die Sezession der Südstaaten, die Türken gegenüber den Kurden, die Russen gegenüber den Tschetschenen, etc) Unter Kapitalverwertungsbedingungen erscheint auch der moralische Krieg der Nato gegen Milosevic in einem ganz anderen, durchaus irritierenden Licht: die Aktien in der Wallstreet boomen. Die Rüstungsindustrien verdienen sich dumm und dusselig. Der Euro dagegen sinkt. Ein Schuft, wer Böses dabei denkt?
In Wahrheit sind es kapitalistische Marktstrategien zur Erhaltung und Erlangung von Marktanteilen im globalen Verteilungskampf, die die Politik der Staaten und damit die Politik aller Politiker bestimmen, die Politik Clintons ebenso wie die von Milosevic. Das Perverse ist, dass diese ökonomischen Interessen in den Köpfen der Politiker gar nicht auftauchen und sie deshalb durchaus mit Recht die ökonomische Motivation ihrer Politik als infame Unterstellung zurückweisen können.
Wer Clinton unterstellt, sein Kosovo-Krieg habe nur das Ziel, den Dollar auf Kosten des Euro zu stärken, stößt auf breites Unverständnis. Ich unterstelle, dass Clinton nicht so denkt. Dennoch hat der Krieg zwangsläufig diese Folge und liegt objektiv mehr im Interesse der Amerikaner als im Interesse der Europäer. Zwar ist es die Moral, mit der wir unsere Handlungen begründen und unseren Krieg gegen Milosevic rechtfertigen. Bestimmt aber werden unsere Handlungen durch ökonomische Interessen, die wir selbst nicht durchschauen.
Das ist der Grund, warum Marx unser Bewusstsein Ideologie nennt. Unsere Moral, mit der wir unsere Handlungen begründen, verdeckt und verschleiert die kausalen Determinanten unserer Handlungen (wohlgemerkt nicht die Motive, die werden durch unser Bewusstsein gesetzt und sind moralischer oder unmoralischer Natur).
die transzendentale Ideologiekritik: zum Verhältnis von Ideologie und Ideologiekritik
Ideologie und Ideologiekritik liegen epistemologisch nicht auf derselben Ebene. Das ideologische Bewusstsein erkennt seine transzendentalen Bedingungen nicht. Es fällt mit dem empirischen Bewusstsein des Bürgers zusammen und artikuliert sich wissenschaftlich in der Position des sogenannten Positivismus. Der Positivismus versucht alle nicht-empirischen Aussagen als Metaphysik aus der Wissenschaft auszuschließen Er versteht sich streng empiristisch.
Ideologiekritik dagegen ist Transzendentalphilosophie. Ihr Gegenstand sind die transzendentalen Bedingungen der Ideologie, die nicht Gegenstand des empirischen, hier ideologischen Bewusstseins sind. So wie das Auge als transzendentale Bedingung des Sehfeldes im Sehfeld nicht vorkommt(das paradigmatische Bild Wittgensteins zur Transzendentalphilosophie), so kommt die entfremdete Arbeit im bürgerlichen Horizont nicht vor(genauer gesagt: sie erscheint im bürgerlichen Bewusstsein nur als eine subjektive Erfahrung, aber gerade nicht in ihrer objektiven Vergegenständlichung als Kapital). Zur Ideologiekritik bedarf es eines transzendierenden Schrittes aus dem bürgerlichen Horizont hinaus. Ideologiekritik ist deshalb Transzendentalphilosophie. Sie setzt einen metabürgerlichen Standort voraus.
Verständnisaporien: die Vermengung von empirischer und transzendentaler Sichtweise
Verstehensprobleme entstehen in der Regel dann, wenn die empirische und die transzendentale Ebene in der Argumentation vermengt werden, z.B. wenn kausale Verhaltensdeterminanten mit moralischen oder unmoralischen Motiven verwechselt werden (vergl. Ausführungen zu Clinton und Milosevic). Auch die großen Wissenschaftsdispute beruhen in der Regel darauf, dass die eine Partei von der empiristischen Position her argumentiert und die andere von der transzendentalen. So geschehen in dem berühmten Positvismusstreit in den 60er Jahren ( Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule contra Positivismus in den Sozialwissennschaften).
Der metabürgerliche Standort als Voraussetzung zur Erkenntnis des Bürgertums
Die bürgerliche Gesellschaft kann erkenntnistheoretisch gesehen erst von einem metabürgerlichen Standort zum Gegenstand der Erkenntnis werden. Dem Bürger selbst kann sein bürgerlicher Horizont nicht transparent werden. Er sieht das Vergangene als Vorstufe zu seiner Gegenwart, aber nicht mehr die Vergänglichkeit des ihm Gegenwärtigen. Seine eigene Geschichtlichkeit könnte er nur begreifen, wenn er aus seiner Geschichte heraustreten könnte. Aber das gelingt ihm genau so wenig wie Münchhausen, der sich an den Schopf greifend aus dem Sumpf herausziehen möchte. Der metabürgerliche Standort verlangt auch das Abstreifen bürgerlicher Sichtweisen.
Der transzendental-historische Standort von Marx
Der metabürgerliche Standort von Marx ist ein transzendental-historischer Standort, aber kein metahistorischer. Marx steht nicht über der Geschichte. Auch sein transzendentaler Blickwinkel ist immer noch ein geschichtlicher und damit zeitbedingter und lässt ihn nur das sehen, was zu seiner Zeit im transzendentalen Blickwinkel sichtbar war. Das ist mehr, sehr viel mehr als die Bürger zu seiner Zeit empirisch wahrnahmen und auch heute noch wahrnehmen, aber logischerweise weniger, als was wir heute aus transzendental-historischer Perspektive sehen(vergl. Rolle des Sozialstaats in seiner Funktion als ideeller Gesamtkapitalist).
Das eigentlich Erstaunliche aber ist, dass Marx schon vor 150 Jahren einen metabürgerlichen Standort erreicht hat, der einen epistemologisch genügend großen Abstand bot, um das Wesen der kapitalistischen Gesellschaft zu begreifen.
Indem Marx die transzendentale Bedingung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die entfremdete Arbeit, entdeckte und aufdeckte, hat er gleichzeitig das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft begriffen und deren Mechanismus, wie die bürgerliche Gesellschaft funktioniert. Es lassen sich nunmehr die ökonomischen Gesetze finden, nach denen dieser Mechanismus arbeitet, vor allem auch ein Gesetz, wie sich dieser Mechanismus, das Kapital, im Laufe seiner globalen Verbreitung weiterentwickelt, in welche Krisenzyklen die bürgerliche Gesellschaft gerät, an welche Schranken sie stößt, ob und warum der Kapitalismus zum Krieg gegen Mensch und Natur und in die Apokalypse führt.
Die Prognostizierbarkeit von Gechichte
Mit der transzendentalen Erkentnis der bürgerlichen Gesellschaft ist deren Entwicklungslogik vom Ursprung bis zum Ende prinzipell begreifbar und aud dialektische Weise darstellbar geworden. Die Entwicklungslogik der bürgerlichen Gesellschaft fällt indes nicht mit der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft zusammen. Ob sich die bürgerliche Gesellschaft gemäß ihrer Logik entfaltet, ob sie sich nur teilweise oder ganz entwickelt, auf bestimmten Stufen lange verweilt oder gar auf niedere Stufen zurückfällt, das zeigt die Geschichte und kann von der Dialektik nicht vorausgesagt werden. Ist das dialektisch zu rekonstruierende Resultat schon historisch eingetreten, so kann die Dialektik die notwendigen Stufen aufzeigen, die zu diesem Resultat geführt haben. Wird dagen das Resultat in die noch nicht eingetretene Zukunft verlegt, so kann die Dialektik aufzeigen, über welche Stufen die geschichtliche Entwicklung gehen muß, um das unterstellte Resultat zu erreichen.
Das Ende der bürgerlichen Geschichte
Für Marx beginnt die bürgerliche Geschichte mit der Entstehung der entfremdeten Arbeit, dementsprechend endet sie mit der Aufhebung der entfremdeten Arbeit, d.h. mit der Abschaffung des Kapitals. Seine Dialektik zeigt, wie das historische Resultat der bürgerlichen Gesellschaft, das Kapital, aus dem Widerspruch zwischen konkreter und gesellschaftlich abstrakter Arbeit über die ökonomischen Formen Ware und Geld in der Tauschgesellschaft entstanden ist und die Logik des Prozesses, wie das Kapital sich durch sich selbst aufhebt (Tendenzieller Fall der Profitrate). Wenn auch die Dialektik nicht den Weg der Geschichte festlegen kann, so kann sie immerhin die Richtung erfassen bzw das Ziel, auf das sich die bürgerliche Gesellschaft zubewegt (Beispiel: mäandernder Fluss zum Meer) Marx prognostiziert also den Zusammenbruch des Kapitals und glaubt die Logik dieses Prozesses in seiner Dialektik nachweisen zu können.
die Dialektik
Die Logik der Entwicklung ist die Dialektik. Das Prinzip jeder Entwicklung ist der Widerspruch, der das Erreichte(A) in Frage stellt und negiert und eine Gegenposition(B) entwickelt. Eine weitere Entwicklung setzt erst dann ein, wenn eine neue Position(C) gefunden wird, in der der Widerspruch zwischen den Positionen A und B aufgehoben wird (aufheben im Sinne von negieren und konservieren =Negation der Negation). Die Entwicklung bleibt aber nicht bei C stehen. Zu C bildet sich wiederum eine Gegenposition D, deren Widerspruch wiederum in Position E aufhebbar ist usw. Die Entwicklung endet theoretisch erst in der Position, zu der sich kein Widerspruch mehr denken lässt.
Die Dialektik als Logik teleologischer Prozesse
Dialektik findet nur in Prozessen statt, die ein Resultat haben. Prozesse, die kein Resultat haben, lassen sich nicht dialektsch darstellen. Wird die Geschichte der Menschen als ein in die Zukunft offener Prozess aufgefasst, so kann sie prinzipiell nicht mehr dialektsch begriffen und das heißt überhaupt nicht verstanden werden. Wird ihr ein Resultat hypothetisch unterstellt, so kann auch die Dialektik, die zu diesem Resultat führt, nur eine hypothetische Geschichte beschreiben.
die" falsche" und die "richtige" Dialektik

der beschränkte Anspruch der Sozialwissenschaft
MaW die Dialektik kann nichts anderes als das unterstellte Resultat rekonstruieren.
Ist das Kapital nicht Subjekt der bürgerlichen Geschichte, also nicht der wesentliche Attraktor der bürgerlichen Gesellschaft, so verfehlt zweifellos die Marxsche Dialektik die Wirklichkeit. In der Wahl des Ziels ist der Dialektiker prinzipiell offen. Im Grunde kann er jedes x-beliebige Ziel dialektisch ansteuern. Aber nicht jede Dialektik kann schon das Wesen der Wirklichkeit erfassen, sie kann sogar die Wirklichkeit verfehlen, wenn das Ziel falsch gewählt ist. Falsche Dialektik ist nur möglich, wenn der kausaldeterminierte Prozess der historischen Wirklichkeit ein anderes Ergebnis hat, als die Dialektik vorschreibt. Die richtige Dialektik muss also den in der Wirklichkeit stattfindenden kausaldeterminierten Prozess auf den Begriff bringen.
Der epistemologische Anspruch geht hier bei weitem über den Anspruch der empirischen Wissenschaft hinaus. Die Sozialwissenschaft, die sich heute streng auf den empiristischen Ansatz beschränkt, beschäftigt sich mit den kausalen Determinanten gesellschaftlicher Prozesse. Teleologische Erklärungen werden als unwissenschaftliche aus der Wissenschaft ausgeklammert. Die Wissenschaft beschränkt sich auf die Frage, wie der Prozess verläuft. Die Frage nach dem Warum bleibt für die empiristische Wissenschaft unbeantwortbar.
der weitere Erklärungsanspruch der Marxschen Transzendentaltheorie
Die nichtempirische Transzendentadialektik von Marx dagegen tritt mit dem Anspruch auf, das Warum des gesellschaftlichen Prozesses zu begreifen. Die kausalen Wirkungen finden in der Marxschen Dialektik ihre transzendentale Begründung.
das epistemologische Paradoxon: die Verschränkung von kausaler und teleologische Erklärung

Freiheit und Determinismus im Kapitalismus
Das epistemologisch durchaus paradoxe Faktum lässt sich in der Frage formulieren: wie kann die kausal-determinierte Wirkung gleichzeitig der transzendentale Grund des Prozesses sein. Die Antwort von Marx her ist: nur dadurch, dass sich die gesellschaftliche Praxis so verhält, als sei das Kapital und nicht der Mensch Subjekt der Geschichte, nur dadurch kommt ein Kausaldeterminismus in das Handeln der Menschen, das auch nur dadurch gesetzmäßig erfassbar wird. Sobald das Kapital zum bestimmenden Attraktor der gesellschaftlichen Praxis wird, wird die individuelle Willensfreiheit, die immer noch vorhanden ist, praktisch bedeutungslos. Der Clou ist, dass bei bestehender Willensfreiheit des Einzelnen das gesamtgesellschaftliche Verhalten durch den Kapitalattraktor determiniert ist, der anderseits erst durch das gesamtgesellschaftliche Verhalten erzeugt wird. Indem die Menschen erst die Ursache erzeugen (Produktionsverhältnisse), die ihr Verhalten kausal bewirken (Kapital), ist ihr Verhalten gleichzeitig auch teleologisch bestimmt. Das ist der Grund dafür, dass die Marxsche Dialektik kausaldeterministische Prozesse transzendental begründen kann.
das offene und geschlossen Geschichtsmodell
Der Wissenschaftsstreit, ob nun Geschichte ein Ziel habe oder nicht, ist auf metaphysischer Ebene unentscheidbar. Die Entscheidung der kritischen Rationalisten (Popper), die moderne Gesellschaft des 20.Jahrhunderts als offene Gesellschaft zu charakterisieren, ist nicht minder metaphysisch als das kritisierte geschlossene Gesellschaftsmodell der Marxisten und damit ein ebenso dogmatisches Apriori.
Aus transzendentaler Perspektive ergibt sich indes ein viel differenzierteres Bild: im bürgerlichen Horizont nämlich ist die Gesellschaft a priori eine offene Gesellschaft. Hier ist es die Vernunft und das politische Wollen der Menschen, die den Fortschritt der Gesellschaft bestimmen. Dass das nicht so ist, zeigt sich erst in transzendentaler Sicht vom metabürgerlichen Standort aus. Überblicken wir den bürgerlichen Horizont, so sehen wir auch seine Beschränktheit. In der Tat sehen wir nun die bürgerliche Gesellschaft als geschlossenes Gebilde, sehen ihr Entwicklungsprinzip und ihr Ende. In transzendentaler Sicht lässt sich also die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft durchaus dialektisch begreifen und darstellen.
die Unvorhersagbarkeit und gleichzeitige Determiniertheit der Geschichtsverlaufs
Dennoch ist auch die Marxsche Dialektik nicht in der Lage, den wirklichen Geschichtsverlauf zu beschreiben. Ist das Ende, das Resultat, auch apriori gegeben, so nicht schon der Weg, der dort hinführt. Aus dem Wissen, dass die Erde eine Kugel ist, konnte Kolumbus a priori wissen, dass sein Seeweg nach Westen nach Indien führen muss. Und doch hat er sich geirrt, als er glaubte, in der Entdeckung Amerikas den Ostteil des indischen Kontinents vor sich zu haben. So hat auch Marx geirrt, als die Revolutionen nicht dort ausbrachen, wo sie nach seiner Meinung hätten ausbrechen müssen, die europäische Geschichte also anders als vorhergesehen verlaufen ist. Global dagegen verläuft offensichtlich die Geschichte genau nach den Gesetzen, die Marx gefunden hat.
Kritik der Marxschen Kritiker
Eines ist sicherlich klar: ob das Marxsche Transzendentalmodell der bürgerlichen Gesellschaft hinreichend ist, um diese unsere Wirklichkeit verstehen zu können, ist apriori nicht zu entscheiden. Deutlich aber sollte sein, dass jede bisherige Kritik an Marx unzulänglich ist und die Tiefe des Marxschen Ansatzes gar nicht erfasst. Empirische Widerlegungen reichen, wie wir oben gesehen haben, nicht aus, die Marxsche Theorie zu kippen. Das macht sie zwar für den kritischen Rationalismus verdächtig, aber eben nur für diesen, weil er blind gegenüber seinen eigenen metaphysischen Voraussetzungen ist. Die philosophischen Widerlegungen der Marxschen Theorie kranken daran, dass sie deren transzendentale Struktur nicht begreifen, transzendentale Aussagen mit empirischen Aussagen verwechseln und ständig zwischen den erkenntnistheoretischen Ebenen hin- und herspringen. Diese gedankliche Unzulänglichkeit teilen sie im Übrigen mit den traditionellen Apologeten des Marxismus, einem Vulgärmarxismus, der in den Lehrbüchern der UDSSR und der DDR zum Ausdruck gekommen ist.
Das Dilemma ist, dass der heutigen Wissenschaftselite zunehmend die Fähigkeit philosophischer Durchdringung, also Reflexionsfähigkeit, abhanden kommt. Die Theorie der Theorielosigkeit breitet sich allerortens aus. Wer heut noch schlüssige Antworten geben will, sieht sich schnell dem Vorwurf argumentativer Verengung ausgesetzt: alles sei heute zu diffizil geworden, als dass noch einfache Antworten möglich seien, wobei keine einfachen Antworten mit überhaupt keinen Antworten gleichgesetzt werden.
Ich sehe nicht nur eine Krise in der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung auf uns zukommen, ich sehe diese Krise auch vornehmlich im heute öffentlich geführten argumentativen Diskurs, der diese Krise gar nicht mehr wahrzunehmen, geschweige denn zu verstehen in der Lage ist. Es fehlt heute einfach die Reflexionsfähigkeit eines Hegels, eines Marx, überhaupt das Reflexionsniveau, das die Philosophie schon im 19.Jahrhundert erreicht hat.
Ich plaidiere für den Wiederanschluss an ein Argumentationsniveau, das immerhin in den 6oer Jahre dieses Jahrhunderts noch möglich war und bitte inständig darum, dass die fähigen Philosophen unserer Republik endlich aus den Winkeln des Zeitgeistes hervortreten, in die sie sich verkrochen haben, und uns zeigen, dass diese unsere Welt begreifbar und veränderbar ist.