Harald v.Rappard(März1997)

Der Holocaust und Hegels Vernunft in der Geschichte

Nichts scheint der Voraussetzung der Hegelschen Geschichtsphilosophie mehr zu widersprechen als die Tatsache des Holocausts, der Voraussetzung nämlich, daß die Vernunft Subjekt der Geschichte sei.

Auschwitz ist die sinnfälligste und offensichtlichste Widerlegung der These Hegels, daß es in der Gechichte vernünftig zugeht. Nicht die unzähligen Opfer, nicht die entsetzlichsten Verbrechen an einzelnen Menschen und ganzen Völkern(z.B. Ausrottung der Indianer) widerlegen Hegels Position, solange diese Gewalttaten als Geburtswehen einer sich entwickelnden und verwirklichenden Vernunft begriffen werden können. Auschwitz dagegen läßt sich nicht mehr vor der Vernunft rechtfertigen. Wer die Entwicklung zur Freiheit als den alleinigen Maßstab gesellschaftlicher Entwicklung ansieht, kann den Hitlerfaschismus nur noch als Rückfall in die Barbarei begreifen, als eine vernunftwidrige Entwicklung, die keinen Bestand haben kann- sozusagen als Ausrutscher der Geschichte, als Ausnahme, die die Regel bestätigt.

Hegel wäre allerdings mit einer derartigen Interpretation nicht zufrieden. Denn eine Ausnahme kann es im Hegelschen System nicht geben. Der Weltgeist kann sich nicht einfach in einer seiner Gestalten, dem deutschen Volksgeist, auf dem Weg zu sich selbst nach Auschwitz verrennen. Hegel müßte, um seinem Ansatz treu zu bleiben, in dem barbarischen Holocaust noch ein vernünftiges Moment des Weltgeistes auf dem Weg zu sich selbst entdecken.

Die einzige "Vernunft", die ich in dem Holocaust entdecken kann, ist die radikale Widerlegung des völkischen Geistes. Nach Auschwitz kann sich - um in der Diktion Hegels zu bleiben - der Weltgeist nicht mehr in irgendeinem völkischen Geist weiterentwickeln. Die Überwindung des Nationalstaats ist das vernünftige Gebot der Stunde. Der Zusammenschluß der Völker zu supranationalen Gebilden, zu einem Weltstaat, wäre dann die Richtung , auf die sich die Geschichte zubewegt. Hegel als Kind seiner Zeit steht am Anfang der Entwicklung zum Nationalstaat und kann deshalb sein notwendiges Ende noch gar nicht voraussehen.

Aber schon Marx hat als später Geborener mehr gesehen und gegen Hegel erkannt, daß der geschichtlich bestimmende Widerspruch nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen den Klassen besteht. Ein Faktum allerdings ist - und auch das hat Marx analysiert- , daß sich der kapitalistische Widerspruch in den Köpfen der Menschen als völkischer Widerspruch widerspiegelt(siehe Bosnien). Als guter Hegelianer sieht Marx gegen Hegel, daß in der Epoche des Kapitalismus die Wirklichkeit nur noch ideologisch wahrgenommen wird, d.h. falsch.

Wenn nun aber das falsche Bewußtsein geschichtsmächtig geworden ist (die überwiegende Mehrheit der Menschen also ideologisch und nicht richtig denkt), dann verwirklicht sich der Hegelsche Weltgeist konsequenterweise nur auf ideologische Weise und damit auf falsche Weise, was schließlich und endlich in den Irrsinn des Holocausts führt und geführt hat.

So lange der Weltgeist in sein falsches Bewußtsein verstrickt ist, so lange verwirklicht er sich im Irrsinn des Völkermordes. Und er kann offensichtlich nur durch den Irrsinn des Völkermordes sich seiner Borniertheit bewußt werden und zu neuer Humanität aufwachen. So gesehen leben wir immer noch in der Epoche des Völkermordes. Auschwitz ist noch nicht vorbei, global gesehen.

Das deutsche Volk hat allerdings durch Auschwitz seinen Nationalismus endgültig verloren. Und wenn wir unsere Geschichte nicht vergessen, so werden wir auch in Zukunft vom Nationalismus befreit sein. So zynisch es klingen mag: ohne Auschwitz hätte in der deutschen Geschichte der kategorische Imperativ Kants, daß jeder Mensch ohne Ausnahme Selbstzweckcharakter habe, nicht diese ungeteilte Zustimmung erfahren. Nie haben die Freiheit und die Würde des Menschen einen so hohen Stellenwert in der Gesellschaft gehabt. Allerdings - und auch das ist richtig - nie ist das Bewußtsein der Diskrepanz zwischen Sein und Sollen größer gewesen als gegenwärtig.

Im Weltgeist reift der Gedanke - um es einmal Hegelsch auszudrücken - daß er sich in der polit-ökonomischen Form des Kapitalismus nicht verwirklichen kann, bzw. daß er sich im Kapitalismus nur in der perversen Form der Unvernunft verwirklicht.

Genau diesen Gedanken von Marx gilt es gegen Hegel festzuhalten. Für Hegel ist die geschichtliche Wirklichkeit immer die verwirklichte Vernunft auf einer bestimmten Stufe. Die vom einzelnen Individuum erkannte Diskrepanz zwischen der schäbigen Wirklichkeit und dem eigenen Ideal, die Differenz zwischen Sein und Sollen, ist für Hegel nur auf die subjetivistische Sichtweise des Einzelnen zurückzuführen (der subjektive Geist) und berührt nicht die objektive Vernunft (der objektive Geist), und nur diese verwirklicht sich in der Geschichte. Marx dagegen erkennt, daß das geschichtliche SEIN auf der Stufe des Kapitalismus objektiv unvernünftig ist, daß also SEIN und SOLLEN im Kapitalismus objektiv und nicht nur subjektiv auseinanderfallen.

Der WELTGEIST tritt also in der Epoche des Kapitalismus in die Phase der Unvernunft. Die Aufgabe der Philosophie kann jetzt nicht mehr - wie noch bei Hegel - in der Rechtfertigung der geschichtlichen Wirklichkeit durch deren Rationalität bestehen, sie wird jetzt zur Kritik an den polit-ökonomischen Verhältnissen. Die Vernunft des Weltgeistes verwirklicht sich jetzt nur noch streng getrennt von der Wirklichkeit der Praxis in der kritischen Theorie. Die gesellschaftliche Wirklichkeit dagegen wird nicht mehr durch die Vernunft bestimmt, sondern von der objektiven Macht des Kapitals gegen die Vernunfteinsichten eines jeden Individuums. Das Kapital wird jetzt zum bestimmenden Subjekt der Geschichte und der Mensch zu dessen Anhängsel und Objekt.

Es tritt das ein, was Marx die Subjekt-Objekt-Verkehrung nennt, die der Mensch aber als solche nicht durchschaut. Subjektiv ist der Mensch weiterhin überzeugt, daß er sein Handeln bestimmt. Genau dies ist seine Ideologie- sein notwendig falsches Bewußtsein. Das Kapital als Subjekt der Geschichte wäre Hegelsch gesprochen der Weltgeist in der Phase seiner höchsten Entfremdung von sich selbst. Hegel kann zu seiner Zeit, zu Beginn der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, diese Tendenz noch nicht erkennen.

Es wird immer gesagt, daß Marx Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt oder sogar überwunden habe. Richtiger ist wohl zu sagen, Marx habe in konsequent Hegelscher Weise die Wirklichkeit zu einem späteren Zeitpunkt betrachtet als es Hegel konnte. Sein Denken ist ganz und gar Hegelsch.

Zur Zeit Hegels ist Auschwitz noch nicht denkbar, und Hegel kann die Wirklichkeit noch zurecht als Verwirklichung der objektiven Vernunft fassen. Erst seit Marx wissen wir, daß wir das nicht mehr können. Marx hat die historische Wirklichkeit nicht differenzierter erfaßt als Hegel, sondern er hat eine andere Wirklichkeit vorgefunden, eine Wirklichkeit, in der sich die Vernunft nur noch in der Theorie und nicht mehr in der gesellschaftlichen Praxis verwirklicht. Historisch verwirklicht sich - wie schon oben ausgeführt- nur noch die Unvernunft: die Sachgesetze des Marktes gegen das ideale Sollen des kategorischen Imperativs.

Das vorherrschende ideologische Bewußtsein des 20.Jahrhunderts hat sich im deutschen Volksgeist auf schlimmstmögliche Weise in Auschwitz verwirklicht. Hier hat der Weltgeist die perverseste Form der Vernunft erreicht, den Ungeist, der sämtliche Attribute der christlichen Hölle in den Schatten gestellt hat. Man könnte auch sagen, der Hitlerfaschismus ist historisch die reale Verwirklichung der Hölle, die das Christentum gedanklich vorweggenommen hat .

Um Mißverständnisse zu vermeiden: Auschwitz folgt nicht zwangsläufig aus den kapitalistischen Marktgesetzen. Aber das unreflektierte Bewußtsein, also das ideologische Bewußtsein, das kausal aus den kapitalistischen Verhältnissen entsteht, macht und machte Auschwitz möglich.

(Begründung: das ideologische Bewußtsein verwechselt Wesen und Erscheinung. Im Kapitalismus erscheinen dem Bewußtsein gesellschaftliche Verhältnisse nicht als solche, sondern nur in verdinglichter Weise. So wenig man dem Geldstück ansieht, daß es ein Quantum gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit repräsentiert und damit ein Verhältnis zwischen Menschen, so wenig sieht man den Kämpfen zwischen den Ethnien an, daß sie dem Wesen nach Klassenkämpfe sind. Das ideologische Bewußtsein projiziert die real erfahrene Konkurrenz des Marktes auf die Unterschiede zwischen den Ethnien. Hier hat der Rassenwahn seine polit-ökonomische Grundlage)

Die geschichtsphilosophische Frage stellt sich nun, ob und wie der Weltgeist aus der Phase seiner Unvernunft heraustreten kann. Ist die Phase der Unvernunft nur ein Durchgangsstadium des Weltgeistes auf dem Weg zu sich selbst oder bleibt er im Strudel der Unvernunft hängen?

Anders gefragt: Bleibt die Freiheit nur ein theoretisches wirkungsloses Postulat oder wird sie eines Tages zur praktischen Wirklichkeit?

Noch anders gefragt: ist der rationale Diskurs (7.Stufe der Moralentwicklung im Kohlberg-Habermas-Modell) als Voraussetzung für eine vernunftbestimmte Wirklichkeit eine reale Möglichkeit oder selbst wiederum ein Ideologem, weil der rationale herrschaftsfreie Diskurs, selbst wenn er möglich wäre, im Kapitalismus prinzipiell keine Wirksamkeit haben kann?

Die Antworten auf diese Fragen wird die Geschichte selbst geben. Klar ist, daß der rationale Diskurs nur wirksam werden kann, wenn der Mensch und nicht das Kapital Subjekt der Geschichte ist.

Ich denke, die Menschheit ist bei Strafe ihres eigenen Untergangs zum rationalen Diskurs verurteilt. Ihr bleibt die ökonomisch-ökologische Kehrtwende nicht erspart, wenn sie überleben will. Es steht allerdings zu befürchten, daß diese Kehrtwende nicht - wie es vernünftig wäre - durch einen rationalen Diskurs zustande kommen wird. Der rationale Diskurs wird erst dann geführt werden, wenn es für viele Menschen schon zu spät sein wird. Es müssen offensichtlich die jetzt schon absehbaren Katastrophen eintreten, damit die Menschheit zur Vernunft kommt.

Und daß der Weltgeist zur Vernunft kommt, das ist unser aller Aufgabe. Es kommt nicht darauf an, die Welt zu interpretieren, sondern die Welt zu verändern. Dieser Satz von Marx ist 150 Jahre alt und immer noch richtig, auch wenn sich das politische Philistertum dieses unseres Landes darin gefällt, Marx auf den Kehrichthaufen der Geschichte zu werfen.