Das Marxsche Geschichtsmodell in der Geschichte der Epistemologie

 
Aus marxistischer Sicht ist die Marxsche Theorie die dialektische Gegenposition zur Hegelschen Position. Marx reiht sich in die philosophische Grundrichtung des Materialismus ein und setzt sich damit gegen die philosophische Tradition des Idealismus ab.
die Aporien der dualistischen Weltbildes
Der Streit zwischen Materialismus und Idealismus ist überhaupt nur in einem Modell von Philosophie zu führen, das vor Kant die Erkenntnisheorie bestimmt hat: im sogenannten Dualismus.
Descartes zerteilt die Welt in zwei voneinander unabhängige Sphären: in die Welt der materiellen Dinge (res extensa=die im Raum anzutreffenden Dinge) und in die Welt der immateriellen Gedanken (res cogitans).
Im Dualismus entsteht automatisch das Problem, wie die beiden Welten aufeinander bezogen sind. Sind die Gedanken Abbilder der materiellen Dinge?(Position des Materialismus) Oder sind die materiellen Dinge Abbilder von Ideen? (Position des platonischen Idealismus) Oder sind die materielle und ideelle Welt zwei Parallelwelten, die überhaupt nicht aufeinander bezogen sind (Position des epistemologischen Parallelismus)?
die kopernikanische Wende der Philosophie
Die Streitfrage läßt sich im dualistischen Weltbild nicht lösen.
Mit der sogenannten kopernikanischen Wende der Philosophie, die durch Kant eingeleitet wird, verschwindet das aporetische (=nicht lösbare) Problem des Dualismus. Die empirische Erfahrung spiegelt nicht die Welt wider, wie sie an sich ist, sondern nur, wie sie dem menschlichen Betrachter, dem Subjekt, erscheint. Welterkenntnis ist -transzendental gesehen- immer schon subjektiv. Indem die Welt angeschaut und begriffen wird, wird sie immer nur durch die Brille
d e r Anschaung und d e r Begriffe gesehen, die dem Menschen zur Verfügung stehen. Nach Kant ist also denkbar, dass die Welt auch mit einer anderen Anschaung betrachtet und mit anderen Begriffen begriffen werden kann (Wittgenstein hat dies in seinen Sprachspielen zu zeigen versucht). Die Philosophie nach der kopernikanischen Wende versucht zu begründen, dass die Welterkenntnis von einer Sichtweise abhängt, die selbst nicht aus der Empirie abgeleitet werden kann (die Suche nach den transzendentalen Bedingungen der Erkenntnis)
die Unerkennbarkeit der Welt an sich
Die Welt außerhalb unserer Anschaung und Begriffe ist die Welt an sich, und über diese können wir logischer Weise keine Aussagen treffen. Die von uns betrachtete Welt ist also immer schon unsere Welt, die sich nach unseren Kategorien aufschlüsselt. Hegel hat diese transzendentale Erkenntnis in dem Satz ausgedrückt: das Denkfremde (das Kant noch als unerkennbares Ding an sich zu denken versucht) läßt sich prinzipiell nicht denken.
Philosophie hat es deshalb nur und auschließlich nur mit Gedanken oder Ideen zu tun. Was vor dem Denken liegt, kann nicht gedacht werden. So kann Hegel den Satz formulieren: Jede Philosophie, auch die materialistische Philosophie, ist Idealismus und eine Gegenposition zum Idealismus schlechterdings unmöglich.
Wenn wir den Marxschen Theorieansatz nicht als Rückfall in vorkantianische Postionen sehen wollen (und der Vulgärmarxismus ist zweifellos ein solcher Rückfall), müssen wir die Marxsche Kritik an Hegel anders fassen als in der Abkehr vom Idealismus zum Materialismus.
das epistemologische Modell von Marx

die Kritik an Hegel

die Praxis als transzendentale Bedingung des Geistes

Marx fällt nicht hinter den philosophischen Erkenntnisstands von Kant und Hegel zurück.Im Gegenteil: er setzt ihn voraus. Er stimmt mit Hegel völlig darin überein, dass die Welt, so wie sie sich uns darstellt, nur eine Welt unserer Begriffe sein kann. Es ist indes nicht der Geist, der diese Begriffe bedingt, sondern die gesellschaftliche Praxis, das Handeln der Menschen. Die Praxis und nicht der Geist ist die transzendentale Bedingung des Geistes. Die transzendentalen Bedingungen des Geistes lassen sich nicht aus dem Geist generieren, wie Hegel es tut. Sie sind dem Geist transzendent, wiewohl sie ihn bedingen. Der Geist selbst kann also seine transzendentale Bedingung nicht einsehen. Wie aber kann dann diese transzendentale Bedingung gedacht oder erkannt werden, würde Hegel gegen Marx fragen.
die Erkennbarkeit der transzendentalen Bedingungen des historisch beschränkten Geistes aus der Perspektive eines späteren Geistes
Die Antwort von Marx her ist klar und bestechend: der betrachtende und zu betrachtende Geist ist immer ein historischer und damit beschränkter Geist. Der in der historischen Wirklichkeit sich geltend machende Geist eines Menschen, einer Klasse, eines Volkes, einer Zeitepoche kann prinzipiell nicht seine transzendentale Bedingung (die Bedingung seiner Möglichkeit) erkennen. Deutlich erkennbar aber sind diese transzendentalen Bedingungen einem anderen, historisch späteren Geist. Kein Zeitgenosse kann seinen Horizont überblicken. Dies kann nur der Spätere, der ihn schon verlassen hat.
Die historische Entwicklung von einem Horizont zum nächsten ist nun nicht die Tat der Logik, auch nicht der dialektischen Logik, sondern gesellschaftliche Tat. Am Anfang ist nicht der Logos, der die Tat begründet(Evangelium des Johannes), sondern die Tat, die den Logos begründet (Goethes Faust).
die transzendentalen Bedingungen der Hegelschen Philosophie
So ist auch Hegels Philosophie, die ganze Welt aus dem Geist zu generieren und die Weltgeschichte als den Weg des Weltgeistes zu sich selbst aufzufassen, kein Denkfehler, sondern dem historischen Horizont Hegels geschuldet, aus dem heraus die Weltgeschichte so begriffen werden konnte.
Anders als Hegel sieht Marx aus einem späteren Horizont die transzendentalen Bedingungen der Hegelschen Philosophie, die nur in der bürgerlichen Gesellschaft zu finden sind.
die entfremdete Gesellschaft als historische Bedingung der Marxschen Philosophie

das Sein bestimmt das Bewußtsein
Erst mit der kapitalistischen Gesellschaft verliert die philosophische Vernunft ihre dominante Stellung und pervertiert zum Sachgesetz des Marktes, das fortan die gesellschaftliche Praxis determiniert. Erst jetzt zeigt sich die Ohnmacht der Vernunft und die historische Beschränktheit des Hegelschen Standpunkts.
Dass die vorrationale gesellschaftliche Praxis das Bewußtsein der Gesellschaft bestimmt und nicht umgekehrt (das Sein bestimmt das Bewußtsein), konnte überhaupt erst auffallen, als sich die ökonomische Vernunft des Kapitals von der philosophischen Vernunft abspaltete. Solange die Vernunft die Praxis der Menschen bestimmt, ist sie von ihr gar nicht unterscheidbar. Nur eine defizitäre von der Vernunft entfremdete gesellschaftliche Tätigkeit kann dieser erst auffallen.
Dass Marx also seine Blickrichtung ändert und auf die gesellschaftliche Praxis schaut, um deren ökonomische Gesetze zu finden, hat seine Ursache in den gesellschaftlichen Verhältnissen, die von einer fortschreitenden Entfremdung des Menschen von seiner ihn ausmachenden Tätigkeit charakterisiert sind (die entfremdete Arbeit in der modernen Industriegesellschaft).
das Bewußtsein bestimmt das Sein
Allerdings fällt diese gesellschaftliche Entfremdung nur dem Philosophen auf, der in der philosophischen Tradition des Deutschen Idealismus bzw der Aufklärung steht: Wer über die philosophischen Begriffe der Aufklärung wie Freiheit, Autonomie, Selbstbestimmung, Mündigkeit nicht verfügt, der kann die entfremdete gesellschaftliche Wirklichkeit gar nicht mehr empirisch wahrnehmen.
Hier zeigt sich deutlich, dass die jeweils verfügbaren Begriffe die Empirie bestimmen und nicht die Empirie die Begriffe (der hermeneutische Zirkel: man sieht nur das, was man begreift).
die transzendentale Bedingung der Marxschen Kapitalismuskritik: die Philosophie der Aufklärung
Deshalb ist es ebenso richtig zu sagen: Die Philosophie der Aufklärung ist die transzendentale Bedingung der Marxschen Kapitalismuskritik, was die Marxsche Theorie nicht mehr thematisiert und auch nicht thematisieren kann: sie sieht die transzendentale Bedingung kapitalistischer Gesellschaft, die Entfremdung, was der bürgerlichen Philosophie verborgen bleibt, sieht aber nicht die philosophische Brille, aus der heraus sie die Entfremdung als solche erkennt.
So bleibt es Marx zutiefst verborgen, dass seine Theorie nur aus der Vernunftsphilosophie verständlich wird und das seit Descartes geltende Paradigma der Subjektsphilosophie gar nicht verlässt. Marx selbst glaubt in seiner Kritik an der Philosophie einen Standort jenseits der Philosophie gefunden zu haben. Heute dagegen sehen wir deutlicher, dass die Marxsche Kritik an der Philosophie kein neues Paradigma der Philosophie begründet, sondern die Subjektsphilosophie unter den Bedingungen gesellschaftlicher Entfremdung weiter fortentwickelt.
Eines ist sicher: solange die Menschheit am philosphischem Paradigma der Vernunft festhält, solange wird die Marxsche Kapitalismuskritik als "Kritik der bürgerlichen Vernunft" ein ewig schmerzender Pfahl im Fleische der Philosophie bleiben.
Der Typus der Marxschen Theorie: Transzendentaltheorie der bürgerlichen Gesellschaft

entfremdete Arbeit in subjektiver Sicht
Die Marxsche Theorie ist eine Transzendentaltheorie der bürgerlichen Gesellschaft. Sie beschäftigt sich mit den Bedingungen der Möglichkeit bürgerlicher Gesellschaft.
Die transzendentale Bedingung bürgerlicher Gesellschaft ist die entfremdete Arbeit. Die entfremdete Arbeit ist mehr als nur die von Fremden angeeignete eigene Arbeit. Die Aneignung fremder Arbeit ist das Prinzip aller Klassengesellschaften, in denen sich die politische Klasse die Arbeit der produktiven Klasse aneignet. Entfremdete Arbeit ist Arbeit, in der sich der Arbeitende nicht mehr finden kann, in der er seine Individualität nicht mehr ausdrücken kann, die für den Arbeitenden selbst den Charakter der Fremdheit hat, die sein Selbst nicht mehr tangiert. Entfremdete Arbeit ist industrielle Arbeit von Maschinen, die der Arbeitende nur noch bedient, statt mit ihnen schöpferisch umzugehen und Eigenes zu gestalten. Subjektiv gesehen, also vom Arbeitenden aus betrachtet, ist entfremdete Arbeit eine Tätigkeit, die von jeder Fähigkeit und Individualität des Arbeitenden "abstrahiert"(Marx).
entfremdete Arbeit als objektive Qualität der gesellschaftlichen Arbeit
Aber auch diese subjektive Sicht charakterisiert nur die industrielle, noch nicht die kapitalistische Produktionsweise.
Eine objektive gesellschaftliche Qualität bekommt die Entfremdung der Arbeit erst dann, wenn das Ziel der Produktion der Profit und nicht mehr der Nutzen für die Menschen ist. Erst in diesem Moment bekommt die industrielle Produktion einen Eigenwert. Ziel der Produktion ist nunmehr die Produktion selbst. Es kommt nicht mehr darauf an, was produziert wird, sondern dass produziert wird.
Arbeit und zwar gesellschaftliche Arbeit in dieser höchsten und auch absoluten Form der Entfremdung ist das Kapital. Kapital ist nicht einfach nur Geld, also Anhäufung abstrakt menschlicher Arbeit, sondern Geld erzeugendes Geld, d.h. Geld, das einen Produktionsgang in Gang setzt und ein Produkt erzeugt, das über den Markt verwertet mehr Geld einbringt, als es gekostet hat. Wenn das Ziel des Produktionsprozesses mehr Geld ist und dieses Mehr-Geld zum Ausgangspunkt zu einem erneuten Produktionsprozesses wird zu mehr Mehr-Geld usw, so haben wir jenen Motor vor uns, der die kapitalistische Produktionsweise bestimmt.
Kapital ist nichts anderes als die zum Selbstzweck gewordene entfremdete Arbeit, die zum Subjekt, zum Agens der Gesellschaft wird und das eigentliche Subjekt, den Menschen, zum Objekt macht. Es tritt ein, was Marx die Subjekt-Objekt-Verkehrung nennt.
In dem Moment, wo das Kapital zum Subjekt der Geschichte wird, tritt der Mensch gleichsam von der Bühne ab. Nicht mehr die Menschen machen die Geschichte, nicht die großen Persönlichkeiten, sondern die Sachgesetze des Marktes bestimmen fortan den Handlungsspielraum der Politiker.
Im Kopf dagegen spielt sich dieser Sachverhalt in völlig verkehrter Weise wider. Hier sind es die Politiker und deren Moral oder Unmoral, die die Politik bestimmen.
So erscheint der Kosovo- Krieg in den Köpfen des Westens als der gerechte Krieg einer universalistischen Moral gegen die faschistische Binnenmoral eines Milosevics, in den Köpfen der Serben als gerechter Verteidigungskrieg zur nationalen Selbstbehauptung.
ideologische Sicht contra transzendentale Einsicht am Beispiel des Kosovo-Krieges
Betrachten wir dagegen den Balkankrieg unter dem Gesichtspunkt der Kapitalverwertung, so erscheint der Kosovo-Krieg in einem ganz anderen Licht: Die Auflösung des Vielvölkerstaats Jugoslawien ist selbst nur Ausdruck eines ökonomischen Verteilungskampfes, in dem die Serben auf grund ihrer geographischen Hinterlandlage den Kürzeren gezogen haben und nun verzweifelt bemüht sind, ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt durch Stärkung des Nationalstaates zu erhalten. In einer solchen Situation empfindet jeder Nationalstaat auf dieser Welt jede Sezessionsbestrebung als existentielle Bedrohung(So die Nordamerikaner gegen die Sezession der Südstaaten, die Türken gegenüber den Kurden, die Russen gegenüber den Tschetschenen, etc) Unter Kapitalverwertungsbedingungen erscheint auch der moralische Krieg der Nato gegen Milosevic in einem ganz anderen, durchaus irritierenden Licht: die Aktien in der Wallstreet boomen. Die Rüstungsindustrien verdienen sich dumm und dusselig. Der Euro dagegen sinkt. Ein Schuft, wer Böses dabei denkt?
In Wahrheit sind es kapitalistische Marktstrategien zur Erhaltung und Erlangung von Marktanteilen im globalen Verteilungskampf, die die Politik der Staaten und damit die Politik aller Politiker bestimmen, die Politik Clintons ebenso wie die von Milosevic. Das Perverse ist, dass diese ökonomischen Interessen in den Köpfen der Politiker gar nicht auftauchen und sie deshalb durchaus mit Recht die ökonomische Motivation ihrer Politik als infame Unterstellung zurückweisen können.
Wer Clinton unterstellt, sein Kosovo-Krieg habe nur das Ziel, den Dollar auf Kosten des Euro zu stärken, stößt auf breites Unverständnis. Ich unterstelle, dass Clinton nicht so denkt. Dennoch hat der Krieg zwangsläufig diese Folge und liegt objektiv mehr im Interesse der Amerikaner als im Interesse der Europäer. Zwar ist es die Moral, mit der wir unsere Handlungen begründen und unseren Krieg gegen Milosevic rechtfertigen. Bestimmt aber werden unsere Handlungen durch ökonomische Interessen, die wir selbst nicht durchschauen.
Das ist der Grund, warum Marx unser Bewusstsein Ideologie nennt. Unsere Moral, mit der wir unsere Handlungen begründen, verdeckt und verschleiert die kausalen Determinanten unserer Handlungen (wohlgemerkt nicht die Motive, die werden durch unser Bewusstsein gesetzt und sind moralischer oder unmoralischer Natur).
die transzendentale Ideologiekritik: zum Verhältnis von Ideologie und Ideologiekritik
Ideologie und Ideologiekritik liegen epistemologisch nicht auf derselben Ebene. Das ideologische Bewusstsein erkennt seine transzendentalen Bedingungen nicht. Es fällt mit dem empirischen Bewusstsein des Bürgers zusammen und artikuliert sich wissenschaftlich in der Position des sogenannten Positivismus. Der Positivismus versucht alle nicht-empirischen Aussagen als Metaphysik aus der Wissenschaft auszuschließen Er versteht sich streng empiristisch.
Ideologiekritik dagegen ist Transzendentalphilosophie. Ihr Gegenstand sind die transzendentalen Bedingungen der Ideologie, die nicht Gegenstand des empirischen, hier ideologischen Bewusstseins sind. So wie das Auge als transzendentale Bedingung des Sehfeldes im Sehfeld nicht vorkommt(das paradigmatische Bild Wittgensteins zur Transzendentalphilosophie), so kommt die entfremdete Arbeit im bürgerlichen Horizont nicht vor(genauer gesagt: sie erscheint im bürgerlichen Bewusstsein nur als eine subjektive Erfahrung, aber gerade nicht in ihrer objektiven Vergegenständlichung als Kapital). Zur Ideologiekritik bedarf es eines transzendierenden Schrittes aus dem bürgerlichen Horizont hinaus. Ideologiekritik ist deshalb Transzendentalphilosophie. Sie setzt einen metabürgerlichen Standort voraus.
Verständnisaporien: die Vermengung von empirischer und transzendentaler Sichtweise
Verstehensprobleme entstehen in der Regel dann, wenn die empirische und die transzendentale Ebene in der Argumentation vermengt werden, z.B. wenn kausale Verhaltensdeterminanten mit moralischen oder unmoralischen Motiven verwechselt werden (vergl. Ausführungen zu Clinton und Milosevic). Auch die großen Wissenschaftsdispute beruhen in der Regel darauf, dass die eine Partei von der empiristischen Position her argumentiert und die andere von der transzendentalen. So geschehen in dem berühmten Positvismusstreit in den 60er Jahren ( Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule contra Positivismus in den Sozialwissennschaften).
Der metabürgerliche Standort als Voraussetzung zur Erkenntnis des Bürgertums
Die bürgerliche Gesellschaft kann erkenntnistheoretisch gesehen erst von einem metabürgerlichen Standort zum Gegenstand der Erkenntnis werden. Dem Bürger selbst kann sein bürgerlicher Horizont nicht transparent werden. Er sieht das Vergangene als Vorstufe zu seiner Gegenwart, aber nicht mehr die Vergänglichkeit des ihm Gegenwärtigen. Seine eigene Geschichtlichkeit könnte er nur begreifen, wenn er aus seiner Geschichte heraustreten könnte. Aber das gelingt ihm genau so wenig wie Münchhausen, der sich an den Schopf greifend aus dem Sumpf herausziehen möchte. Der metabürgerliche Standort verlangt auch das Abstreifen bürgerlicher Sichtweisen.
Der transzendental-historische Standort von Marx
Der metabürgerliche Standort von Marx ist ein transzendental-historischer Standort, aber kein metahistorischer. Marx steht nicht über der Geschichte. Auch sein transzendentaler Blickwinkel ist immer noch ein geschichtlicher und damit zeitbedingter und lässt ihn nur das sehen, was zu seiner Zeit im transzendentalen Blickwinkel sichtbar war. Das ist mehr, sehr viel mehr als die Bürger zu seiner Zeit empirisch wahrnahmen und auch heute noch wahrnehmen, aber logischerweise weniger, als was wir heute aus transzendental-historischer Perspektive sehen(vergl. Rolle des Sozialstaats in seiner Funktion als ideeller Gesamtkapitalist).
Das eigentlich Erstaunliche aber ist, dass Marx schon vor 150 Jahren einen metabürgerlichen Standort erreicht hat, der einen epistemologisch genügend großen Abstand bot, um das Wesen der kapitalistischen Gesellschaft zu begreifen.
Indem Marx die transzendentale Bedingung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die entfremdete Arbeit, entdeckte und aufdeckte, hat er gleichzeitig das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft begriffen und deren Mechanismus, wie die bürgerliche Gesellschaft funktioniert. Es lassen sich nunmehr die ökonomischen Gesetze finden, nach denen dieser Mechanismus arbeitet, vor allem auch ein Gesetz, wie sich dieser Mechanismus, das Kapital, im Laufe seiner globalen Verbreitung weiterentwickelt, in welche Krisenzyklen die bürgerliche Gesellschaft gerät, an welche Schranken sie stößt, ob und warum der Kapitalismus zum Krieg gegen Mensch und Natur und in die Apokalypse führt.
Die Prognostizierbarkeit von Gechichte
Mit der transzendentalen Erkentnis der bürgerlichen Gesellschaft ist deren Entwicklungslogik vom Ursprung bis zum Ende prinzipell begreifbar und aud dialektische Weise darstellbar geworden. Die Entwicklungslogik der bürgerlichen Gesellschaft fällt indes nicht mit der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft zusammen. Ob sich die bürgerliche Gesellschaft gemäß ihrer Logik entfaltet, ob sie sich nur teilweise oder ganz entwickelt, auf bestimmten Stufen lange verweilt oder gar auf niedere Stufen zurückfällt, das zeigt die Geschichte und kann von der Dialektik nicht vorausgesagt werden. Ist das dialektisch zu rekonstruierende Resultat schon historisch eingetreten, so kann die Dialektik die notwendigen Stufen aufzeigen, die zu diesem Resultat geführt haben. Wird dagen das Resultat in die noch nicht eingetretene Zukunft verlegt, so kann die Dialektik aufzeigen, über welche Stufen die geschichtliche Entwicklung gehen muß, um das unterstellte Resultat zu erreichen.
Das Ende der bürgerlichen Geschichte
Für Marx beginnt die bürgerliche Geschichte mit der Entstehung der entfremdeten Arbeit, dementsprechend endet sie mit der Aufhebung der entfremdeten Arbeit, d.h. mit der Abschaffung des Kapitals. Seine Dialektik zeigt, wie das historische Resultat der bürgerlichen Gesellschaft, das Kapital, aus dem Widerspruch zwischen konkreter und gesellschaftlich abstrakter Arbeit über die ökonomischen Formen Ware und Geld in der Tauschgesellschaft entstanden ist und die Logik des Prozesses, wie das Kapital sich durch sich selbst aufhebt (Tendenzieller Fall der Profitrate). Wenn auch die Dialektik nicht den Weg der Geschichte festlegen kann, so kann sie immerhin die Richtung erfassen bzw das Ziel, auf das sich die bürgerliche Gesellschaft zubewegt (Beispiel: mäandernder Fluss zum Meer) Marx prognostiziert also den Zusammenbruch des Kapitals und glaubt die Logik dieses Prozesses in seiner Dialektik nachweisen zu können.
die Dialektik
Die Logik der Entwicklung ist die Dialektik. Das Prinzip jeder Entwicklung ist der Widerspruch, der das Erreichte(A) in Frage stellt und negiert und eine Gegenposition(B) entwickelt. Eine weitere Entwicklung setzt erst dann ein, wenn eine neue Position(C) gefunden wird, in der der Widerspruch zwischen den Positionen A und B aufgehoben wird (aufheben im Sinne von negieren und konservieren =Negation der Negation). Die Entwicklung bleibt aber nicht bei C stehen. Zu C bildet sich wiederum eine Gegenposition D, deren Widerspruch wiederum in Position E aufhebbar ist usw. Die Entwicklung endet theoretisch erst in der Position, zu der sich kein Widerspruch mehr denken lässt.
Die Dialektik als Logik teleologischer Prozesse
Dialektik findet nur in Prozessen statt, die ein Resultat haben. Prozesse, die kein Resultat haben, lassen sich nicht dialektsch darstellen. Wird die Geschichte der Menschen als ein in die Zukunft offener Prozess aufgefasst, so kann sie prinzipiell nicht mehr dialektsch begriffen und das heißt überhaupt nicht verstanden werden. Wird ihr ein Resultat hypothetisch unterstellt, so kann auch die Dialektik, die zu diesem Resultat führt, nur eine hypothetische Geschichte beschreiben.
die" falsche" und die "richtige" Dialektik

der beschränkte Anspruch der Sozialwissenschaft
MaW die Dialektik kann nichts anderes als das unterstellte Resultat rekonstruieren.
Ist das Kapital nicht Subjekt der bürgerlichen Geschichte, also nicht der wesentliche Attraktor der bürgerlichen Gesellschaft, so verfehlt zweifellos die Marxsche Dialektik die Wirklichkeit. In der Wahl des Ziels ist der Dialektiker prinzipiell offen. Im Grunde kann er jedes x-beliebige Ziel dialektisch ansteuern. Aber nicht jede Dialektik kann schon das Wesen der Wirklichkeit erfassen, sie kann sogar die Wirklichkeit verfehlen, wenn das Ziel falsch gewählt ist. Falsche Dialektik ist nur möglich, wenn der kausaldeterminierte Prozess der historischen Wirklichkeit ein anderes Ergebnis hat, als die Dialektik vorschreibt. Die richtige Dialektik muss also den in der Wirklichkeit stattfindenden kausaldeterminierten Prozess auf den Begriff bringen.
Der epistemologische Anspruch geht hier bei weitem über den Anspruch der empirischen Wissenschaft hinaus. Die Sozialwissenschaft, die sich heute streng auf den empiristischen Ansatz beschränkt, beschäftigt sich mit den kausalen Determinanten gesellschaftlicher Prozesse. Teleologische Erklärungen werden als unwissenschaftliche aus der Wissenschaft ausgeklammert. Die Wissenschaft beschränkt sich auf die Frage, wie der Prozess verläuft. Die Frage nach dem Warum bleibt für die empiristische Wissenschaft unbeantwortbar.
der weitere Erklärungsanspruch der Marxschen Transzendentaltheorie
Die nichtempirische Transzendentadialektik von Marx dagegen tritt mit dem Anspruch auf, das Warum des gesellschaftlichen Prozesses zu begreifen. Die kausalen Wirkungen finden in der Marxschen Dialektik ihre transzendentale Begründung.
das epistemologische Paradoxon: die Verschränkung von kausaler und teleologische Erklärung

Freiheit und Determinismus im Kapitalismus
Das epistemologisch durchaus paradoxe Faktum lässt sich in der Frage formulieren: wie kann die kausal-determinierte Wirkung gleichzeitig der transzendentale Grund des Prozesses sein. Die Antwort von Marx her ist: nur dadurch, dass sich die gesellschaftliche Praxis so verhält, als sei das Kapital und nicht der Mensch Subjekt der Geschichte, nur dadurch kommt ein Kausaldeterminismus in das Handeln der Menschen, das auch nur dadurch gesetzmäßig erfassbar wird. Sobald das Kapital zum bestimmenden Attraktor der gesellschaftlichen Praxis wird, wird die individuelle Willensfreiheit, die immer noch vorhanden ist, praktisch bedeutungslos. Der Clou ist, dass bei bestehender Willensfreiheit des Einzelnen das gesamtgesellschaftliche Verhalten durch den Kapitalattraktor determiniert ist, der anderseits erst durch das gesamtgesellschaftliche Verhalten erzeugt wird. Indem die Menschen erst die Ursache erzeugen (Produktionsverhältnisse), die ihr Verhalten kausal bewirken (Kapital), ist ihr Verhalten gleichzeitig auch teleologisch bestimmt. Das ist der Grund dafür, dass die Marxsche Dialektik kausaldeterministische Prozesse transzendental begründen kann.
das offene und geschlossen Geschichtsmodell
Der Wissenschaftsstreit, ob nun Geschichte ein Ziel habe oder nicht, ist auf metaphysischer Ebene unentscheidbar. Die Entscheidung der kritischen Rationalisten (Popper), die moderne Gesellschaft des 20.Jahrhunderts als offene Gesellschaft zu charakterisieren, ist nicht minder metaphysisch als das kritisierte geschlossene Gesellschaftsmodell der Marxisten und damit ein ebenso dogmatisches Apriori.
Aus transzendentaler Perspektive ergibt sich indes ein viel differenzierteres Bild: im bürgerlichen Horizont nämlich ist die Gesellschaft a priori eine offene Gesellschaft. Hier ist es die Vernunft und das politische Wollen der Menschen, die den Fortschritt der Gesellschaft bestimmen. Dass das nicht so ist, zeigt sich erst in transzendentaler Sicht vom metabürgerlichen Standort aus. Überblicken wir den bürgerlichen Horizont, so sehen wir auch seine Beschränktheit. In der Tat sehen wir nun die bürgerliche Gesellschaft als geschlossenes Gebilde, sehen ihr Entwicklungsprinzip und ihr Ende. In transzendentaler Sicht lässt sich also die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft durchaus dialektisch begreifen und darstellen.
die Unvorhersagbarkeit und gleichzeitige Determiniertheit der Geschichtsverlaufs
Dennoch ist auch die Marxsche Dialektik nicht in der Lage, den wirklichen Geschichtsverlauf zu beschreiben. Ist das Ende, das Resultat, auch apriori gegeben, so nicht schon der Weg, der dort hinführt. Aus dem Wissen, dass die Erde eine Kugel ist, konnte Kolumbus a priori wissen, dass sein Seeweg nach Westen nach Indien führen muss. Und doch hat er sich geirrt, als er glaubte, in der Entdeckung Amerikas den Ostteil des indischen Kontinents vor sich zu haben. So hat auch Marx geirrt, als die Revolutionen nicht dort ausbrachen, wo sie nach seiner Meinung hätten ausbrechen müssen, die europäische Geschichte also anders als vorhergesehen verlaufen ist. Global dagegen verläuft offensichtlich die Geschichte genau nach den Gesetzen, die Marx gefunden hat.
Kritik der Marxschen Kritiker
Eines ist sicherlich klar: ob das Marxsche Transzendentalmodell der bürgerlichen Gesellschaft hinreichend ist, um diese unsere Wirklichkeit verstehen zu können, ist apriori nicht zu entscheiden. Deutlich aber sollte sein, dass jede bisherige Kritik an Marx unzulänglich ist und die Tiefe des Marxschen Ansatzes gar nicht erfasst. Empirische Widerlegungen reichen, wie wir oben gesehen haben, nicht aus, die Marxsche Theorie zu kippen. Das macht sie zwar für den kritischen Rationalismus verdächtig, aber eben nur für diesen, weil er blind gegenüber seinen eigenen metaphysischen Voraussetzungen ist. Die philosophischen Widerlegungen der Marxschen Theorie kranken daran, dass sie deren transzendentale Struktur nicht begreifen, transzendentale Aussagen mit empirischen Aussagen verwechseln und ständig zwischen den erkenntnistheoretischen Ebenen hin- und herspringen. Diese gedankliche Unzulänglichkeit teilen sie im Übrigen mit den traditionellen Apologeten des Marxismus, einem Vulgärmarxismus, der in den Lehrbüchern der UDSSR und der DDR zum Ausdruck gekommen ist.
Das Dilemma ist, dass der heutigen Wissenschaftselite zunehmend die Fähigkeit philosophischer Durchdringung, also Reflexionsfähigkeit, abhanden kommt. Die Theorie der Theorielosigkeit breitet sich allerortens aus. Wer heut noch schlüssige Antworten geben will, sieht sich schnell dem Vorwurf argumentativer Verengung ausgesetzt: alles sei heute zu diffizil geworden, als dass noch einfache Antworten möglich seien, wobei keine einfachen Antworten mit überhaupt keinen Antworten gleichgesetzt werden.
Ich sehe nicht nur eine Krise in der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung auf uns zukommen, ich sehe diese Krise auch vornehmlich im heute öffentlich geführten argumentativen Diskurs, der diese Krise gar nicht mehr wahrzunehmen, geschweige denn zu verstehen in der Lage ist. Es fehlt heute einfach die Reflexionsfähigkeit eines Hegels, eines Marx, überhaupt das Reflexionsniveau, das die Philosophie schon im 19.Jahrhundert erreicht hat.
Ich plaidiere für den Wiederanschluss an ein Argumentationsniveau, das immerhin in den 6oer Jahre dieses Jahrhunderts noch möglich war und bitte inständig darum, dass die fähigen Philosophen unserer Republik endlich aus den Winkeln des Zeitgeistes hervortreten, in die sie sich verkrochen haben, und uns zeigen, dass diese unsere Welt begreifbar und veränderbar ist.