Harald von Rappard

Der Zusammenhang zwischen Erkenntnis, Scham und Schuld

Anmerkung zu Erich Fromms Kunst der Liebe im Philosophieunterricht (GK11.2/2000)

Ausgangsfragen des Unterrichts zum biblischen Sündenfallmythos:

Wie kommt es zu Scham- und Schuldgefühlen im allgemeinen und insbesondere im Genitalbereich?
Liegt in der Erkenntnis der Unterschiedlichkeit schon ein hinreichender Grund für die Scham, z.B. in der Erkenntnis, dass Mann und Frau sich in ihrem Geschlecht unterscheiden? Wieso überhaupt ist die Erkenntnis der Grund der Scham, was der Mythos des biblischen Sündenfalls thematisiert?
In welchem Verhältnis stehen Scham und Schuld zueinander?


Schämen kann man/frau sich nur, wenn er/sie seine/ihre erkannte Unterschiedlichkeit als Mangel erfährt. Und was ein Mangel ist, wird durch die jeweilige Kultur und nicht durch die Natur definiert.

So schämt sich der dicke Mensch nicht auf Grund seines Dickseins, sondern er schämt sich seines Dickseins auf Grund der gesellschaftlichen Norm, die den Dicken ausgrenzt (gesellschaftliche Normen ändern sich und haben sich im Laufe der Geschichte verändert). Hat der Dicke seine Dicklichkeit selbst verschuldet, so kommt zur Scham noch das Schuldgefühl dazu. Schuld entsteht erst aus dem Bewusstsein, Gebote nicht erfüllt oder gar Verbotenes getan zu haben.

In der patriarchalischen Kultur kann möglicherweise die Frau das Nichtvorhandensein eines Penis als Mangel erfahren. Und in der matriarchalischen Gesellschaft erfährt der Mann seine Unfähigkeit zu gebären als Mangel.

Die spannende Frage ist, warum ausgerechnet im jüdisch-christlich-moslemischem Kulturbereich das Entstehen der eigenen Geschlechtlichkeit mit Scham und sogar mit Schuldgefühlen verbunden ist. Die bloße Unterschiedlichkeit der Genitalien kann es doch - wie Fromm anmerkt- eigentlich nicht sein. Die fast neurotisch-paranoide Bedeckung der Schamteile im viktorianischen Zeitalter und heute noch im islamischen Kulturkreis lässt sich mit der bloßen Gewahrwerdung des Geschlechtsunterschiedes sicherlich nicht erklären.

Der tiefere Grund der jüdisch, christlichen und moslemischen Tabuisierung des Genitalbereichs lässt sich - wenn auch indirekt - aus der Fromm'schen Argumentation entwickeln. In der Wahrnehmung seiner Geschlechtlichkeit nimmt sich der Mensch erstmals als tierisches triebgesteuertes Wesen wahr. Das ist ihm umso peinlicher, je mehr er gerade im Begriff ist, sich als Mensch aus dem Tierreich zu emanzipieren. Je mehr der Mensch sich als kulturelles Wesen definiert, desto peinlicher ist ihm seine tierische Triebnatur, also sein oraler, analer und genitaler Trieb, der in jeder menschlichen Kultur auf irgend einer Weise kanalisiert, beschränkt oder eingedämmt wird (Grund der Scham).

Interessant in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass die Tabuzonen nicht in jeder Gesellschaft dieselben sind. Es gibt Kulturen, die ausschließlich den oralen oder den analen Bereich tabuisieren, den genitalen Bereich dagegen überhaupt nicht. In den höheren Kulturen scheint sich allerdings die Tabuzone in Richtung des genitalen Bereiches zu verschieben.

Offensichtlich spiegelt die kulturelle Entwicklung der Menschheit (Phylogenese) die Entwicklung des Babys zum Kleinkind wider (Ontogenese), nämlich die Entwicklung des Kindes von der oralen Phase über die anale Phase zur genitalen Phase, die dann in die sogenannte ödipale Phase mündet (Sigmund Freud).

In der Triebunterdrückung der Sexualität erfährt die menschliche Kultur ihre schärfste antinatürliche Ausprägung, ihre größtmögliche Abtrennung von der Natur.

Kultur -so sagt es Freud - ist Triebunterdrückung. Ohne Triebunterdrückung gibt es keine Kultur. Die Kultur wird zur "Natur" der Menschen. Ohne Kultur ist der Mensch nicht überlebensfähig. Wäre der Mensch seiner ungezügelten Triebnatur ausgeliefert, wäre er nicht mehr gesellschaftsfähig. Außerhalb der Gesellschaft als reines Naturwesen kann der Mensch nicht überleben.

Das Tier überlebt, indem es optimal an die Natur angepasst ist. Ändert sich die Natur, die sogenannte ökologische Nische einer Tier- oder Pflanzenart, so stirbt diese Spezies aus. Der Mensch dagegen überlebt, indem er die Natur an sich anpasst, d.h. verändert und zur Kultur macht. Der Mensch wird dadurch unabhängig von der Natur. Die Kultur ist andererseits aber auch sein Unglück. Sie schneidet ihn von seiner Natur ab. Der Mensch erfährt sich nicht mehr in seiner Ganzheit, die die Bedingung seines Glücks ausmacht und die er vor seiner Menschwerdung noch als paradiesischen Zustand genoss.

Die Wiedervereinigung des Menschen mit seiner tierischen Seite ist deshalb das Programm aller höheren Kulturen und zwar nicht als Rückfall des Menschen auf seine tierischen Stufen, was in den orgiastischen Riten vieler primitiven oder archaischen Kulturen geschieht, wenn auch zeitlich limitiert und durch gemeinschaftliche Rituale kanalisiert (in unserer Gesellschaft z.B. im Karneval), sondern als kulturelle Aktivität in einer anders und neu verstandenen Liebe.

Erst in und durch die Liebe gelingt es dem Menschen, sich mit seiner abgespaltenen tierischen Seite wieder zu vereinigen. Der liebende Mensch erfährt sich deshalb als glücklicher Mensch. Diese glücklich machende Liebe beschränkt sich allerdings nicht auf die sexuelle Liebe. In der nur sexuellen Liebe fällt der Mensch nur auf seine tierische Stufe zurück. Gefragt ist also eine Liebe, die den ganzen Menschen erfasst. Die Qualität dieser Liebe will uns Fromm in seinen Werken aufzeigen.

Nachzutragen bleibt, warum allein schon aus der Trennung des Menschen von der Natur Schuldgefühle erwachsen. Im Unterricht haben wir uns diesem Gedanken dadurch genähert, dass wir das Erkennen der Natur auch als Eindringen in die Natur, als Analysieren, Zerlegen, Zerstören und Verändern der Natur aufgefasst haben. Der Mensch als Kulturwesen ist auf Veränderung der Natur angewiesen (das Fällen von Bäumen, die Pelzgewinnung durch Erlegen von Tieren, das Graben nach Erz, das Ernten der Früchte, das Umpflügen des Bodens, Kanalisierung der Flüsse etc.) . Die Natur erleidet Veränderung durch den Menschen. So kommt es zum Gefühl, der Natur etwas zu schulden und die geschädigte Natur durch Opfer versöhnen zu müssen. Das Versöhnungsopfer ist durchgängiges Motiv aller Naturreligionen, wenn nicht gar aller Religionen schlechthin.

Schuld und Angst scheinen zuzunehmen, je weiter wir die Menschheitsgeschichte zurückverfolgen. Anfangs scheinen sich sogar die Könige selbst geopfert zu haben, um die Götter zu versöhnen und gnädig zu stimmen. So gehört noch Jesus Christus in die lange Reihe jener Märtyrer, die die Schuld des ganzen Volkes auf sich genommen und die Funktion des Sühneopfers übernommen haben.

Der Schuld-Sühne-Sünde- und Bußgedanke nimmt allerdings in der jüdisch-christlichen Tradition eine derart zentrale und dominierende Stellung ein, dass das Bewusstsein, die Natur verändert, beleidigt oder gar geschändet zu haben, in keinem normalen Verhältnis mehr zu dem Strafbedürfnis steht, das sich in unserer Religion artikuliert.

Eine tiefere Erklärung wird wohl darin zu finden sein, dass der Mensch in unserem Kulturkreis seiner eigenen Natur nicht mehr über den Weg traut. Gerade die rigorose Unterdrückung seiner Triebnatur -kulturell unumgänglich- erhöht schon seine fast zwanghafte Bereitschaft zur Unmoralität, die gesellschaftlich aber nicht zugelassen wird. Das Bedürfnis nach Regelung seiner Triebkräfte geht deshalb einher mit dem Bedürfnis diese Regeln zu durchbrechen. Genau hier liegt die Quelle permanenter Schuldgefühle. Am Ende des 19. Jahrhunderts hat die europäische Gesellschaft einen derartigen Grad rigidester Normiertheit erlangt, dass die gesamte Gesellschaft neurotisch-zwanghafte Züge erhält (Wedekind hat diese Thematik beispielhaft in seinem Drama" Frühlings Erwachen" zum Ausdruck gebracht).

Die Abtrennung des Menschen von seiner tierischen Natur und die mit ihr verbundene Schuld ist die zentrale Idee des Juden- und Christentums. Sie wird auch am Adam + Eva-Mythos thematisiert. Hier wird die Schuld Evas und Adams mit deren Ungehorsamkeit gegenüber Gott begründet, der das Essen der Früchte vom Baum der Erkenntnis ausdrücklich verboten hat.

Nun ist Gottes Verbot kein reales historisches Geschehen. Es handelt sich um einen Mythos, dessen Bedeutung auf symbolischer Ebene liegt. Gott repräsentiert die seelische Ebene des Menschen; seine Geschlechtlichkeit, seine tierische Natur, wird von der Schlange repräsentiert. In dem Moment, wo sich der Mensch seiner Geschlechtlichkeit bewusst wird, die nicht nur naiv, sondern aggressiv, destruktiv, asozial, herrschsüchtig, gierig also zutiefst unmoralisch ist, wird er sich zwangsläufig seiner Unmoralität bewusst und zwar nur und ausschließlich nur aus der Sicht der Moralität, die ebenso wie die Unmoralität die andere Seite des Menschen ausmacht.

Mit der Erkenntnis von gut und böse weiß der Mensch, was an ihm böse ist, seine asoziale Triebnatur, die er aus dem Wissen, was gut ist, zu bekämpfen beginnt. Er weiß um seine Lasterhaftigkeit, die immer wieder alle moralischen Normen durchbrechen wird, z.B. seine ständige Bereitschaft zum Ehebruch, die nur durch seine Moralität im Zaum gehalten wird. Das ständige Scheitern seiner Moral am eigenen Triebwunsch erfährt der religiöse Mensch als tiefe Scham und Schuld. So ist es auch nur der moralische Mensch, der seine Unmoralität als tiefe Schuld erfährt. Der noch nicht-moralische Mensch kennt keine Unmoral und auch keine Schuld. Der moralische Mensch ist der sündige Mensch, der seine Sündhaftigkeit bekämpft. Er ist alles andere als glücklich. Er lebt entzweit mit seiner Natur. Aus dem Paradies ist er gefallen.

Die Antwort, die uns Fromm nahe zu bringen versucht, ist klar. Wir brauchen nicht mehr den moralischen Sünder. Es ist nur ein falsch verstandenes Christentum, das immer noch an diesem Menschenbild festhält. Der liebende Mensch ist weder der moralische noch sündige Mensch. In der Liebe steht das Tor zum Paradies für jedermann/jedefrau offen. Die Liebe ist allerdings jetzt nicht mehr der Eros, der als Himmelsmacht den Menschen ergreift und ihn zu einem willenslosen Opfer macht, auch keine angeborene Fähigkeit seiner Triebnatur (Sexus), sondern nach Fromm eine Kunst, die man erlernen kann, eine höchst kultivierte Aktivität, in der Trieb und Moral, keinen Widerspruch mehr bilden und der Mensch sich endlich als ganzheitliches Wesen erfahren kann.