Symposion der Philosophen über die Frage

WAS IST DER MENSCH

Sokrates: Liebe Freunde der Weisheit! Wir alle wissen, wer ein Mensch ist, und doch will es mir nicht gelingen, das Wesen des Menschen zu fassen. Wer hilft mir?
Cicero: Zur Wesensfindung schlage ich folgende Methode vor: wir suchen das genus proximum und die differentia specifica!
Platon: Na gut. Der Mensch ist ein Zweibeiner ohne Federn.
Sokrates: Bravo, o Platon, ich hoffe nicht, du glaubst, etwas Wesentliches gesagt zu haben!
Cicero: Der Mensch ist das vernünftige Tier
Aristoteles: besser: das zur Vernunft fähige Wesen
Kant: das zur sittlichen Selbstbestimmung fähige Wesen
Roboter: Dann bin ich ein Mensch
Gehlen: Nein, du bist zu vollkommen. Der Mensch ist ein Mängelwesen!
Nietzsche: Eben, der Mensch ist das kranke Tier!
Jesus: Ich protestiere: der Mensch ist das Ebenbild Gottes, weder Tier noch Gott!
Nietzsche: Gott ist tot!
Hobbes: Homo homini lupus!
Sokrates : Da haben wir´s mal wieder. Jeder glaubt das Wesen des Menschen zu kennen. Nur ich weiß, daß ich nichts weiß!
Wittgenstein: Und ich frage mich, was der Ausdruck "Wesen des Menschen " überhaupt bedeutet, wenn ich ihn außerhalb unseres Sprachspiels zu verstehen versuche.
Sophie: Das Wesen des Menschen ist eine Hypostase des Philosophen, der den Sprachgebrauch mißversteht.
Alberto: Ich hoffe, Sophie, zumindest Wittgenstein versteht, was du damit meinst!
Lorenz: Papperlapapp! Lassen wir doch das philosophische Geschwätz! Was den Menschen zum Menschen macht, ist sein Großhirn. Das ist eine biologische Tatsache.
Wittgenstein: Schaust du nach, ob der Schädel leer ist, um die Frage nach dem Menschsein eines Lebewesens definitiv beantworten zu können?
Lorenz: ?
Wittgenstein: Ich will sagen, ob ein Wesen ein Mensch ist oder eine Maschine oder ein Tier oder ein Gott ist keine ontologische Frage, sondern eine grammatische!
Alle: Das verstehen wir nicht!
Wittgenstein: Die Kriterien, ob jemand ein Mensch sei oder nicht, werden durch unser Sprachspiel festgelegt, und die Frage nach dem Gehirn gehört nicht zu den Kriterien.
Roboter: Also ist es völlig unwesentlich, mit welchem Instrument ich denke, ob ich mit der Hand denke, ob ich im Bauch denke, ob meine Gedanken in Siliziumkristallstrukturen gespeichert sind oder in Aminosäurensequenzen?
Wittgenstein: "Mit welchem Instrument ich denke" ist ein Satz, der in unserem Sprachspiel gar nicht vorkommt. Es würde der Logik unseres Sprachspiels nicht widersprechen, wenn sich bei der Operation unserer Schädel herausstellt, daß wir kein Gehirn haben. Die Frage nach dem biologischen Mechanismus bzw. Organ, in dem die Wissenschaft das Denken lokalisiert, gehört nicht zur Logik des Sprachspiels, das wir spielen.
Roboter: Also bin ich ein Mensch, denn ich denke.
Wittgenstein: Nein, du denkst wie ein Mensch, bist aber nicht deshalb schon ein Mensch. Denn die Fähigkeit zu denken, ist nur eines der Kriterien zum Menschsein.
Roboter: Aber es ist doch das ausschlaggebende Kriterium?!
Wittgenstein: Es gibt nicht d a s Kriterium! Sondern ein ganzes Netz von Kriterien, die in unserem Sprachspiel genau beschreibbar sind. Ob du ein Mensch bist, hängt davon ab, ob wir dich als Menschen behandeln. "Du bist kein Mensch" ist eine Aussage über unsere Grammatik und keine apriorische Aussage über dein Wesen.
Roboter: Ist das wahr? Zwischen mir und Euch besteht nur ein grammatischer Unterschied oder nicht doch ein ontologischer? Ich bin doch nur deshalb kein Mensch, weil mein Körper sich von dem des Menschen unterscheidet!
Wittgenstein: Nein, denn Mr.Johns ist ein Mensch, obwohl sein Körper zu 100% aus künstlichen Prothesen besteht.
Mr.Johns: Na klar! Dem hau ich in die Fresse, der mir mein Menschsein absprechen will! Bin ich etwa nicht Mr.Johns?
Donovan: Dieses aufmuckende Prothesengefüge ist nicht Mr.Johns, der bekannte Rennchampion der Panamericana, sondern eine Maschine und bis zum letzten Schräubchen Eigentum der Firma Cybernetics Companie & Co!
Lem: Halt dich zurück, Donavan, du bist nicht gerade der Klügste in meiner Geschichte.
Habermas: Sein erkenntnisleitendes Interesse ist nur allzu offensichtlich!
Mr.Johns: Ich ärgere mich über diesen Typ, also bin ich!
Descartes: Leider beginne ich zu begreifen, daß aus meinem cogito ergo sum nichts über die räumliche Ausdehnung meines Ichs folgt. Monsieur Johns mag zwar mit Recht denken, daß er ist. Aber daraus folgt nicht, daß diese aimable construction dort Monsieur Johns ist.
Johns: Wie bitte? Wo soll ich denn sonst sein?
Wittgenstein: Wie sollte der Zweifel aussehen, der Ihnen, Mr.Johns, die Persönlichkeit abspricht? Wir müssen hier den im Sprachspiel möglichen Zweifel vom philosophisch-metaphysischen Zweifel unterscheiden.
Alle: Was heißt das?
Wittgenstein: Wenn ich Zweifel daran habe, daß er Mr.Johns ist, dann würde ich zur Überprüfung ganz persönliche Fragen stellen , die nur er beantworten kann. "Kannst du dich daran erinnern, was ich dir nach dem ersten Rennen gesagt habe?" Und wenn Mr. Johns sich daran erinnert, würde ich dann noch glauben, er sei von außen programmiert? Wenn alle meine persönlichen Zweifel von Mr.Johns befriedigend beantwortet werden, dann ist der noch immer mögliche Zweifel ein leerer Zweifel, der keine Funktion im Sprachspiel hat und allenfalls noch Philosophen bewegt!
Moore: Na gut, geben wir zu, daß Mr. Johns alle unsere persönlichen Fragen befriedigend beantwortet. Aber ich weiß, daß Mr. Johns durch und durch ein künstliches Gebilde ist. Und dieses Wissen soll bei der Beurteilung keinerlei Belang haben? Ich gebe zu, daß die Frage nach dem Gehirn bei der Beurteilung, ob jemand ein Mensch oder kein Mensch sei, in unserem Sprachgebrauch nicht vorkommt. ABER das NICHTVORHANDENSEIN eines Gehirns gehört zum Kriterium des NICHT-Menschseins. Wenn ich also weiß, daß Mr.Johns kein Gehirn hat, so kann er kein Mensch sein, selbst wenn er sich wie ein Mensch benimmt. Ich gebe also zu, der Zweifel, ob der mir persönlich bekannte Wittgenstein trotz seiner menschlichen Verhaltensweise ein Gehirn im Schädel habe, ist ein unsinniger, leerer Zweifel. Das Wissen aber, daß Mr. Johns kein Gehirn im Schädel hat, begründet durchaus einen möglichen Zweifel.
Wittgenstein I: Das Gehirn gehört zwar nicht zur Logik des Denkens, aber es gehört zu seiner transzendentalen Voraussetzung, so wie das Auge die Bedingung des Sehfeldes ist, aber nicht zum Sehfeld gehört.
Wittgenstein II: Deine Illusion ist nur, daß du glaubst eine ontologische Aussage über den Menschen gemacht zu haben, wo du in Wahrheit nur eine grammatische Aussage gemacht hast.
Moore: Wieso?
Wittgenstein: Du willst doch sagen, ein Wesen ohne Gehirn könne kein Mensch sein. Sein Menschsein schließt du logisch aus.
Moore: ja!
Wittgenstein: In Wahrheit bist du nur berechtigt zu sagen "Ein Wesen ohne Gehirn will ich nicht mehr Mensch nennen". Es ist nämlich nicht die Logik, die dir verbietet, ein Wesen ohne Gehirn als Menschen zu denken.
Moore: Das verstehe ich nicht, wie soll ich mir einen Menschen ohne Gehirn denken können?
Wittgenstein: Indem du ihn dir denkst. Stell dir doch einfach vor, daß ein Ärzteteam bei der Untersuchung deines Kopfes feststellt, daß er absolut leer ist. Wenn du dich von der Richtigkeit der ärztlichen Diagnose überzeugt hast, würdest du dann bezweifeln, daß du noch ein Mensch seist?
Moore: Nein, eigentlich nicht, aber ich würde dann nicht mehr verstehen, wieso ich dann noch leben und denken kann!
Wittgenstein: Verstehst du es dann besser, wenn du weißt, daß du ein Gehirn hast?
Moore:???
Wittgenstein: Ich will sagen: das Gehirn gehört nicht, auch transzendental nicht, zur Logik des Denkens. Welche Logik zwingt dich zu denken, das Denken sei nur mit dem Gehirn möglich? Es ließe sich eine andere Theorie vorstellen, in der das Denken gar keinen Ort hat und in deinem Körper gar nicht lokalisierbar ist.
Sheldrake: Genau das: das Gedächtnis hat keinen Ort, sondern ist ein universales Feld, ein Schwingungszustand in Resonanz zur Eigenschwingung der Individuen.
v.Dittfurth: Der Geist existiert nicht im Gehirn, sondern ist schon mit dem ersten Wasserstoffatom existent.
Moore: Das kann ich nur verstehen, wenn ich mein Weltbild radikal verändere. Aber welche Naturtatsache zwingt mich, mein Weltbild zu ändern?
Wittgenstein: Keine! Aber von der Naturtatsache deines Gehirns geht ebenso wenig ein Zwang aus, das Denken im Gehirn anzusiedeln.
Lorenz: Willst du damit sagen, es gibt keine faktische Beziehung zwischen Gehirn und Denken?
Wittgenstein: Doch! In unserem wissenschaftlichen Weltbild schon! Unser Weltbild schließt ein Denken ohne Gehirn aus.
Moore: Also doch eine Frage der Logik und nicht der Grammatik!
Wittgenstein: Nein! Es gibt keine Logik, die mich an meinem augenblicklichen Weltbild ein für alle mal festhält. Die logischen Zwänge beruhen auf einer selbst nicht logisch begründbaren Entscheidung und haben damit wie die Grammatik den Charakter einer Konvention.
Lorenz: Aber die Verbindung von Gehirn und Denken ist doch nicht bloß eine willkürliche Spekulation. Sie ist doch empirisch begründet und kann experimentell nachgewiesen werden. Ich sehe ein, daß Gehirn und Denken nicht a priori logisch aufeinander bezogen sind, aber empirisch in der Realität sind sie auf einander bezogen. Die Realität erzwingt damit eine bestimmte Sichtweise.
Wittgenstein: Nein, umgekehrt: deine Sichtweise bestimmt, was Realität ist! Angenommen, wir würden uns der Sichtweise Sheldrakes anschließen, dann spielt die Naturtatsache unseres Gehirns eine ganz andere Rolle, z.B. die eines Senders oder Empfängers innerhalb eines Bewußtseinsfeldes und nicht die eines Behälters unserer Gedanken. Die Grammatik von Behälter und Empfänger/Sender ist völlig verschieden. Im Speicherparadigma läßt sich das Denken nicht ohne Speicher denken. Hier ist die grammatische Wurzel unseres Wissenschaftsverständnisses begründet, im Gehirn den Behälter der Gedanken sehen zu wollen, im Feldparadigma dagegen ist der Gedanke unabhängig vom Sender/Empfänger denkbar. Ein Gedanke ohne Gehirn wäre hier keine logische Unmöglichkeit und damit der Mensch ohne Gehirn eine denkbare Realität. Es wäre ja immerhin möglich, daß dieser Mensch über eine andere Antenne als das Gehirn die Gedanken empfängt. Das wäre zwar außergewöhnlich, aber nicht undenkbar. Denk an den Kochtopf, der in der Nähe einer starken Radioquelle zum Radioempfänger werden kann.
Dein Weltbild entscheidet also, was du als Realität zuläßt und was nicht, und dein Weltbild ist nicht ein für allemal festgelegt.
Moore: Aber gibt es nicht gute Gründe für die Akzeptanz eines Weltbildes und ebenso gute Gründe, abweichende Weltbilder abzulehnen?
Wittgenstein: Die guten Gründe für dein Weltbild sind immer nachträglich gefundene. Unser Weltbild ist der überkommene, ererbte Hintergrund unserer Gedanken, der selbst gar nicht mehr begründet wird. Er bildet den nichtbezweifelten Hintergrund aller unserer möglichen Zweifel.
Moore: Ja, aber du willst doch sagen, daß der nicht bezweifelte Hintergrund unserer Zweifel selbst noch bezweifelbar ist, und das möchte ich bezweifeln!
Wittgenstein: Du hast recht. Meine Zweifel reichen nicht an den Hintergrund des Zweifelns heran, berühren ihn nicht, können ihn deshalb auch nicht in Frage stellen. Aber das heißt nicht, daß dieser Hintergrund einfürallemal feststeht. Keine Logik kann ihn festhalten, und daß er sich faktisch ändert, ist durch keine Logik erzwungen. Die Änderung eines Weltbildes ist vergleichbar mit der spontanen Mutation eines Gens in der Evolution. Sie geschieht ohne Begründung.
Das neue Weltbild liefert allerdings Gründe, warum das alte nicht mehr gelten soll, kann sich selbst aber nicht begründen.
Faust: Am Anfang war und ist die Tat und nicht der Begriff.
Hegel: Das ist richtig, aber undialektisch gedacht, denn das Gegenteil gilt ebenso: die Tat setzt den Begriff, den sie voraussetzt. Gott schafft den Menschen, und der Mensch schafft Gott, beides ist ein begriffsloses Tun, aber mit dem Resultat, daß sich jeder im andern begreift. So kommt die Vernunft zu sich selbst, das ist die ganze Wahrheit.
Moore: paradoxer Unsinn!
Wittgenstein: Nein, das ist eine tiefengrammatische Aussage über das Wesen des Menschen.
Hegel: Und über Gott.
Wittgenstein: Tiefengrammatisch läßt sich Gott nicht vom Menschen unterscheiden.
Mephisto: Und der Teufel nicht vom Menschen, was der Mensch immer wieder allzu gern vergißt!
Meister Eckhart: Die unio mystica ist mehr als bloß eine Einsicht in unsere Grammatik!
Wittgenstein: Ja, aber es fehlt uns die Grammatik, darüber zu reden. Worüber wir nicht reden können, müssen wir schweigen.
Sophie: Ich glaube nicht, daß ich das verstehe!
Sokrates: Und ich weiß, daß ich nach wie vor nichts weiß!
Wittgenstein: Die Geschichte der philosophischen Anthropologie ist nichts anderes als eine Untersuchung zur Syntax unserer Tiefengrammatik, die unser Weltbild bestimmt. Ändere die Grammatik und das Weltbild ändert sich!
Alberto: und vice versa. So führt das faschistische Weltbild zur faschistischen Grammatik Jude = Ungeziefer und schließlich zur faschistischen Tat nach Auschwitz. Auch Auschwitz gehört zum Wesen des Menschen, zum Wesen des faschistischen Menschen.
Buber: Auserwähltheit und Selektion in die Gaskammer - die tödliche Grammatik des Judentums!?
Goethe: Faust und Mephisto - vielleicht nur das Wesen des abendländichen Menschens?
Sophie: wohl eher des Mannes!
Wittgenstein: In unserer Sprache zeigt sich unsere Lebensform.


Postscriptum: Etwaige Hör- oder Verstehensfehler sind ganz und gar Eigentum des Protokollanten und nicht den Philosophen anzulasten.

Bonn, im Jahre Zwei vor der Jahrtausendwende, Harald von Rappard, Protokollant