Vergleich Hegel Marx

Für Hegel endet die dialektische Entwicklung im absoluten Geist, der bei sich selbst angekommen ist, in Gott also. Die weltliche Geschichte des Weltgeistes endet dagegen in der Erschaffung des idealen Staats, den sich Hegel nach dem Muster des preußischen Staats denkt. Erst in diesem Staat objektiviert sich die Freiheit des Geistes auf vollständige Weise. Es ist der Staat, in der die politische Freiheit seiner Bürger wirklich wird. Das Bewußtsein der Freiheit konkretisiert sich vorher schon im Subjekt, im Bewußtsein, bzw. Selbstbewußtsein des Menschen(Geschichte des subjektiven Geistes). Aber mit dem Bewußtsein der Freiheit hat der Mensch noch nicht seine politische Freiheit erlangt. Die politsche Freiheit erhält der Bürger nur in dem Staat, den er auch will und nur im Staat, nirgendwo anders, kann der Bürger seine politische Freiheit verwirklichen (Geschichte des objektiven Geistes).

Für Marx endet die gesellschaftliche Entwicklung, wenn die Widersprüche innerhalb der Gesellschaft aufgehoben sind, d.h. wenn die Gesellschaft eine klassenlose Gesellschaft geworden ist. Geschichte ist für Marx eine Geschichte von Klassenkämpfen, und die Geschichte endet mit dem Ende der Klassenkämpfe. Ist die klassenlose Gesellschaft erreicht, so stirbt auch der Staat ab, da der Staat als Herrschaftsinstrument der herrschenden Klasse nicht mehr notwendig ist.

Anders als bei Hegel geht bei Marx die Freiheit nicht über das Subjekt des Einzelnen hinaus und die freie Gesellschaft ist nicht mehr als die Summe der freien Individuen. Die kommunistische Gesellschaft ist deshalb für Marx nur die bloße Assoziation autonomer Individuen und nicht eine über das Individuum hinausgehende Einheit, in der das Individuum vergesellschaftet und aufgehoben ist. Maßstab der kommunistischen Gesellschaft ist der einzelne autonome Mensch, der sein Handeln nach eigener Moral bestimmen kann (gerade nicht nach einer kommunitaristischen Moral, die noch die sozialistische Gesellschaft bestimmt). Der anarchische Freiheitsbegriff der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft (ich kann tun und lassen, was ich will)wird nur in der sozialistischen Gesellschaft stark eingeschränkt. In der kommunistischen Gesellschaft dagegen kommt er voll zur Geltung, ohne hier allerdings seine destruktive Kraft noch entwickeln zu können, weil in der klassenlosen Gesellschaft die gesellschaftlichen Bedingungen nicht mehr gegeben sind, dass hier Menschen noch über Menschen herrschen.

Für Hegel konkretisiert sich im Staat nicht nur der vergesellschaftete Mensch, sondern auch die Sittlichkeit eines Volkes. Ohne Staat kann das Volk nicht seine Sittlichkeit finden. Aus Hegelscher Sicht ist das Streben der Völker nach eigener Staatlichkeit sehr verständlich. Ebenso deutlich ist, dass die deutsche Außenpolitik noch in der Tradition Hegels steht.

Für Marx dagegen konkretisiert sich im Staat die Moral der herrschenden Klasse und vor allem das Herrschaftsinstrument der herrschenden Klasse. Der Begriff Volk wird als ideologischer Begriff des Bürgertums entlarvt, weil er die bestehenden Klassenunterschiede verdeckt. Die eigene Staatlichkeit liegt nicht im Interesse des Volkes, sondern primär im Interesse der Klasse der Besitzenden, die im eigenen Staat ihren Besitz absichern wollen. Der Besitzlose hat nichts vom eigenen Staat, genausowenig wie der Soldat, der für seinen König in das Feld zieht. Und doch sind es gerade die Depravierten, die Besitzlosen, das Lumpenproletariat, das extrem nationalistisch denkt und quasi gegen sein Klasseninteresse im Interesse der Mächtigen sich funktionalisieren und verheizen lässt. So irrational der völkische Hass gegen das Fremdvölkische ist, so rational erklärbar ist er als Folge der Depraviertheit, die ihre Wurzeln in der ökonomischen Ausbeutung und Entrechtung durch die Ausbeuter hat, aber unverstanden bleibt.

Dennoch bleibt die Frage, warum die völkische Ideologie, die die Klassenstruktur der Gesellschaft verdeckt, eine offensichtlich wirksamere Geschichtsmächtigkeit als die Klassenlage entfaltet und das 19. Jahrhundert sich im 20. und 21. Jahrhundert weiter fortsetzt, was wir jetzt auf den Balkan und beim Zusammenbruch der Sowjetunion erleben müssen, aber auch anderswo, wo sich die Ethnien gegeneinander abzugrenzen suchen.

Meine These ist: ethnische Grenzen spielen dann und nur dann eine Rolle, wenn zwischen den Ethnien ökonomische Verteilungskämpfe bestehen. Solange jede Ethnie ihr ökonomisches Auskommen hat, gibt es keine ethnischen Konflikte.

Jahrhunderte lang hat auf dem Balkan ein buntes Völkergemisch nebeneinander friedlich existieren können. Zwar haben sich die Volksgruppen kaum miteinander vermischt - den ersten nennenswerten und sogar erfolgreichen Schritt zur Integration hat der jugoslawische Staat unter Tito unternommen und die augenblicklich stattfindende Desintegration und Separierung der Volksgruppen stellt den überwunden geglaubten Zustand des 19.Jahrhunderts wieder her - eine friedliche Koexistenz auf engstem Raum war dennoch - ganz im Gegensatz zu heute - möglich. Dass sich die Völker Jugoslawiens durch ihre Herrschaftseliten in den Bürgerkrieg haben treiben lassen - nicht ohne die tätige Mithilfe der deutschen Bundesregierung - gehört zu den tragischen und unrühmlichen Kapiteln unserer jüngsten Geschichte. Der ethnische und religiöse Konflikt, der das ideologische Bewusstsein der Bürgerkriegsparteien bestimmt hat, ist indes an ökonomische Voraussetzungen gebunden, ohne die diese Konflikte gar nicht hätten entstehen können. Was sich dem ideologischen Bewusstsein als ethnischer und religiöser Konflikt darstellt, ist in Wahrheit auf einen Klassenkonflikt zurückzuführen. So gehören die christlichen und moslemischen Bosnier durchaus zur selben Ethnie. Der Religionsunterschied ist dadurch zustande gekommen, dass die ursprünglich christlichen Großgrundbesitzer auf ihren fruchtbaren Böden in der Zeit der Osmanenherrschaft zum Islam konvertierten, um der drückenden Steuerlast für alle Nichtmuslime zu entgehen. Für die serbischen Waldbauern auf ihren nicht so ertragreichen Feldern bestand keine Notwendigkeit zum Konfessionswechsel, weil sie eh kaum Steuern zahlen mussten. In Wirklichkeit geht es im bosnischen Bürgerkrieg um einen Enteignungsskrieg gegen das wohlhabende Bauertum durch die schlechtweggekommenen serbischen Waldbauern. Auch im Krieg der Kroaten gegen die Serben geht es um keinen ethnischen Konflikt zwischen zwei sich hassenden Völkern, sondern um die Zurückweisung des Herrschaftsanspruchs einer serbischen Elite und deren Ersetzung durch eine kroatische Elite. Im Krieg liegen nicht die Völker, sondern die herrschenden Klassen der beiden Völker, die ihre Völker für ihre Herrschaftsinteressen instrumentalisieren. Die Völker können keinen Nutzen aus dem Krieg ziehen. Im Gegenteil: das erlittene Leid und die Schäden durch den Krieg sind riesig. Dass die Völker sich gegen ihr genuines Interesse derart von ihren Herrschaftseliten missbrauchen lassen, liegt eben darin, dass nicht die Völker herrschen, sondern ihre Herrschaftsklassen.

Marx hat also Recht, wenn er gegen den ideologischen Schein die Klassenstruktur einer Gesellschaft als entscheidende kausale Determinante der gesellschaftlichen Praxis ansieht. Diese kausale Determinante bleibt allerdings dem ideologischen Bewusstsein transzendent. Sie ist die transzendentale Bedingung unserer gesellschaftlichen Praxis und nur dem ideologiekritischen Bewusstsein zugänglich.