Lieber schön als wahr

Eine Rede über Hölderlin, Kierkegaard und DIE ZEIT, über Wörter der Macht und solche, die eine Begegnung mit dem Religiösen ermöglichen

Von Martin Walser

In allem Sprachlichen, das sich auf Gott bezieht, sieht man Vokabular und Sprache im unstillbaren Streit. Die theologischen Vokabulare ziehen mich nur an, wenn ich Zeuge werde, dass sie einer ererbten Selbstzufriedenheit überdrüssig sind. Deshalb kam mir Karl Barth attraktiv vor. Nur Kierkegaard selber ist mir noch attraktiver vorgekommen. Die theologischen Sprachmenschen, die mit den Wörtlichkeiten, die sie für Gott vorfinden, nicht leben können: das sind die Auskunftsreichsten, wenn man die Spannung Vokabular und Sprache erleben will. Gott ist eben nach "Ich" unser wichtigstes Wort. Deshalb hat sich seinetwegen auch so viel Vokabular gebildet.

In Karl Barth kommt das exemplarisch zum Ausdruck. Außer Kierkegaard hat sich wohl keiner das religiöse Sprechen so schwer gemacht wie Karl Barth. Im Jahr 1956 schaut er zurück auf die frühen zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts, als er polemisch radikal reagiert hatte auf die allzu sorglos gewordenen Vokabulare der "liberalen oder auch positiven Theologie". Diese Theologie habe weniger von Gott geredet als vom christlich frommen Menschen. Und wie hat er 1922 auf dieses sorglos gewordene Theologenvokabular reagiert? Dialektisch. Er wollte von "der Herrlichkeit Gottes in der Schöpfung nicht lange anders ... reden als ... unter stärkster Hervorhebung der gänzlichen Verborgenheit, in der sich Gott in der Natur für unsere Augen befindet". Seine dialektische Theologie will, sagt er, "Zeugnis sein von der Wahrheit Gottes, die in der Mitte, jenseits von allem Ja und Nein steht. Und ebendarum habe er nie bejaht, ohne zu verneinen, nie verneint, ohne zu bejahen, weil das Eine wie das Andre nicht das Letzte ist."

Den bequemen Anthropozentrismus der liberalen Theologie verachtet er. Dreißig Jahre später gibt er klein bei oder groß bei. Jetzt ist Gott "Partner" des Menschen. Seine "Divinität" hat "als solche auch den Charakter von Humanität". Karl Barth hat an beidem teil, am Vokabular und an der Sprache. Jetzt das Geständnis: Je negativer er zu bleiben vermag, desto mehr hat er Sprache; je positiver er wird, desto deutlicher lebt er vom Vokabular. Solange er in der Bewegung bleibt, die keinen Stillstandsmoment erlaubt, solange er die "direkte Mitteilung" meidet, so lange hat er Sprache. 1922 fängt er an: "Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden." 1956 redet er mehr von Jesus Christus als von Gott. 1922 kommt Jesus Christus so gut wie nicht vor. 1956 beherrscht sein Name die Rede. 1922 war die Unfassbarkeit der Göttlichkeit Gottes die Erfahrung dieses Theologen Karl Barth. 1956 strömen die Sätze über vom Namen Jesus Christus. Der vermittelt jetzt alle damals erlebte, unvermittelbare Absurdität und Paradoxie.

Sein von ihm hier nicht zitiertes Vorbild, Kierkegaard, hat sich, soweit ich weiß, nie zu einer solchen Landung im Positiven verstanden. Kierkegaard hat das Theologische dann lieber ganz zum Sprachlichen werden lassen. Mein diesbezügliches Kierkegaard-Lieblingszitat: "...durch direkte Mitteilung ließ es sich nicht machen, da sich diese immer nur zu einem Empfänger in Richtung auf sein Wissen, nicht wesentlich zu einem Existierenden verhält." Sein "eigentümliches Verfahren" liege "eben in der Gegensätzlichkeitsform der Mitteilung". Das führt dann zwar auch zu Ergebnissen, aber zu solchen: ...die Gewißheit des Glaubens ist ja kenntlich an der Ungewißheit."

So empfindlich muss man wohl sein, wenn man nicht in der Gefahr untergehen will, einem anderen nur noch Wissen zu liefern, anstatt ihn als Existierenden teilhaben zu lassen an der eigenen Not. In der so genannten Heiligen Schrift, auf die sich das alles bezieht, hieß es noch: "Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war. In jener Gegend lagerten Hirten auf freiem Feld und hielten Nachtwache bei ihrer Herde. Da trat der Engel des Herrn zu ihnen, und der Glanz des Herrn umstrahlte sie. Sie fürchteten sich sehr, der Engel aber sagte zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr. Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt." Das ist Sprache. Reine Sprache. Schöne, ja, schönste Literatur. Allerdings zu einer Zeit, in der der Himmel noch bewohnbar war. Danach dann mehr Vokabulare als Sprachen, aber eben immer wieder auch Sprachen.

Die Dichter, nicht alle natürlich, aber die, sagen wir einmal, die zuverlässigsten, die sind nicht so leicht ins Positive verführbar gewesen. Zum Beispiel Hölderlin.

In der Konkordanz, die wir Professor Böschenstein verdanken, habe ich nachgezählt: Im Spätwerk kommt kein Wort so häufig vor wie "Gott", "Götter", "göttlich", 320-mal. "Himmel" und "Himmlische" 280-mal. Aber wie kommen diese Wörter vor! So, dass der Leser unmittelbar mitschwingt, wenn die Hölderlin-Sprache diese Wörter anstimmt. Man kann’s natürlich interpretieren. Aber es genügt auch das bloße Nennen. Das ist sogar das meiste. Das Nachbeten nämlich. Ich habe immer nichts lieber getan, als Hölderlin-Verse nachzubeten. Eines dieser Gedichte muss hier genannt werden, ein ganz spätes, das, überschriftslos, so lautet:

Was ist Gott? unbekannt, dennoch
Voll Eigenschaften ist das Angesicht
Des Himmels von ihm. Die Blitze nämlich
Der Zorn sind eines Gottes. Je mehr ist eins
Unsichtbar, schicket es sich in Fremdes. Aber der Donner
Der Ruhm ist Gottes. Die Liebe zur Unsterblichkeit
Das Eigentum auch, wie das unsere,
Ist eines Gottes.


Hölderlin war einerseits offenbar imstande, die Welt zu erleben, zu erfahren, als sei sie noch nicht beschrieben. So unmittelbar im Natürlichen kann er die Physiognomie eines Gottes erfahren. Eines Gottes, bitte, nicht des Gottes. Andererseits hat Hölderlin Theologie studiert. Und hat sicher erfahren, dass jedes Vokabular Religion zur Theologie werden lässt. Darauf reagiert er in seinem Was-ist-Gott-Gedicht auch. Einmal das ursprüngliche Erfahren der Welt auf eine Art, die wir religiös nennen, dann aber auch: "Je mehr ist eins / Unsichtbar, schicket es sich in Fremdes".

Das ist die indirekte Mitteilung, das ist Kierkegaards Gegensätzlichkeitsform, das ist die Scheu vor dem Vokabular, vor den gestanzten Wörtern, den adressierten Wörtern. Hölderlin hat den Anspruch des Christentums auch als Eifersucht auf die älteren Götter erfahren, von denen er nicht lassen konnte. "Christus ist ihm Herakles’ Bruder. / Christus. Diesen möchte / Ich singen, gleich dem Herkules..."

Hölderlin will keinen entbehren; geistesgegenwärtig, wie er ist, braucht er die Himmlischen alle, Herakles und Dionysos sind für ihn Christi Brüder.

Wir, ich meine die Deutschen, die bürgerlichen, die gebildeten Deutschen, wir haben im 19. und im 20. Jahrhundert die Erbschaft, die Goethe, Schiller und Hölderlin gestiftet haben, verschlampt. In diesen dreien waren die Götter Griechenlands, wenn wir es bildungshaft verschränkt sagen wollen, noch am Leben. Inzwischen ist uns diese ursprüngliche Fähigkeit, Begegnendes religiös zu erfahren, ich möchte fast sagen, irgendwie abhanden gekommen. Durch Hölderlins Sprache kann sich in uns eine Ahnung bilden davon, was religiöse Erfahrung war oder ist. Natürlich würde ich gern sagen, Hölderlins Sprache habe in mir eine solche Erfahrungsahnung produziert. Im 19. und im 20. Jahrhundert haben ja nicht nur Kierkegaard und Karl Barth gegen die machtergreifenden Vokabulare revoltiert. Zumindest genau beschrieben hat den Verlust auch Eugen Drewermann. Er wirft der "gegenwärtigen Theologie" vor, "daß sie, statt Erfahrung zu vermitteln, Begriffe zur Deutung fremder Erfahrungen lehrt, und daß sie insgesamt in ihrer Reduktion auf verstandesmäßige Argumentationsmuster den Ursprung religiöser Erfahrung mehr verschüttet als eröffnet..." Erfahrung ist immer die eigene Erfahrung. Erfahrung ist immer meine Erfahrung. Ich habe einmal sehr leichtfertig gesagt: Soziologie wurde erfunden, dass man ohne Erfahrung schreiben kann. Ich muss das zurücknehmen und sagen: Vokabulare sind dazu da, dass man am Diskurs auch mit wenig Erfahrung teilnehmen kann.

Auch ohne definitorische Anstrengung darf ich sagen: Vokabulare sind adressierte Sprachen. Und wo sie nichts als dienend sind, sind sie schönstens, bestens und nichts als willkommen. In der Medizin, in der Pädagogik. Man ist der dankbare Konsument dieser Vokabulare. Und im Politischen? Und im Moralischen? Und im Philosophischen? Bleiben wir beim Religiösen.

Bürgerliche Religiosität war dann also eindeutig protestantisch oder katholisch. Und das ist so geblieben. Die Verluste sind offenbar und längst formuliert. Man könnte davon träumen, wie reich wir wären, wenn es uns gelänge, unsere Armut zur Sprache zu bringen. Im Religiösen. Aber die Vokabulare leben vom Haben, nicht vom Sein. Wenn Hölderlin heute Dionysos, Herakles und Christus ernsthaft vereinte, würde ihn die linksliberale Zeitung DIE ZEIT als Gegner des Monotheismus tadeln. Linksliberale Intellektuelle wachen im Dienste der Aufklärung darüber, dass dem Monotheismus nichts geschehe. Ich sollte dieses Beispiel überhaupt unterdrücken, da es aber in der linksliberalen, immer der Aufklärung verpflichteten Zeitung seit Jahr und Tag vehement observiert wird und wirklich ein Paradebeispiel dafür ist, was ein Vokabular, das für das Gute-Richtige-Wahre streitet, heute leistet, kann ich es, obwohl es dabei um mich geht, nicht übergehen.

Einem Buch von mir soll Antichristliches nachgesagt werden, sogar Antijüdisches. Das sei bei mir überhaupt nichts Neues, steht in der Zeitung, das Buch "folgt nämlich penibel einem Manifest", das ich "im zeitlichen Umfeld der Paulskirchen-Rede veröffentlichte". Gemeint ist ein Text, den ich geschrieben habe für eine Hannah-Arendt-Tagung in Zürich. Ich vertraue. Querfeldein, so war der Text überschrieben. Über diesen Text heißt es jetzt, vier Jahre später: "Dieses Bekennerschreiben liefert die Melodie, nach der Walser die Figuren in seinem neuen Roman zum Tanze bittet." Jener Text, der gegen Globalisierung im Geistigen, also Ethischen gerichtet war, gegen das, was jetzt schon "Weltethik" heißt, der wird jetzt "neuheidnisch" genannt. Und in dieser Zeitung ist auf mich, den Neuheiden, schon vorher gemünzt worden, dass das Neuheidentum auch der Boden sei, auf dem das Nazitum gedieh.

Jetzt steht da: "Unerträglich findet Walser, dass die religiösen Gesetze uns vom Ureigenen der deutschen Kultur, dem Vorchristlich-Germanischen, entfremden." Und diese Behauptung wird sofort belegt mit einem Satz aus meinem Querfeldein-Text: "Da war in jedem Baum, in jeder Quelle ein anderer Gott. Unvorstellbar, daß unterm Schirm einer hingestreuten Göttervielfalt dem Planeten je hätte Gefahr drohen können." Das nennt das Vokabular "Vorchristlich-Germanisch". Dass es sich um rein Keltisches handelt, fällt dem Vokabularisten nicht ein, weil das eifernde Vokabular das Wort "Germanisch" braucht. Einem auch nur ein wenig weniger Eifrigen hätte dazu einfallen können, dass man das auch innerhalb eines Vokabulars anders hätte bezeichnen müssen: nämlich als Pantheismus. Und der Pantheismus hat in Europa durch Baruch Spinoza zur Sprache gefunden. Und Baruch Spinoza war Jude. Aber das Vokabular brauchte für diesen harmlosen Sprachausflug ins Pantheistisch-Keltische das Wort Germanisch. Klar. Wenn das Feuilleton träumt, gebiert es Pointen. Im Dienst der Aufklärung. Das aktuelle Vokabular hat sich kurzgeschlossen einem einzigen Wort zuliebe: Antisemitismus. Wie die Avantgarde des Vokabulars in den sechziger Jahren "faschistisch" oder "faschistoid" als Totschlagvokabel benutzte, so intoniert man jetzt "antisemitisch" und "Antisemitismus". Ernsthafter, weil eingreifender, wahrscheinlich auch wirksamer kommt mir der Gebrauch von Vokabular im Politisch-Historisch-Aktuellen vor. Dazu ein Beispiel aus gerade vergangener Zeit. Dass die Zeit, aus der dieses Beispiel stammt, epochal vergangen ist, macht es leichter, die hier produzierten Wörtlichkeiten ruhig zu betrachten.

1983. Wolfgang Mommsen: "Wenn nicht alles täuscht, so ist die Geschichte der deutschen Frage in ihre Normallage zurückgekehrt ... nämlich (in) der Existenz einer deutschen Kulturnation in der Mitte Europas, die in mehrere deutsche Staatsnationen gespalten ist.

Alles spricht dafür, daß die Phase des konsolidierten nationalen Gesamtstaates von 1871–1933 eine Episode in der deutschen Geschichte gewesen ist und daß wir wieder, freilich auf höherer Ebene, den Zustand erreicht haben, der in Deutschland nach 1815 bestand, nämlich einer Mehrheit deutscher Staaten, mit gemeinsamer kulturnationaler Zugehörigkeit." Da will sich also nicht irgendein Aktualist oder Opportunist zum Vernünftigmacher der deutschen Teilung ernennen, sondern ein prominenter Historiker formuliert offenbar aus der Fülle seines Wissens Sätze, die uns, den Nichthistorikern, den Nichts-als-Zeitgenossen sozusagen, verständlich machen sollen, dass die Scheußlichkeit der deutschen Teilung keine Scheußlichkeit sei, sondern Rückkehr zur deutschen Normallage. Dazu bedarf es eines Vokabulars, das heißt, dazu sind Wörter nötig, die Rationalität und Professionalität verbürgen und dadurch den gewünschten Dienst tun.

Zählen wir auf: Deutsche Normallage ist Kulturnation, gespalten in mehrere deutsche Staatsnationen. Wir waren also von 1949 bis 1989 zusammen mit der DDR eine Kulturnation. Wie das? Ist man, frage ich, eine Kulturnation, wenn dort eine Diktatur entwickelt wird und hier eine Demokratie? 1871 bis 1933 - nur eine "Phase", eine "Episode", jetzt wieder zurück bei 1815, "freilich auf höherer Ebene", heißt es da. Also, die Zweistaatlichkeit BRD-DDR war eine "höhere Ebene". 16 Millionen, die dieser Realität lieber nicht ausgesetzt gewesen wären und die ihr, wo immer es ging, zu entkommen suchten: "freilich auf höherer Ebene"? Das ist auch eine Funktion des Vokabulars. Die Sache wird durch Wertung ersetzt. Nach 1815 - und natürlich auch schon davor - haben Deutsche in den deutschen Ländern auf eine deutsche Nation zugelebt und -gearbeitet. Der Historiker löscht die Arbeit der Besten des ganzen 19. Jahrhunderts aus. Die Bismarcksche Reichsgründung war das Ergebnis, ja sogar das Ziel einer Entwicklung. So zu tun, als sei die "Normallage" der Deutschen die Kulturnation und nicht die Staatsnation, heißt, die Deutschen von den wichtigsten politischen Tendenzen des 19. Jahrhunderts abzutrennen und einen deutschen Sonderweg zum deutschen Normalweg zu machen. Die Italiener, Griechen, Polen, Tschechen, Franzosen, auch die Juden, tendierten im 19. Jahrhundert zur Nation. Und die Deutschen eben auch. Und nur um die ihrerseits nur durch den Kalten Krieg erklärbare deutsche Teilung zu rechtfertigen, lässt der Historiker ein Vokabular funktionieren, in dem von der Realität, die da beschrieben und beurteilt, nämlich gerechtfertigt wird, nicht mehr geredet wird.

Zitiert habe ich dies aus einem Buch von Jürgen Habermas. Der zitiert die Mommsen-Passage zustimmend, er kann sie brauchen in einem Gespräch, das er 1988 für die Pariser Zeitschrift Globe geführt hat. Danach plädiert er ein weiteres Mal für "Verfassungspatriotismus". Ich kenne Patriotismus nur durch Sportveranstaltungen. In jeder anderen Hinsicht halte ich Patriotismus für ein Gewand aus dem Fundus des 19. Jahrhunderts. Ehrwürdig oder komisch - aber nicht mehr tragbar. Dass man mithilfe solcher Vokabeln, denen vage etwas Denkerisch-Historisches anhaftet, einer Gesellschaft vermitteln will, jene deutsche Teilung sei ein Ergebnis eines uns eigentümlichen Prozesses, das zeigt, dass man mit Vokabularen nicht nur andere, sondern zuerst sich selber täuschen kann. Dann natürlich auch andere.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich mich immer dann von mir wegbewegt habe, wenn ich - zum Beispiel aus Mangel an eigener Erfahrung - Anleihen bei Vokabularen gemacht habe. Am peinlichsten sind mir immer noch die Anleihen beim marxistischen Vokabular. Ich habe zwar immer dazu gesagt, dass ich, schon aus Mangel an einschlägiger Bildung und durch katholische Herkunft gehemmt, mich nicht Marxist nennen dürfe, aber ich habe, um das in unserer Zeit allgemein gewordene Bedürfnis nach mehr Gerechtigkeit, das heißt, nach Gerechtigkeit auch am Werktag auszudrücken, die im Schwange befindlichen Formeln benützt. Ich war darauf vorbereitet, die Welt als verbesserungswürdig zu erleben. Von Anfang an.

Dann las ich, dass Marx und die seinen aus London, und zwar vom "Bund der Gerechten", aufgefordert wurden, die Grundsätze zu formulieren, die zur Schaffung einer gerechten Gesellschaft nötig waren. Ich hatte doch eine Kindheit lang in der ungeheizten Kirche singend meine Atemfahne gehisst mit dem Lied: Tauet Himmel den Gerechten, Wolken regnet ihn herab.

Karl Marx reagierte auf die Forderung des "Bundes der Gerechten" mit dem Kommunistischen Manifest, geschrieben in einer Sprache, die es mit dem Geschriebensein nicht bewenden lassen konnte. Die Erfahrungen, aus der diese Sprache sich nährte, waren zu dringlich, zu krass. Diese Sprache drängte auf Praxis. Und das, was zur Praxis drängte, wurde dann Vokabular. Welthistorisch wirksam. Man darf sagen, Marx habe zwar jede Menge Vokabular gestiftet, er selber ist aber kein Vokabularist gewesen. Dass er zur monotheistischen Religion wurde, liegt schon an ihm. Er hat das verlangt: kein Gott neben ihm. Aber seine Sprache ist vehement durch Erfahrung und durch das durchaus religiöse Bedürfnis, dass diese Sprache Praxis verlange: Nachfolge. Wie in der Nachfolge Christi setzte sich auch in der Marx-Nachfolge das Vokabular durch, das Kirchentaugliche beziehungsweise Orthodoxietaugliche, das Zentralkomiteehafte. Das Monotheistische eben. Die Sprache hat keinen solchen Anspruch, sie tendiert nicht universalistisch, sie ist immer persönliche Sprache. Sie drückt nur aus oder verrät zumindest, wie der, der sich da ausdrückt, gerade fühlt, denkt, meint, irrt, also ist. Jedes Vokabular ist darauf angewiesen, Recht zu haben. Keine Sprache erhebt diesen Anspruch. Erhöbe sie ihn, wird sie zum Vokabular. Vokabulare wollen es, müssen es vermeiden, missverstanden zu werden.

Es ist nicht leicht, den Verführungspotenzen der jeweils herrschenden Vokabulare zu widerstehen oder ihnen, wenn man schon von ihnen besetzt ist, wieder zu entkommen. Jedes Vokabular enthält die Einladung, an der Weltherrschaft teilzunehmen. Und wer möchte das nicht? Nachträglich kann ich, will ich sagen: Ich nicht.

Ich glaube nicht, dass man mit dem, was das Vokabular mitteilt, leben kann. Aber mitreden kann man dann. Und wie.

Die Erfahrungen, die ich mit mir als Vokabularist gemacht habe, fühlen sich wie Narben an. Und man ist den Vokabularen nie ein für alle Male entkommen. Täglich tauchen die Diskursfürsten mit neuem Kopfschmuck auf. Die für mich neueste Vokabularschöpfung: Zivilreligion. Kursiert auch schon als Eigenschaftswort: Man kann jetzt, soll vielleicht sogar zivilreligiös sein. Ich bin schon seriös getadelt worden, weil bei mir, also in mir nichts Zivilreligiöses zu entdecken ist.

Vokabulare werden ja eingesetzt wie Suchgeräte. Und dann kommt es natürlich heraus, dass ich eher regressiv, autistisch tendiere als zivilreligiös. Ich tendiere, wenn ich das selber ausdrücken dürfte, so: Je näher ich bei mir bleibe, desto eher bin ich bei allen anderen. Das ist eine Erfahrung mit dem Echo, das man, sich ausdrückend, erfährt. Sprache ist erfahrbar. Vokabular verstehbar. Sprache spricht Existierende an. Vokabular ist adressiert an Wissende. Sprache muss nicht Recht haben, Vokabular hat Recht. Kollisionen zwischen Vokabular und Sprache dienen der verletzungsreichen Unterhaltung aller an diesen Kollisionen Beteiligten und darüber hinaus auch noch derer, die für solche Kollisionen als Publikum infrage kommen. Hoffen wir.

Die Vokabulare sind beschäftigt mit Weltverbesserung. Die mit Sprache zu tun haben - und jetzt kann ich nur noch in der Einzahl sprechen –, wenn ich mit Sprache zu tun habe, bin ich beschäftigt mit der Verwaltung des Nichts. Meine Arbeit: etwas so schön sagen, wie es nicht ist.

Der Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Vortrages, gehalten am 13. Januar im Rahmen des Studium Generale an der Universität Heidelberg. Das Motto der Vorlesungsreihe: "Sind wir noch das Volk der Dichter und Denker?"

(c) DIE ZEIT 04/2003