H.v.Rappard

Welches Weltbild setzt sich historisch durch? Zur Evolution unseres Weltverständnisses: ein kausal-darwinistisches und gleichzeitig konstruktivistisches Erklärungsmodell zum Verhältnis von Basis und Überbau

Die Spontaneität des Geistes erzeugt x-beliebige Konzepte über die Welt. Dem Geist sind keine Grenzen gesetzt. Er setzt selbst die Grenzen, die er wiederum überschreitet.

Die Konzepte sind im Sinne des Konstruktivismus als Konstrukte aufzufassen und keine Abbilder der Welt. Die Frage nach deren Wahrheit oder Falschheit stellt sich also nicht.

Die Zahl der gültigen Konzepte, d.h. der Konzepte, die sich im gesamtgesellschaftlichen Bewusstsein durchsetzen, ist dagegen begrenzt und sehr klein. Jede Gesellschaft erzeugt einen Überschuss an Konzepten. Das gesellschaftliche Sein, d.i. die gesellschaftlichen Verhältnisse, hat/haben hier offensichtlich eine Selektionsfunktion. Nur die Konzepte setzen sich durch, die zum gesellschaftlichen Sein passen.

So lässt die kommunitaristische Gesellschaft das Konzept des Individualismus nicht zu. Das Konzept des Individualismus wird erst wahrscheinlicher, wenn sich die kommunitaristische Gesellschaft aufzulösen beginnt.(Wahrscheinlich geschieht Wahrscheinlicheres). Die herrschenden Ideologien sind diejenigen Konzepte, die zum gesellschaftlichen Sein optimal passen (was nichts über den Wahrheitswert der Ideologien aussagt).

Nicht neue Konzepte verändern das gesellschaftliche Sein, sondern die sich verändernden gesellschaftlichen Verhältnisse geben Raum für neue Konzepte. Die neuen Konzepte stehen gegen die alten Konzepte. Die alten Konzepte lassen die neuen nicht zu. Sie bekämpfen sie, am Anfang immer mit Erfolg. Die neuen Konzepte siegen erst, nicht wenn sie besser zu den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen passen als die alten, sondern wenn die alten überhaupt nicht mehr passen.

Die einmal gefundenen Weltbilder sind Attraktoren des Geistes, um die er kreist und von denen er sich nur schwer lösen kann. Er findet in ihnen Halt. Sie reduzieren das Chaos und die Komplexität, in die er ohne sie versinken würde. Sie haben Entlastungsfunktion. Der immer mögliche Sprung aus dem Attraktor heraus ist daher wenig wahrscheinlich, solange nicht sehr viel stärkere Attraktoren existieren.

Das ptolemäische Weltbild hat gut zur hierarchischen Gesellschaftsstruktur des Mittelalters gepasst. Das kopernikanische dagegen gar nicht. Zwar hat es die Komplexität des ptolemäischen Weltbildes im astronomischen Bereich gesenkt, die Einfachheit des mittelalterlichen Weltverständnisses insgesamt aber in Frage gestellt. Das ist der Grund, warum die Kirche so erbittert das kopernikanische Weltbild nicht nur bekämpft, sondern mit Erfolg bekämpft hat. Wer sich um wen dreht, ist nur astronomisch eine akademische Frage, in der politischen Sphäre dagegen von höchster Brisanz(Brechts Galilei).

Die hierarchische Struktur hat sich am Ende des Mittelalters längst zersplittert. Die bürgerlichen Stadtstaaten stehen in erbitterter Konkurrenz zueinander und ringen um die wirtschaftliche und politische Einflussnahme. Die Zentralgewalt des Kaisers hat sich auf die Gewalt autonomer Fürstentümer verschoben. Die Zentralgewalt des Papstes ist längst durch das Schisma der Glaubensspaltung bedroht. Die Verlagerung der Zentralgewalt hin zu vielen konkurrierenden Machtzentren spiegelt nur die Tatsache wider, dass die bürgerliche Konkurrenzwirtschaft sich gegen die bäuerlich-agrarische Produktionsweise durchzusetzen beginnt und die feudalistischen Produktionsverhältnisse zunehmend als Fessel empfindet. Das kopernikanische Weltbild, das das Zentrum der Planetenbewegung von der Erde weg in die Peripherie verlagert(zur Sonne) und selbständige Epizentren ermöglicht, die wie die Planeten ein eigenes System von Trabanten dirigieren, passt wie angegossen zu den bürgerlichen Produktionsverhältnissen, die historisch längst eingetreten sind. Der herrschende Geist dagegen bleibt vorerst weiterhin im Attraktor des ptolemäischen Weltbildes gefangen. Er hält an der hierarchisch-feudalistischen Struktur fest, die in der politischen und wirtschaftlichen Wirklichkeit längst in Auflösung begriffen ist. Zwar wird der Sprung in den kopernikanischen Attraktor wahrscheinlicher, je mehr sich die bürgerlichen Konkurrenzverhältnisse in der politischen Wirklichkeit durchsetzen. Dennoch erfolgt der Umschwung im ideologischen Überbau nicht parallel zur Veränderung der ökonomischen Basis. Er erfolgt erst mit zeitlicher Verzögerung und hinkt daher der realen Entwicklung hinterher. Das herrschende Bewusstsein ist konservativ. Der Geist hat die Tendenz, die einmal gefundenen Attraktoren nicht mehr zu verlassen. Dass dennoch eine Bewusstseinsänderung stattfindet - sozusagen gegen seine eigene konservative Tendenz - ist gerade nicht dem Geist geschuldet (der in schöner Wirkungslosigkeit x-beliebige Konzepte entwickeln kann), sondern den sich verändernden gesellschaftlichen Verhältnissen(vergl. Marx /Engels zum Verhältnis von Basis und Überbau).

Das vorgeschlagene Erklärungsmodell zur Evolution unseres Weltverständnisses hebt den Widerspruch zwischen Freiheit und Determination des Geistes auf. Das Wesen des Geistes ist seine Freiheit (Hegel) und sein teleologischer Entwurf der Weltaneignung(Sartre). Das herrschende Bewusstsein, die Ideologie der Gesellschaft, dagegen ist Resultat einer ganz und gar ungeistigen, nicht-teleologischen und damit kausal wirkenden Selektion: die nicht zu den Gesellschaftsverhältnissen passenden Weltentwürfe bleiben auf der Strecke. Die gesellschaftliche Bewusstseinsevolution wird damit nicht wie bei Hegel teleologisch verstanden, sondern kausal erklärt, obwohl kein kausaler Nexus zwischen Welt und Weltbild besteht. Das individuelle Weltbild ist reines Produkt eines spontanen und gewollten, aber nicht von außen verursachten Entwurfs des Geistes, eines individuellen Geistes, der im Kontext zu anderen Geistesgrößen von diesen angeregt, aber nicht verursacht wird. Die Wahl des gültigen Weltbildes ist dagegen nicht intendiert, gewollt. Nicht der denkende Mensch, sondern die materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse selektieren. Nur die geistigen Entwürfe überleben, die zu den Verhältnissen passen, mit ihnen kompatibel oder, im Jargon des Konstruktivismus, in ihnen viabel sind.

Die Frage nach der Wahrheit der Weltbilder, nach ihrer Verifikation und Falsifikation, stellt sich in unserem Erklärungsmodell gar nicht erst, weil hier nicht mehr die Wahrheit das Gültigkeitskriterium von Weltbildern ist. Das gültige Weltbild ist hier kein wie auch immer geartetes Ab- oder Zerrbild der Welt, das sich im Laufe seiner Evolution aproximativ der objektiven Wahrheit anschmiegt, auch kein bloßer Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern seine ideologische Brauchbarkeit innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse.

Die ideologische Funktion von Weltbildern ist allerdings nicht innerhalb des ideologischen Horizontes einsehbar. Diese ist erst aus einer transzendentalen Perspektive erkennbar. Der Ideologe glaubt fest an die Wahrheit seines Weltbildes.

Selbst die moderne Wissenschaftstheorie als Metatheorie über Theoriebildung überschreitet nicht den ideologischen Horizont, solange sie das Kriterium von Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit in der Wissenschaft selbst sucht. Die transzendentalen Bedingungen der Wissenschaft liegen nämlich außerhalb der Wissenschaft in ihrer Brauchbarkeit begründet, während sich die Wissenschaft selbst auf Wahrheitssuche wähnt und aus ihr Dignität und Legitimität schöpft. Die Genforschung zeigt beispielhaft die sie bedingenden riesigen Profiterwartungen auf, die der Genforscher selbst am wenigsten sieht und sehen will.

Nun ist es zweifellos so, dass der wahre Forscher vom edlen Motiv der Wahrheitssuche gelenkt wird. Die praktische Verwendbarkeit seiner Forschung interessiert ihn zumeist nur sekundär. Gesellschaftlich relevant sind indes die edlen Beweggründe der Forscher nur dann, wenn sie sich mit ökonomischen Interessen paaren lassen. Nicht die Wahrheit, sondern ihre Brauchbarkeit ist das Kriterium ihrer Relevanz. Eben sowenig will ich abstreiten, dass eine enorme Wissensevolution zu immer mehr Wissen stattgefunden hat. Aber auch hier ist das Kriterium nicht der Wissenszuwachs, sondern seine enorm gesteigerte Verwertungsmöglichkeit. Das Genie Leonardo da Vinci hatte schon vor 500 Jahren die Technik des Flugzeugbaus und des Fliegens entwickelt, aber seine Erfindungen waren bedeutungslos, weil für sie keine Verwertungsmöglichkeit und damit kein Bedürfnis bestand.

Das Ziel der Wissenschaft ist –transzendental betrachtet- gerade nicht das Wissen um unsere Welt. Denn je mehr das Wissen wächst, desto mehr wächst auch das Unwissen. Mit jeder gelösten Frage entstehen zwei neue Fragen. Unser Unwissen wächst exponentiell. Man kann also ebenso formulieren: unsere Wissenschaft entfernt sich vom Verstehen unserer Welt, je mehr sie voranschreitet. Der Wissensdurst ist also nur ihr ideologisches Motiv, kausal vorangetrieben wird sie durch ihre Verwertbarkeit.

Das gesellschaftlich herrschende Bewusstsein, das sich in der Wissenschaft, in der Religion, in der Kunst, in der Philosophie, in der Rechtsprechung artikuliert, ist wesentlich Produkt von Kopfarbeit, also geistige Produktion einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten historischen Epoche.

Die kausalen Bedingungen dieser Geistproduktion kann indes der historische Zeitgeist nicht aus sich selbst generieren oder ableiten. Sie bleiben ihm transzendent und sind damit seine transzendentalen Bedingungen. Erkennbar sind diese nur aus der Perspektive eines späteren Zeitgenossen, der in einer qualitativ anderen Gesellschaftsordnung lebt oder dem Ideologiekritiker, der zur betrachteten Gesellschaft einen sie transzendierenden Standpunkt gewinnen muss.

So kann Marx aus transzendental-historischer Perspektive formulieren: das Sein bestimmt das Bewusstsein, die ökonomische Basis den ideologischen Überbau einer Gesellschaft, und zwar in Abkehr zum idealistischen Philosophen, der das Verhältnis von Sein und Bewusstsein genau umgekehrt sieht: Für Hegel bestimmt erst das Denken das, was ist. Alle Seinsbestimmungen sind immer schon Denkbestimmungen. Hegel eignet sich die ganze Welt durch den Kopf an. Indem er alle Seinsbestimmungen aus dem Denken ableitet, hat er die Welt vollständig erfasst und sie auf den Begriff gebracht. Es bleibt kein dunkler Rest. Indem der Philosoph die Welt sich durch den Kopf aneignet und vollständig begreift, entsteht die Illusion, der eigentliche und einzige Schöpfer dieser Welt ist der Geist selbst(Marxens Kritik an Hegel). Die Methode der gedanklichen Aneignung der Welt wird zur Genesis der Welt selbst und der Mensch zu Gott und Schöpfer in einem. Gott kommt nach Hegel nur über den Menschen und im Menschen zu sich selbst. Diese ungeheure omnipotente Aufblähung des Ichs der Subjektphilosophie, die mit Descartes ihren Ausgang nimmt und im Deutschen Idealimus ihren Höhepunkt findet, hat selbst eine transzendentale Bedingung, die der Subjektsphilosophie verborgen bleibt: die bürgerliche Gesellschaft nämlich. Das Ich ist eine Erfindung der Renaissance und setzt die bürgerlichen Produktionsbedingungen voraus. In der kommunitaristischen Gesellschaft des Mittelalters hätte sich - wie eingangs ausgeführt - das Konzept des Individualismus nicht durchsetzen können.

Eben sowenig ist der Rationalismus und die dominante Stellung der Vernunft mit der mittelalterlich feudalistischen Gesellschaftsordnung kompatibel, dafür um so mehr mit den bürgerlichen Produktionsverhältnissen. Handel und Wirtschaft verlangen rationalistische Produktions- und Verständigungsstrategien. Glaube, Liebe, Hoffnung, die religiösen Kardinaltugenden, und die Jenseitsgewandtheit des Christentums und somit der gesamte ideologische Überbau der mittelalterlichen Gesellschaft passt nicht mehr zur ökonomischen Basis des Bürgertums. Dass die Vernunft zum bestimmenden Subjekt, zum Gott der Weltgeschichte gemacht wird (auf der politischen Bühne Robespierre mit dem Schafott und in der Philosophie Hegel mit dem philosophischsten System aller Systeme), ist paradigmatisch für das bürgerliche Bewusstsein des 18.Jahrhunderts.

Die an die Macht gelangte Vernunft, die Gott und König vom Thron gestoßen hat, wird allerdings sehr schnell im Kapitalismus desavouiert. Die Erfahrung zunehmender Entfremdung der Arbeitenden im kapitalistischen Produktionsprozess, vor allem das hilflose Unterworfensein der Gesamtgesellschaft unter den Krisenzyklus des Kapitals erweisen die Vernunft als illusionäres Konzept, an dem aber das Bürgertum mit ideologischer Verbissenheit festhält. Die Inkompatibilität der Vernunftphilosophie mit der kapitalistischen Wirklichkeit ist indes so offensichtlich geworden, dass in der Post-Moderne die Vernunftphilosophie ihre Stellung eingebüsst hat. Nicht von ungefähr ist der antirationalistische Nietzsche-Heideggerverschnitt a la Sloterdijk Mode geworden.

Der Niedergang des Vernunftparadigma in der Philosophie (nur in der Schule halten die Richtlinien noch an ihr fest) erfolgt nun nicht, weil es neuere bessere Theoriemodelle gibt, die die Fehler des alten Systems beseitigen, sondern weil die ökonomische Wirklichkeit sich von der Vernunft immer mehr entfernt und dadurch nicht mehr zur Vernunft passt. Die gesellschaftliche Vernunft, die noch in der Schule, in der Universität, in den Feuilletons der Zeitungen, in den Kulturkanälen des Rundfunks ihren festen Halt hat, spielt in Wirtschaft und Politik keine Rolle. Ihre Ohnmacht bei der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse zeigt sehr deutlich, dass es nicht das gesellschaftliche Bewusstsein ist, das das gesellschaftliche Sein bestimmt, sondern umgekehrt das Sein das Bewusstsein. Der Sozialismus als Paradigma einer philosophischen Vernunft mit einer kommunitaristischen Moral ist nicht zuletzt gerade daran gescheitert, dass er das von Marx erkannte Verhältnis zwischen Sein und Bewusstsein wieder umzudrehen versuchte und die Politik zum Primat des Handelns machen wollte.

Die anarchistische Produktionsweise des sich globalisierenden Kapitals lässt sich nicht von der Vernunft steuern und lässt nur noch Raum für anarchistische, ekklektizistische und irrationalistische Konzepte. Nur diese haben in Zukunft noch Konjunktur und zwar solange wie der Kapitalismus noch Konjunktur hat. Dass der Kapitalismus an seine und des Globus Grenze stoßen wird, ist a priori klar. Aber die Morgenröte der Vernunft bleibt uns augenblicklich nur als das Prinzip Hoffnung erhalten. Eine Chance bekommt sie erst dann, wenn der Kapitalismus an sich selbst zerbricht und die kommunitaristische Moral wiederum einen selektiven Vorteil zum Überleben erhält.

Wenn also das gesellschaftliche Bewusstsein eines fernen Tages das gesellschaftliche Sein bestimmen sollte und die Politik und nicht die Wirtschaft zum Primat des Handeln wird, dann nur deshalb, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse dies ermöglichen und sogar notwendig machen.