Harald von Rappard (Oktober 2002)

DER AMERIKANISCHE KAMPF GEGEN DEN TERRORISMUS

Vom falschen Denken zum falschen Handeln

Der unbegriffene Kampf zwischen den Kulturen
Anmerkungen zu Huntingtons clash of civilisations


Mit dem Zusammenbruch des Ostens sind den Amerikanern die Feinde abhanden gekommen. Mit der einzig übrig gebliebenen Weltmacht USA ist die Welt unipolar geworden. Das WIN-OR-LOSE-Denken der Amerikaner kommt indes nicht ohne Feindbild aus. Wenn es keinen Gegner mehr gibt, muss er konstruiert werden. Der islamische Fundamentalismus bietet sich gerade zu an, die Nachfolge des kommunistischen Feindbildes anzutreten.

Deshalb hatten amerikanische Kommentatoren den "clash of civilisations"(Huntington), den Kulturkampf des Islamismus gegen die westliche Zivilisation, prophezeit, lange bevor es zum Attentat am 11. Sept. kam. Das Attentat ist damit eine Bestätigung ihrer These, bzw. wird von ihnen als Bestätigung ihrer These aufgefasst. In Wahrheit erfüllt sich ihre Prophezeiung nur vor dem Hintergrund ihres konstruierten Feindbildes und ist deshalb eine "self-fulfilling-prophecy".

Nicht der islamische Fundamentalismus hat in New York zugeschlagen, sondern allenfalls - wenn es denn bewiesen werden könnte - eine Gruppe islamischer Fundamentalisten, die die USA als Bedrohung ihrer islamischen Identität sehen und in Amerika ihren Satan und Feind erblicken. Auch deren Feindbild ist primär ein Konstrukt ihrer manichäischen Weltsicht und genau sowenig wie die amerikanische in der Realität begründet ( Die USA unterstützen zwar die reaktionären Regime islamischer Staaten aus Eigeninteresse, aber nicht, um sich in den Islam einzumischen oder gar den Islam zu zerschlagen, wie 0. bin Laden unterstellt).

Je mehr allerdings die Amerikaner den islamischen Fundamentalismus mit dem Terrorismus gleichsetzen, was sie bei der Bekämpfung der Taliban in Afghanistan offensichtlich tun, erwächst ihnen im islamischen Fundamentalismus ein wirklicher Gegner und nicht nur ein vermeintlicher. Je mehr die Amerikaner die Taliban besiegen und militärisch siegen, desto antiamerikanischer wird der islamische Fundamentalismus. Die Amerikaner bomben den Kulturkampf erst herbei, den sie befürchten. Damit erfüllt sich nicht ihre Prophezeiung, sondern sie selbst sind es, die die Prophezeiung erst erfüllen.

Wie stellt sich der "clash of civilisation" unter transzendentalphilosophischer Perspektive im Lichte des Kohlberg-Habermas-Schema zur Moralentwicklung (KHS)dar?

Der islamische Fundamentalismus ist reaktionär. Er fühlt sich durch jede nachkonventionelle Moral bedroht, entsteht deshalb auch erst in der nachkonventionellen Phase der Moralentwicklung einer Gesellschaft und legitimiert den Rückgriff auf die konventionelle Moral des Islam gesinnungsethisch, ebenso seinen Rückfall auf die vorkonventionelle Vergeltungsmoral im Verteidigungskampf des Islam gegen die empfundene Bedrohung durch den Westen.

Die amerikanische Gesellschaft dagegen ist in ihrer politischen Struktur demokratisch und realisiert damit die erste nachkonventionelle Moralstufe ( die 5. Stufe im KHS ) einer Gesellschaft. Ihre demokratischen Prinzipien legitimiert sie gesinnungsethisch ( 6. Stufe ) und will diese auch universell oder global durchsetzen. Gegenüber der konventionellen Stufe des Islamismus ist sie progressiv und weltoffen und aufgeschlossen und nicht wie der fundamentalistische Islam abgeschlossen, ausschließend und identitätsbedroht.

Auf der ökonomischen Ebene dagegen ist die amerikanische Gesellschaft noch ganz und gar von der vorkonventionellen Moralstufe bestimmt. Der Kapitalismus setzt auf Lustmaximierung ( 1. Stufe ) und geht nicht über die Moral des Do-ut-des hinaus ( 2. Stufe ). Ebenso wenig geht die alttestamentarisch orientierte Religiosität der amerikanischen Gesellschaft in ihrer Vergeltungsmoral über die vorkonventionelle Moral hinaus. In der Vergeltungsmoral trifft sich der amerikanische und islamische Fundamentalismus. Das Erschreckende ist, wie schnell die nachkonventionelle Moral der amerikanischen Demokratie in den alttestamentarischen Fundamentalismus der vorkonventionellen Moral zurückfällt, sobald sie bedroht ist oder sie sich bedroht fühlt.

Das zeigt sehr deutlich, dass der demokratische moralische Überbau der amerikanischen Gesellschaft bloße Ideologie ist, Zuckerguss über der Primitivmoral einer kapitalistischen Gesellschaft. Das ist übrigens ein wesentlicher Kritikpunkt des feudalistisch-mittelalterlichen Islamismus gegenüber dem westlichen Kapitalismus. Der Kapitalismus zerstört die kommunitaristischen, hierarchischen Strukturen der konventionellen Moral, zerschlägt die gewachsenen sozialen Bindungen der Menschen untereinander, atomisiert die Menschen zu bindungslosen Wesen und stößt sie zurück in den Egoismus der vorkonventionellen Moral. Es ist kein Wunder, dass jede konventionelle Gesellschaft den amerikanischen Traum als Trauma erfährt. Das Problem sind nicht die westlichen Ideologien, z.B. die Philosophie der Aufklärung, die den Islam bedroht. Das Problem ist der sich globalisierende Kapitalismus, der alle vorkapitalistischen, kommunitaristischen Gemeinschaften zerstört.

Wenn es der Kapitalismus ist, der die konventionelle Gesellschaft und Moral zerschlägt, so ist seine Personifikation im Satan Amerika ein Zeichen völliger Begriffslosigkeit und genau so begriffslos wie Bushs Personifikation des Bösen in Osama bin Laden.

Der Kampf gegen den Kapitalismus kann nicht durch Terror gegen Amerika oder gar Vernichtung von Amerika gewonnen werden. Genauso wenig kann der Terror durch Terror gegen den islamischen Fundamentalismus oder dessen Vernichtung gewonnen werden. Der Terror ist die grässliche und doch letztlich ohnmächtige Antwort einer konventionellen Moral, die existentiell bedroht ist. Der staatliche Gegenterror ist die ebenso ohnmächtige Antwort der Vergeltungsmoral. Die beiden Moralpositionen sind gleichermaßen blind gegenüber den wahren Ursachen ihres Handelns. Gegeneinandergesetzt verhalten sie sich als Binnenethiken, die die Moral der anderen als verdammungswürdig denunzieren und sich gegenseitig ausschließen.

Beide Positionen sind fundamentalistisch, beide legitimieren sich gesinnungsethisch. Beide Gesinnungsethiken beanspruchen Macht und Weltgeltung. Eine moralisch mittlere Position zwischen zwei binnenmoralischen Positionen gibt es nicht. Der Konflikt wäre nur lösbar, wenn beide Konfliktparteien ihre Binnenmoral transzendieren und das heißt, sie aufzugeben zugunsten der nachkonventionellen Universalmoral. Aber dazu ist keine Binnenmoral fähig. Wäre sie es, wäre sie keine Binnenmoral mehr.

Der Kampf der Kulturen, in den uns die amerikanischen Bomben treiben - wenn auch ungewollt - ist in Wahrheit gar kein Kampf zwischen der westlichen Zivilgesellschaft und der islamischen Kultur. Der Konflikt liegt nur scheinbar zwischen der konventionellen und nachkonventionellen Gesellschaftsstufe. In Wahrheit liegt der Konflikt in dem Widerspruch zwischen der vorkonventionell organisierten Wirtschaftsform des Kapitalismus und jeder Form der Kultur begründet, die über die vorkonventionelle Moralstufe hinausgeht. Jede menschliche Kultur beginnt erst mit der konventionellen Moralstufe. Die vorkonventionelle Moral geht nicht über den egoistischen Nutzen für das Individuum hinaus. Der Mensch als Gesellschaftswesen, als zoon politikon , braucht einen moralischen Attraktor, der den egoistischen Nutzen des Einzelnen übersteigt und einen höheren gesellschaftlichen Organisationsgrad verlangt. So sind im Laufe der Geschichte Tausende unterschiedlichster Kulturen entstanden, die alle eine spezifische Tradition, einen Ethos, entwickelten, in denen die Menschen Jahrtausende überleben konnten.

Mit dem Beginn des Kapitalismus setzt in der Geschichte ein bis dato nicht da gewesener Zerstörungsprozess aller Kulturen ein. Der Kapitalismus befreit die Menschen aus ihren Traditionen, atomisiert und vereinheitlicht sie zu einer amorphen Masse bloßer Produzenten und Konsumenten eines riesigen Warenkorbs. Gleichzeitig findet eine gigantische Sinnentleerung statt. Kunst, Religion und Philosophie werden auf ihren konsumtiven Gebrauchswert in einer hedonistischen Gesellschaft reduziert.

Die primitive Moral des Kapitalismus hat einen selektiven Vorteil gegenüber Kulturen, die auf Grund ihres höheren gesellschaftlichen Organisationsgrades einen höheren Energieaufwand zu ihrer Aufrechterhaltung brauchen und damit ein fragiles Gebilde bleiben. Mit dem Kapitalismus siegt die Kulturlosigkeit über die Kultur und zwar nicht nur über die außerwestlichen Kulturen und Traditionen wie den Islam, den Buddhismus, den Hinduismus etc. Der Kapitalismus verdrängt auch die eigene, abendländische Kultur: das Christentum, Judentum, den Humanismus, die Aufklärung, die Vernunftphilosophie und degradiert sie zum ideologischen Firnis, der die vorkonventionelle oder vorkulturelle Moral der brutalen Konkurrenzgesellschaft übertünchen soll.

Die westliche Welt ist also selbst das erste Opfer ihres von ihr gezeugten Kindes, das sie den freien Markt nennt, Regression in eine vorkulturelle Barbarei aber bedeutet. Solange wir unsere eigene barbarische Wirtschaftsform nicht erkennen, die sowohl uns als auch die anderen Kulturen zerstört, wir sogar umgekehrt die Illusion haben, wir würden die christlich-humanistischen Werte unserer Kultur gegen den Terror verteidigen, ist ein moralischer Diskurs zwischen den Kulturen völlig zwecklos.

Es gilt zu erkennen, dass die transzendentalen Bedingungen des Terrors in unserer Gesellschaft selbst liegen, selbst wenn wir empirisch den Terrorakt als von außen an uns herangetragen erleben