Harald von Rappard (März2003)

DIE GROßE LÜGE - die Krise in der Politik ist auch die Krise der Experten

Wir müssen umdenken, aber in eine ganz andere Richtung, als die Experten uns weisen.

Wie lange wollen uns eigentlich unsere Experten noch weis machen, dass Wachstum, Beschäftigung und der Rückgang des Arbeitslosenheeres einzig und allein durch die Verschlankung des Sozialstaates erreichbar sei? 16 Jahre ist die schwarz-gelbe Koalition mit diesem Konzept an die Wand gefahren und jetzt versucht die rot-grüne Koalition nahtlos an das gescheiterte Konzept anzuschließen, sehr zur Befriedigung der Schwarz-Gelben, die es schon immer besser, in Wahrheit also schlechter wussten. "Mitnichten!" protestieren diese. Ihr immer schon richtiges Konzept sei nur von der SPD blockiert worden, so wie jetzt wiederum die Gewerkschaften die längst überfälligen Reformen zu blockieren gedächten. Tenor der neoliberalen Konservativen: Hätten wir bei Zeiten unser richtiges Konzept unverwässert politisch durchsetzen können, ständen wir heute nicht vor den desolaten Arbeitsmarktproblemen. Deutschlands Probleme seien also hausgemacht und könnten durch eine klassisch neoliberale Politik gelöst werden.

Die Philosophie der neoliberalen Wirtschaftspolitik ist so klar wie simpel: Ein Rückgang der Arbeitslosigkeit ist nur erreichbar, wenn die Wirtschaft floriert. Und die Wirtschaft floriert nur, wenn die Arbeitslöhne niedrig genug sind, vor allem aber die Lohnnebenkosten drastisch gesenkt werden, die den Sozialstaat bezahlen. Nur dann ist die deutsche Wirtschaft auf dem globalisierten Markt noch konkurrenzfähig. Die unvermeidliche Globalisierung des Marktes verlangt also Opfer und Lohneinbuße von der Arbeitnehmerschaft. Jedes Hinauszögern dieses notwendigen Anpassungsschritts an das niedrigere Lohnniveau der internationalen Konkurrenz macht Deutschland konkurrenzunfähiger und führt letztlich zum Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft mit ungleich höheren Arbeitslosenzahlen als heute schon existieren.

Nun gut, folgen wir unseren Experten, tun wir genau das, was die Neoliberalen fordern. Gehen wir sogar ein Stück weiter. Bauen wir den Sozialstaat nicht nur um – wie die Sozialdemokraten es euphemistisch formulieren – schaffen wir ihn ganz ab. Schaffen wir bei uns amerikanische Verhältnisse: keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, kein Kündigungsschutz, keine gesetzliche Renten- und Krankenversicherung, kein Arbeitslosengeld, auch keine Sozialhilfe. Was spricht eigentlich dafür, dass dann unsere Wirtschaft zu boomen beginnt? Gibt es denn keine Arbeitslosigkeit in den USA? Lebt die Arbeiterklasse in den USA, wenn schon nicht sicherer, so wenigstens besser? Ist der Prozentsatz der Menschen, die in den USA unterhalb der Armutsgrenze leben, nicht sehr viel höher als bei uns? Und warum boomt die amerikanische Wirtschaft nicht, wo sie doch alle neoliberalen Bedingungen auf ideale Weise erfüllt?

Die neoliberale Auffassung, wenn es den Reichen besser ginge, gehe es auch den Armen besser, ist ein metaphysisches Gespinst, das sich durch nichts in der Wirklichkeit belegen lässt. Die Realität zeigt vielmehr, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Genau vor dieser Realität schließen unsere Experten die Augen. Von ihr wollen sie nichts wissen.

Was die gesamte Schar der selbst ernannten Experten - angefangen von Stoiber, Merz, Westerwelle und jetzt auch Schröder bis hin zu den Redakteuren der ZEIT, des FOCUS , der FAZ und der BILD - ausnahmslos nicht bereit ist einzusehen, ist die schlichte Erkenntnis, dass der fortschreitende Arbeitsplatzabbau unserem Wirtschaftssystem immanent ist.

Der ungebremste Produktivitätsfortschritt in der Entwicklung neuer Technologien führt zwangsläufig dazu, dass immer weniger Menschen dazu gebraucht werden, den benötigten Warenkorb der Gesellschaft zu erstellen. Der Arbeitsmarkt absorbiert zunehmend weniger Arbeitskräfte. Unser Wirtschaftssystem produziert damit permanent die überschüssige Arbeitskraft. Das Heer der Arbeitslosen lässt sich durch keine Wirtschaftspolitik korrigieren. Es ist zwangsläufige Folge unseres kapitalistischen Wirtschaftssystem, also ein Systemfehler und kein Politikfehler.

Es ist nun nicht so, dass unsere Gesellschaft kein sinnvolles Betätigungsfeld mehr böte. Wir brauchen viel mehr Lehrer, Sozialpädagogen, Ärzte, Krankenhauspersonal etc, um den Anforderungen unserer Gesellschaft gerecht zu werden. Überfluss besteht nicht an brauchbarer Arbeit, die unermesslich groß ist, sondern an verwertbarer Arbeit, die zunehmend geringer wird.

Verwertbar ist im Kapitalismus nur die Arbeitskraft, die mehr einbringt als sie kostet. Kann der Unternehmer sein Warenangebot durch Rationalisierung schon mit 70 Arbeitskräften statt bisher mit 100 erzeugen, dann sind für ihn auch nur noch 70 Arbeitskräfte verwertbar. Jede zusätzliche Arbeitskraft schmälert seinen Profit und diesen Profit braucht er, um ihn in den Betrieb zwecks weiterer Rationalisierung zu reinvestieren. Dazu ist er gezwungen, denn die Konkurrenz schläft nicht. Diese hat, um ihren Marktanteil zu halten, rationalisiert und die Preise gesenkt. Also muss auch er die Preise senken und weiter rationalisieren, um seine Profitrate zu halten. Wer nicht schnell genug seinen Betrieb modernisiert und rationalisiert, bleibt auf der Strecke.

Das ist die bittere Erfahrung der Gewerkschaften in den letzten 20 Jahren: Die Unternehmer investieren nicht, um neue Arbeitsplätze zu schaffen, sondern in den Arbeitsplatzabbau. Die Steuergelder, die der Staat vom Sozialetat abzwackte und als Investitionshilfe den Unternehmen anbot, haben die Unternehmer fast ausnahmslos zur Rationalisierung ihrer Betriebe genutzt und damit zum Stellenabbau. Was die Gewerkschaften wiederum nicht einsehen wollen, ist, dass die Unternehmer gar nicht anders konnten, wenn sie auf dem Markt nicht untergehen wollten.

Der einzelne Unternehmer will durch Rationalisierung seine Profitrate halten oder sogar steigern. Das Resultat der Anstrengung aller Unternehmer ist aber, dass ihre Profitraten langfristig fallen. Das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate hat schon Marx erkannt. Die durch die Konkurrenz vorangetriebene gesamtgesellschaftliche Produktivitätssteigerung - die eigentliche Dynamik des kapitalistischen Systems also - bedingt den Fall des Warenwerts, weil sich nunmehr die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit verkürzt, die gebraucht wird, um die Ware herzustellen (nach der Arbeits-Wert-Lehre der klassischen Nationalökonomie wird der Wert einer Ware durch die in ihr steckende gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit bestimmt). Die Preise, die je nach Angebot und Nachfrage um den Warenwert oszillieren, fallen also. Das ist gut für den Kunden, schlecht aber für den Unternehmer, dessen Profitrate trotz kurzfristiger Erhöhung langfristig sinkt.

Aber selbst wenn man den von Marx prognostizierten tendenziellen Fall der Profitrate und die ihr zugrunde liegende Arbeits-Wert-Lehre nicht anerkennen will, so ist der Zusammenhang von Rationalisierung und Arbeitslosigkeit empirisch zu offenkundig geworden, als dass er noch geleugnet werden könnte. Dennoch wird er von keinem einzigen Experten wahrgenommen und wenn, dann nicht thematisiert.

Wie kommt das? Ist es denn so schwer einzusehen, dass die Binnennachfrage einbrechen muss, wenn immer mehr Menschen aus dem Arbeitsmarkt herausfallen und nichts mehr verdienen oder wenn nach dem Holländischen Modell die Arbeitnehmerschaft insgesamt weniger verdient?

Vergeblich haben die Gewerkschaften darauf hinzuweisen versucht, dass der Export deutscher Industriegüter nach wie vor floriert, was die These der Experten widerlegt, die deutsche Wirtschaft sei auf grund ihrer zu hohen Lohnnebenkosten nicht mehr konkurrenzfähig, aber ebenso die Erklärung der Regierung widerlegt, die die erfolglose Arbeitsmarktpolitik mit der weltweiten Konjunkturflaute zu begründen versucht. Eingebrochen ist der Binnenmarkt, aber nicht wegen zu hoher Preise auf grund zu hoher Lohnnebenkosten, wie uns die Experten predigen, auch nicht weil Geiz plötzlich geil geworden ist, sondern weil zum einen eine immer größere Anzahl von Menschen weniger oder gar nichts mehr verdient und kein Geld mehr ausgeben kann, zum anderen aber die Nachfrage nach länger dauernden Gebrauchsgütern gesättigt ist. Die Preise für Waschautomaten, Trockner, Geschirrspüler, Gefrierschränke, Stereoanlagen, Fernseher etc purzeln. Sie können ins Bodenlose fallen, ohne dass sich die Nachfrage erhöht, eben weil fast alle Haushalte schon versorgt sind. Warum kommt kein einziger Experte zur Einsicht, dass es auf dem Gebrauchsgütermarkt eine Sättigungsgrenze gibt, die durch keine Werbeindustrie endlos weiter ausgedehnt werden kann?

In Deutschland floriert einzig noch die Luxusgüterindustrie, deren Adressat die Reichen und Besserverdienenden sind. Aber auch hier macht sich eine Verwertungsschranke geltend. Die Reichen werden immer reicher, die Anzahl der Besserverdienenden dagegen kleiner. Verdienen kann die Luxusgüterindustrie nicht an den Reichen, die schon alles haben. Wer sich 100 Yachten leisten kann und dann 1000, wird in der Regel nicht mehr als eine Yacht besitzen wollen. Je mehr der Reichtum in den Händen weniger Menschen akkumuliert, desto mehr sinkt auch der Bedarf an Luxusgütern. Es ist die breite gut verdienende Mittelschicht, die die Nachfrage nach Luxusgütern erzeugt. Verliert die Mittelschicht an Breite oder wird ihr Einkommen durch Steuern und Abgaben erheblich geschmälert, so wird auch der Luxusgütermarkt im Inland einbrechen.

Der Einbruch des Binnenmarktes, wenn auch nicht die Zunahme der Arbeitslosigkeit, hätte durch eine sozialdemokratische Wirtschaftspolitik verhindert bzw. verzögert werden können. Der Entsetzensaufschrei des Arbeitgeberlagers und aller neoliberalen Experten, als Lafontaine die Gewerkschaften zu einem tüchtigen Schluck aus der Lohnpulle ermunterte, erfolgte, weil der Nerv des bürgerlichen Klasseninteresses getroffen schien, nicht aber, weil die Zumutung sachlich nicht erfüllbar gewesen wäre. Der florierende Export zeigt, dass es durchaus Spielraum für Lohnerhöhung gegeben hat und immer noch gibt. Stattdessen werden die Gewerkschaften von CDU, CSU, FDP und dem Heer der Experten und medialen Meinungsmachern völlig in die Defensive und ins gesellschaftliche Abseits gedrängt. Allen voran nun auch der Kanzler Schröder und eine SPD, die dem neoliberalen Konzept folgt und ernsthaft glaubt, die Zunahme der Arbeitslosigkeit durch die Reduktion des Sozialstaates verhindern zu können.

Unter richtiger Ökonomie hat Schröder immer schon die neoliberale zum Mainstream gewordenen Denkschule verstanden, die die Nachfrage durch das Angebot erzeugen will und mit einer restriktiven Haushaltspolitik verbunden ist. Falsch dagegen hält er die keynsianische Alternative zum neoliberalen Konzept, die von den Gewerkschaften und Lafontaine propagiert worden ist: großzügige Lohnerhöhungen, um die Massenkaufkraft zu steigern, was wiederum die Nachfrage erhöht und damit die Konjunktur ankurbelt, unterstützt von einer nichtrestriktiven Haushaltspolitik, die Konjunkturprogramme zur Ankurbelung der Wirtschaft finanziert.

Lafontaine hat sein Konzept weder gegen den erbitterten Widerstand der Wirtschaft noch gegen den neoliberalen Flügel seiner Partei durchsetzen können. Sein Rücktritt ist deshalb nur konsequent, für die Identität der Sozialdemokratie aber von verheerender Wirkung gewesen. Wenn heute Kanzler Schröder öffentlich die neoliberale Position bezieht und auf Kosten der Arbeitslosen, Sozialhilfeempfänger und Rentner die Wirtschaft wieder flott machen will, also genau das tut, was die Schwarz-Gelben immer schon wollten, aber gegen den Widerstand der Roten nicht konnten, dann erfüllt er zwar die Erwartung der bürgerlichen Klasse, der Identität der Sozialdemokratie versetzt er aber einen Todesstoß. Die SPD und der Kanzler werden die nächste Wahl verlieren, weil die Wähler der Sozialdemokraten den Urnen fern bleiben werden.

Meine These allerdings ist, dass weder die neoliberale Wirtschaftspolitik noch die keynsianische a la Lafontaine das Problem der Arbeitslosigkeit in den Griff bekommt. Die genuin sozialdemokratische Politik Lafontaines hätte den Einbruch der Binnennachfrage verzögern können, nicht aber das Arbeitslosenheer abbauen können.

Können die Märkte quantitativ nicht mehr expandieren und globaler als global kann sich der Markt nicht ausbreiten, so wird der Arbeitsplatzabbau zum durchgängigen Prinzip unserer kapitalistischen Wirtschaftsform. Selbst wenn die Wirtschaft boomt, dann nur mit zunehmend weniger Arbeitskräften. Das ist die bittere Wahrheit, vor der alle unsere Experten die Augen schließen. Warum tun sie das, wo doch jeder Laie eine Entlassungswelle nach der anderen auf dem Arbeitsmarkt wahrnimmt und sogar der Experte selbst sich von Entlassung bedroht fühlt?

Die Antwort ist ebenso klar: nicht, weil unsere Experten zu blöd sind die Wahrheit zu erkennen, sondern weil mit der Anerkennung dieser Wahrheit unser ganzes Wirtschaftssystem zur Disposition steht. Die Entwicklung einer Alternative zu unserem kapitalistischen Wirtschaftssystem wäre dann das Gebot der Stunde.

Mit dem Untergang des Sozialismus hat sich die Alternative zum Kapitalismus von selbst aufgelöst. Ein Rückbezug auf ein wie auch immer geartetes sozialistisches Ordnungssystem käme einem Tabubruch gleich, den kein Experte mehr öffentlich zu äußern wagt, wenn er ernst genommen werden will. Dennoch muss der Tabubruch erfolgen und die Denkverbote gegen das marktwirtschaftliche System durchbrochen werden, wenn die Wahrheit anerkannt wird.

Wie lange noch wollen die Experten ihre Augen vor der Realität schließen? Schon jetzt wird deutlich, dass der Lehrstellenmarkt gerade noch 60% eines Jahrganges absorbiert. Die Abiturienten verdrängen die Realschulabsolventen und diese wiederum die Hauptschulabgänger von ihren angestammten Lehrstellen. Wie soll eine Gesellschaft es aushalten, wenn 40% eines Jahrgangs auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr vermittelbar sind? Wenn wir nicht südamerikanische Verhältnisse wollen, in den sich die Reichen durch Stacheldraht und Leibgarden vor der verelendeten Bevölkerung zu schützen suchen, die in den Favelas dahinvegetiert, so bleibt uns gar nichts anderes übrig, als neben dem privatwirtschaftlichen Sektor einen staatlichen bzw. kommunalen Arbeitssektor zu eröffnen, der den Arbeitswilligen ein sinnvolles Betätigungsfeld eröffnet.


Ein Gegenmodell zum herrschenden neoliberalen Konzept der Parteien

Oberstes Ziel des staatlichen/kommunalen Arbeitssektors wäre nicht seine Profitabilität, sondern seine Brauchbarkeit für die Gesellschaft. Zu seiner Brauchbarkeit gehört, dass er jedem Arbeitswilligen eine sinnvolle Tätigkeit ermöglichen kann: der Staat in einem seiner diversen klassischen Tätigkeitsfelder: in der Kunst, der Bildung, Wissenschaften, Gesundheit, Energie, Kommunikation, Verkehrswesen, Polizei, Justiz, Regierung und die Kommune in den diversen sozialen Einrichtungen: von der Kinderbetreuung bis hin zur Straßen- und Landschaftspflege.

Es war und ist ein schwerwiegender Fehler gewesen, dass sich der Staat aus vielen seiner Tätigkeitsfelder herauszuziehen begann und diese dem Privatsektor überlassen hat. Ein ebenso großer Fehler ist es, wenn jetzt die Kommunen auf grund leerer Kassen ihre sozialen Einrichtungen abbauen oder aufzulösen beginnen ( in Köln allein sollen 4500 Stellen dem Rotstift zum Opfer fallen).

Allein die Bundespost und die Bundesbahn haben als staatliche Institution über eine halbe Million Menschen Arbeit und Brot gegeben. Mit ihrer Privatisierung hat ein gigantischer Stellenabbau begonnen, bei der Bahn mit dem sichtbaren Resultat, dass die Nebenstrecken stillgelegt und die Züge teurer und auf grund des eingesparten Personals auch dreckiger und unpünktlicher geworden sind. Bei der Post merken wir die Einschränkung der Service-Leistungen im Abbau der Briefkästen und durch Auflösung kleinerer Filialen. Und was wäre so schlimm, wenn wir heute noch die alten höheren Telephongebühren der Bundespost zahlen müssten, bei gleichzeitiger Sicherheit, dass Hunderttausende von Menschen einen sicheren Arbeitsplatz gehabt hätten?

Staatsbetriebe sind normalerweise defizitär. Sie kosten mehr als sie einbringen. Deshalb will der Staat diejenigen seiner Tätigkeitsfelder loswerden, die sich privatisieren lassen. Auch hier geht die Rechnung nicht auf: die durch die Privatisierung vernichteten Arbeitsplätze treiben die Arbeitslosigkeit in die Höhe, die letztlich dem Staat noch teurer zu stehen kommt (falls er den Sozialstaat nicht ganz abschaffen will). Der staatliche Arbeitssektor ist sicherlich teuer und muss bezahlt werden. Zahlen kann nur der Konsument staatlicher Dienstleistungen und der Steuerzahler. Wichtig ist die Feststellung, dass der staatliche Sektor auf grund seiner Aufgabenstellung niemals kostendeckend arbeiten kann und nach unserer Vorstellung auch gar nicht erst sollte. Die defizitären Kosten muss der Steuerzahler aufbringen. Es ließe sich durchaus vorstellen, dass der Staat seine Dienstleistungen allen seinen Bürgern kostenlos anbietet. Dann hätte der Steuerzahler alle Kosten zu tragen.

Klar ist allerdings, dass der staatliche und kommunale Arbeitssektor nicht beliebig erweiterbar ist. Es ist nach wie vor die Wirtschaft, die ihn tragen muss. So kann der staatliche/kommunale Arbeitssektor nur in dem Maße wachsen, wie die Produktivität der Wirtschaft wächst. Der Staat/die Kommune kann also zusätzlich nur die Anzahl von Menschen besolden, die durch den Rationalisierungsgewinn in der Wirtschaft freigesetzt werden.

Stellen wir uns in einem Gedankenexperiment folgende Sachlage vor. Die Anzahl der Arbeitslosen hat die 6 Millionengrenze erreicht, eine zweifellos nicht unrealistische Annahme. Der Staat hat wieder sein klassisches Aufgabenfeld übernommen ( also auch Bahn, Post, Gesundheit, Verkehr, Energie) und bietet allen Arbeitswilligen einen Arbeitsplatz an, den - sagen wir einmal - 5 Millionen Arbeitslose annehmen (es wird immer einen Restbestand von Menschen geben, die zu keiner Arbeit fähig oder willens sind). Diese werden nach dem Schwierigkeitsgrad der Aufgabenstellung bezahlt. Das Durchschnittsgehalt soll 20000 Euro p.a. betragen. Zur Anstellung des Arbeitslosenheeres hätte der Staat also 100 Milliarden Euro aufzubringen. Wenn man bedenkt, dass dieser Betrag noch nicht einmal dem entspricht, der jährlich dem Fiskus durch Steuerflucht und Steuerhinterziehung entgeht, dann erscheint er gar nicht mehr so unbezahlbar zu sein. Es fehlt nicht das Geld, um eine Gesellschaft zu schaffen, die das Recht auf Arbeit verwirklicht. Was fehlt, ist der Wille der Kapitalbesitzer, ihre Steuern zu bezahlen.

Ich plädiere nicht für die Abschaffung des freien Marktes, sondern nur für die Ergänzung und Ausweitung des staatlichen und kommunalen Arbeitssektors dann und dort, wo der freie Markt versagt und die Menschen nicht mehr in den Arbeitsprozess integrieren kann. Eine derartige Gesellschaft wäre allerdings nicht mehr die alte kapitalistische Gesellschaft und mehr als bloß die verwirklichte soziale Marktwirtschaft. Der Markt spielt noch eine wichtige und tragende Rolle, aber nicht mehr die Rolle, wenn ein wesentlicher Teil gesellschaftlicher Arbeit nicht mehr durch Profitabilität bestimmt, sondern nach den Kriterien der Vernunft organisiert wird. Ein großer Teil der Menschen gewinnt wieder an Handlungskompetenz und ist nicht mehr nur bloßes Objekt des von ihm erzeugten Kapitals. Der Mensch hat die Wahl, jeder Zeit aus dem kapitalistischen Markt auszusteigen und zum staatlichen Sektor zu wechseln. Zwar verdient er dann nicht mehr so viel, aber seine staatliche Besoldung reicht, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.

Die Klassengesellschaft ist damit noch nicht aufgehoben, aber sie ist bedeutungslos geworden. Der Kapitalist herrscht nicht mehr über den Arbeiter, wenn dieser sich ihm entziehen kann. Die Klassenherrschaft ist beseitigt, der Sozialismus allerdings noch nicht ausgebrochen. Die Klassenunterschiede sind noch gewaltig. Der gesellschaftliche Reichtum noch sehr ungleich verteilt. Dafür findet die Verelendung der Arbeiterklasse nicht mehr statt und die destruktive Dynamik, die der kapitalistischen Gesellschaft eigen ist, findet ein Ende.

Die positive Dynamik des freien Marktes in der Entwicklung der Produktivkräfte bleibt uns dagegen erhalten. Sie wird sogar noch verstärkt, weil jetzt der private Arbeitssektor von allen hemmenden Fesseln befreit werden kann. Der Kündigungsschutz kann fallen. Der Unternehmer soll grenzenlos verdienen dürfen und heuern und feuern, so viel er will. Seiner Willkür sind allerdings Schranken gesetzt. Der Preis der unqualifizierten Arbeitskraft kann nicht unter die Besoldung fallen, die diese Arbeitskraft im staatlichen oder kommunalen Sektor erhält. Die qualifizierten Arbeitskräfte dagegen, die der Arbeitsmarkt in Zukunft dringend braucht, sind weniger austauschbar, damit rarer und sehr viel teurer, für den Betrieb als Leistungsträger unabdingbar und damit von Entlassung weniger bedroht. Von den Leistungsschwachen kann sich der Unternehmer aber ohne weiteres trennen.

Zweifellos werden sich viele Leistungsträger der Gesellschaft im Privatsektor akkumulieren. Sie sind es, die viel verdienen werden und auch viel verdienen sollen, weil sie durch ihre Steuern den staatlichen Arbeitssektor mit unterhalten müssen. Aber das tun sie nicht selbstlos. Sie nehmen dafür die staatlichen Dienstleistungen in Anspruch – in unserem Denkmodell kostenlos: die Benutzung der Straßen, der Bahn, der Post, der Gesundheit, der Justiz etc.

Anreiz für die Leistungsbereitschaft ist im Privatsektor vorwiegend der Gewinn und die Höhe des Lohnes. Der Leistungsanreiz im Staatssektor ist dagegen die Qualität der Aufgabe, die der Bedienstete zu erfüllen hat. Die Besoldungsunterschiede berücksichtigen den Schwierigkeitsgrad der zu bewältigenden Aufgabe und sind nur ein sekundärer Leistungsanreiz. Der Lehrer /Arzt /Richter wird nicht dadurch besser, dass er besser bezahlt wird und er wird nicht besser bezahlt, wenn er mehr Schüler unterrichtet/ mehr Patienten verarztet/ mehr Straftäter verurteilt. Ob der Staatsbedienstete seine Aufgabe gut oder schlecht erfüllt, reflektiert sich nicht in seinem Gehalt, sondern in dem Grad der Identifikation mit seiner Tätigkeit.

Es ist also nicht so, dass sich im Staatssektor nur die Leistungsschwächeren der Gesellschaft sammeln werden. Es werden überwiegend die Menschen sein, die mehr Wert auf eine sinnvolle, nicht entfremdete Tätigkeit legen als auf die Bezahlung. Wer dagegen seine Arbeitskraft auf dem Markt an den Unternehmer verkauft und entfremdete Arbeit leistet, der tut es um der Bezahlung und nicht um der Tätigkeit willen, sei sie noch so qualifiziert.

Nun steht allerdings im vorgeschlagenen Denkmodell der Staat in der Pflicht, allen Arbeitnehmern, die aus dem kapitalistischen Arbeitsmarkt herausfallen, Arbeit und Brot zu geben. In Mehrheit werden das die leistungsschwächeren nichtqualifizierten Arbeitskräfte sein: Hauptschüler mit und ohne Hauptschulabschluss, die keine Lehrstelle gefunden haben. Auch für die Leistungsschwächeren unserer Gesellschaft muss der Staat oder die Kommune Aufgaben bereitstellen, deren Schwierigkeitsgrad auch von einem Schulabsolventen ohne Hauptschulabschluss bewältigt werden kann.

Ich behaupte, dass für jeden Menschen eine für die Gesellschaft nützliche Aufgabe gefunden werden kann, die er selbst für sinnvoll hält, die ihn fordert und deren Bewältigung ihm das Selbstbewusstsein gibt, ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu sein. Die Arbeitsunwilligkeit eines Teils der Arbeitslosen reflektiert weniger deren Charakterlosigkeit als die Tatsache, dass diesen Menschen keine Aufgabe gestellt wird, mit der sie sich identifizieren können. Wenn der staatliche/kommunale Arbeitssektor entsprechend organisiert wird, wird auch die Arbeitsunwilligkeit zurückgehen. Ein riesiges, bisher kaum genutztes, aber sinnvolles Betätigungsfeld wäre z.B. die Straßenbetreuung von der Baumpflege bis hin zur Tätigkeit eines Streetworkers, die der Verantwortliche - und das ist wichtig - in Eigenregie und selbstbestimmend organisieren kann

Der staatliche Arbeitssektor hat nicht die Funktion des Versorgungsstaates. Er ist auf das selbstbestimmte Tun seiner Mitglieder angewiesen. Es geht nicht um die Verbeamtung eines großen Teils der Gesellschaft, die in einer hierarchischen Struktur die Eigeninitiative unterdrückt und die Menschen zu Versorgungsempfängern macht. Wer nichts leistet, dem steht auch nichts zu. Aber jeder Mensch, der entsprechend seiner Fähigkeit eine gesellschaftlich nützliche Aufgabe erfüllen kann, soll auch das Recht bekommen diese zu erfüllen, mit dem Anspruch auf ein Mindesteinkommen.

Viele Leser werden das von mir skizzierte Gesellschaftsmodell für utopisch halten. Sie glauben wahrscheinlich nicht an die Finanzierbarkeit des erweiterten Staatssektors (dabei liegen seine Kosten nicht wesentlich über den gegenwärtigen Sozialetat, der schon jetzt mit 100 Milliarden € das Heer der Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern unterstützt). Wenn allerdings der Betrag von 400 Milliarden € stimmen sollte, der angeblich jährlich dem Fiskus durch Steuerhinterziehung entgeht, dann wundert man sich doch über eine Politik, die ihren einzigen Handlungsspielraum in der Kürzung des Sozialetats sieht. Im Übrigen gilt: was politisch gewollt ist, ist auch finanzierbar. So ist es bisher immer gewesen und so wird es auch in Zukunft sein. Nie fehlt das Geld. Was fehlt, ist der politische Wille. Notwendig ist deshalb ein gesellschaftlicher Konsens, den alle Klassen der Gesellschaft trotz divergierender Interessen tragen können. Der von mir propagierte Sozialstaat ist teuer. Er bietet im Unterschied zum alten keine soziale Hängematte für Arbeitsunwillige, dafür aber Arbeit und Lohn für alle Arbeitswilligen. Er liegt - und das ist das Entscheidende - im wohlverstandenen Interesse aller. Wenn wir das einsehen, werden wir ihn auch finanzieren.

Klar ist: die nichtarbeitende Klasse, die vom Kapital lebt, wird freiwillig nicht die ins Ausland transferierten Milliarden der Steuer zurückführen. Eben sowenig lässt sich die Steuerhinterziehung per Dekret abschaffen. Aber das Interessante ist, dass die Realisierung des obigen Gesellschaftsmodell im genuinen Interesse der Kapitalisten ist(zwar nicht im Interesse des einzelnen Kapitalisten, aber in deren Klasseninteresse). Die Alternative, alles beim Alten zu belassen, führt nicht nur zur Verelendung der Arbeiterklasse, sondern auch zur Vernichtung des Kapitals. Unsere Experten in Politik und Wirtschaft sollten sich überlegen, ob das vorgeschlagene Gesellschaftsmodell nicht die einzig gangbare Alternative zum barbarischen Klassenkampf ist, zu dem ihre neoliberalen Rezepte automatisch führen, es sei denn, sie wollten par tout Marx Recht geben...