Harald von Rappard (1980)

Zum Selbstverständnis der Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck (ABW)

1 . Die ABW begreift sich historisch zugehörig zu einer bestimmten gesellschaftlichen Bewegung, die sich seit den Anfängen der bürgerlichen Gesellschaft bis heute in den vielfältigsten Erscheinungsformen gegen etablierte Bewußtseins- und Herrschaftsstrukturen gebildet hat und weiterhin bildet. Die politische Gegenbewegung zu den etablierten Mächten bezeichnen wir mit dem Begriff Jugendbewegung, begreifen damit aber nicht nur jene historische Erscheinungsform, die als bündische Bewegung bekannt wurde. Zur Jugendbewegung zählen wir beispielsweise die Burschenschaftsbewegung unter Metternich ebenso wie die Studentenbewegung von 68. Was diese Bewegungen verbindet, ist ihr revolutionäres Moment.

2. Die ABW bekennt sich zu ihrer jugendbewegten Tradition. Im Unterschied zu den Epigonen traditioneller Jugendbewegung sieht sie indes sehr klar, daß die Form der heutigen Jugendbewegung nicht mehr bündisch-esoterisch sein kann. Das revolutionär-alternative Moment der Jugendbewegung kann nur in einer revolutionär-alternativen Form zum Ausdruck kommen.

So war das Bündisch-Esoterische durchaus eine revolutionäre Form bürgerlicher Innerlichkeit und damit der adäquate Ausdruck einer Bewegung, die die gesellschaftlich verschütteten Wege zur Selbstfindung freilegen wollte. Der Weg nach innen schlägt indes in Realitätsflucht um, wenn er als Alternative gegen eine mißlich empfundene Wirklichkeit gesetzt wird. Eine Jugendbewegung, die ihr revolutionäres Moment verliert, verliert das Moment ihrer Bewegung und erstarrt zur Jugendsekte. Die bündischen Restbestände traditioneller Jugendbewegung sind samt und sonders zu Fluchtbewegungen geworden.

3. Das Bekenntnis zur Jugendbewegung kann immer nur ein Bekenntnis zu ihrem revolutionär-alternativen Moment sein. Ein derartiges Selbstverständnis verlangt heute auf der Waldeck Formen von Organisierung, die eine konkrete Alternative zur bürgerlichen Kultur und zum öffentlichen Bewußtsein sichtbar machen. Was da im Gefolge von '68 an die Oberfläche trat, ist von aufbrechender, befreiender, normendurchbrechender Kraft gewesen, in seinen diversen Erscheinungsformen allerdings ebenso bahnbrechend wie destruktiv, sowohl von chaotischer Sinnlichkeit wie von fanatischer Askese, ein Synkretismus aus Mönch, Nutte, Marx, Coca-Cola und Robespierre. Die Suche nach der richtigen Form endete häufig genug in Sackgassen, Abgründen, dogmatischen Erstarrungen, wie die kommunistischen Sekten ebenso beispielhaft demonstrieren wie die religiösen Jugendsekten im Ashram. Dennoch reißt sich der Fluß immer wieder aus seinen Verirrungen heraus, nímmt Bewegung auf und gelangt zu neuen Ufern.

4. Die Suche nach der revolutionären Alternative zu den etablierten Strukturen unserer Gesellschaft ist die eigentliche Gralssuche der heutigen Jugendbewegung. Der Zweck jeder Gralssuche liegt in sich selbst. Nie ist das Gefundene der Gral selbst. Nicht das Endgültige interessiert uns, nicht die fertigen Resultate, sondern der Weg, die ständige Suche, das permanente Experiment. Erst in dieser Suche finden wir eine Form des Zusammenlebens, in der sich die heutige Jugendbewegung ausdrücken kann.


Überlegungen zur Konzeption

Aus diesen Vorüberlegungen zum Selbstverständnis der ABW folgt für unsere Tätigkeiten eine ganz bestimmte Konzeptionsrichtung, die definitiv bestimmte Konzeptionen ausschließt: Eine Konzeption, die das ABW-Areal in die Palette der Freizeitangebote rückt, steht im Widerspruch zum oben formulierten Selbstverständnis. Wie hoch der Freizeitwert unseres Geländes auch veranschlagt werden mag, wenn das Hauptgewicht der Waldecker Aktivitäten in seiner Ausbeutung liegt, gelingt es uns nicht mehr, den alternativen Ansatz und damit unser eigenes Selbstverständnis zu verwirklichen. Es kann uns nicht darum gehen, Gebäude und Gelände jedweden Gruppen zur Verfügung zu stellen, ohne gleichzeitig inhaltliche Ansprüche zu stellen, was im übrigen unserer Satzung widerspräche. Nach Ziffer 1 ihrer Satzung darf die ABW ihr Gebäude und ihre Einrichtungen nur im Rahmen der dort beschriebenen Zielsetzungen zur Verfügung stellen:

"Die ABW strebt aus dem Geist der Jugendbewegung die Sammlung von Menschen an, die nach geistigen und musischen Gemeinsamkeiten selbstverantwortlich suchen und sie zu erarbeiten bereit sind. ."

Unserem Selbstverständnis nach muß die Waldeck ein Freiraum zur Verwirklichung realer Utopien sein als Vorwegnahme denkbarer Gesellschafts-/Lebensformen. Faktisch ist sie in den letzten Jahren vorwiegend (nur noch) ein Freiraum von gesellschaftlichen Zwängen gewesen, ein Machtvakuum, in dem unterdrückte Wünsche und Sehnsüchte leichter befriedigt werden konnten. Die Anziehungskraft, die auch heute noch von der Waldeck ausgeht, hat hier zumindest eine ihrer wesentlichen Wurzeln.

Viele befürchten, daß gerade diese Wurzel durch die ökonomischen Zwänge des Neubaus gekappt wird. Der Neubau verschiebt indes nur das Problem. Wir müssen uns eindringlich klarmachen, daß die Waldeck, an die wir anknüpfen wollen, schon '69 mit dem Ende der Studentenbewegung untergegangen ist. Die Waldeck der 70er Jahre hat gewiß einen großen Fortschritt gebracht, einen Fortschritt, der gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann und im besonderen Maß auch das Verdienst von Harry ist: die Verwandlung eines bürgerlich-elitären Klassenraumes hin zum egalitären, nicht mehr klassenspezifischen Freiraum.

Eine Alternative im Sinne unseres Selbstverständnisses war diese Waldeck aber nicht. Objektiv hat dieser Freiraum nur noch eine Ventilfunktion gehabt. Ventilfunktionen sind wichtig, wichtig aber nur zur täglichen Reproduktion von Zwangssystemen. War die Waldeck der 60er Jahre noch ein Ort, in dem das revolutionäre Moment der Jugendbewegung seinen Ausdruck finden konnte, so ist die Waldeck der 70er Jahre ungewollt zu einem systemstabilisierenden Faktor geworden und zwar gerade dadurch, daß sie Randgruppen und outcasts, die der bürgerliche Produktionsapparat täglich erzeugt und hinauswirft, eine Heimat bieten konnte. Zweifellos hat die Waldeck gerade für diese Randgruppen eine enorm wichtige Funktion. Es ist indes noch keine Alternative, wenn die Waldeck zum Lazarett für die Verwundeten unseres Systems wird.

Zur Alternative wird die Waldeck erst, wenn beispielsweise diese Randgruppen die Chance ergreifen, Perspektiven und Lebensformen zu entwickeln, zu denen die meisten von uns, die wir im bürgerlichen Pro- und Reproduktionsprozeß integriert sind, überhaupt nicht mehr fähig sind. Ansätze in dieser Richtung hat es in letzter Zeit auf der Waldeck gegeben. Die ABW könnte ihre verlorengegangene Initiativfunktion zurückgewinnen, wenn sie den Freiraum als Innovations- und Experimentierraum organisiert und dazu Organisationsformen entwickelt, die nicht im Widerspruch zu ihrer Intention stehen.

Das erfordert einen Umdenkungsprozeß, vor allem aber eine Abkehr vom Fetisch betriebswirtschaftlicher Rationalität, den die Waldeckgemeinde als goldenes Kalb zu umtanzen beginnt.


Die Konkretion unserer Konzeptionsvorstellung

Wir wollen die ABW wieder auf das zurückführen, was sie dem Begriff nach ist: eine Arbeitsgemeinschaft. Arbeitsgemeinschaft meint nicht Volkshochschule. Das wesentliche Moment der Arbeitsgemeinschaft ist die Selbsttätigkeit ihrer Mitglieder. Es kann uns nicht darum gehen, irgendwelche Fachleute auf die Waldeck zu laden, die über irgendwelche Bildungsgüter referieren. Gerade die Trennung von Sinnproduzenten und Bildungskonsumenten können wir nicht mehr akzeptieren.

Eine Organisationsform, in der die Selbsttätigkeit zum bestimmenden Moment wird, ist das Projekt. Die Projektgruppe übernimmt Planung, Durchführung und Dokumentation der Ergebnisse in eigener Regie und Verantwortung. Das revolutionäre Prinzip ist, daß es den Lehrer, den Kontrolleur, den Experten nicht mehr gibt, die Lernenden selbst dagegen zu Lehrenden, Experten und Kontrollierenden werden. Das Projekt ist eine Organisationsform, in der der Lernende zum Schöpfer wird, in der Lernen nicht mehr Anpassung ist, sondern zum verändernden Tun wird, wo der Mensch seine Wesensbestimmung wiederfindet: sich in dem ausdrücken zu können, was er tut. Wenn wir das erreichen, bewegen wir uns schon alternativ zur alltäglichen, bürgerlichen Praxis, in der wir uns nur von uns selbst entfremden können.

Wir möchten in diesem Sinn einen ganz konkreten Vorschlag machen: Die ABW stellt sich zur Aufgabe, ihr eigenes Selbstverständnis in der Form eines Projekts auf zuarbeiten. Als thematischen Schwerpunkt schlagen wir den Projekttitel vor: Jugendbewegung und Revolution. Das Projektziel ist, das revolutionäre Moment der Jugendbewegung auf systematisch-logische Weise zu fassen und es in den diversen historischen Erscheinungsformen durch die Geschichte hindurch zu verfolgen, um schließlich eine Standortbestimmung der ABW vornehmen zu können. Eine ganze Reihe von Freunden im und außerhalb des Vereins hat die Teilnahme an einer derartigen Projektgruppe schon zugesagt. Alle Interessenten werden hiermit zur Teilnahme eingeladen. Das Thema ist derart komplex und die schon zugesagten Beiträge so vielzählig, daß die Projektgruppe sicherlich ein Jahr benötigt. Wir dachten an mindestens 12 Sitzungstermine, die wir auf der Waldeck fest verbandeln wollen. Als Beginn des Projekts schlagen wir den 1. 11. 80 vor, ein geschichtsträchtiges Datum also. Wir hoffen, daß es für die Waldeck auch ein zukunftsträchtiges Datum sein wird: der Anfang eines neuen Waldecker Zeitalters.

Arne, Flaps, Zen (zuerst vöffentlicht im Waldecker Baybachboten, 2/80)

KURSZETTEL zum BAYBACHBOTEN
Flugblattbeilage zum WBB 2/80

Vorbemerkung der Redaktion ( Arne, Flaps, Zen ) Kurszettel zum Baybachboten sind

1."geheime Waldecksache", dienen zur Kursbestimmung der Waldecker Arbeitsgemeinschaft und dürfen nach Lektüre sorgfältig vernichtet werden

2. ein Schandfleck im Baybachboten,

sind in keiner Weise repräsentativ für den Verein,

finden nie die Zustimmung des Verwaltungsrates,

gehören deshalb unbedingt zum Baybachboten.

A C H T U N G

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In den Konzeptionsvorstellungen von Arne/Flaps/Zen wurde bewußt aus wohlüberlegten geheimen Gründen eine bestimmte Passage bei Drucklegung ausgeklammert und zur Veröffentlichung auf flugblättrige Kurszettel verwiesen. In jener Passage geht es dem Autorenkollektiv um eine Konkretion dessen, was sie unter Projektarbeit auf der Waldeck verstehen. Am Beispiel eines maghrebinischen Projekts wird demonstriert, daß Projektarbeit durchaus eine lustbetonte Angelegenheit sein kann.

A C H T U N G

Nur Geheimnisträger der Sicherheitsstufe "null" dürfen weiterlesen!

Zum Beispiel ein maghrebinisches Projekt .......

Ein ungemein geeignetes Projekthema für unseren Verein ist eine Idee, die seit geraumer Zeit Anlaß zu erheiternden Gesprächen gibt: die Gründung des Freistaates Waldeck.

Wir schlagen vor, diese Schnapsidee zu einem Jahresprojekt für den ganzen Verein zu machen. Die Arbeitsgemeinschaft einigt sich auf das Ziel: am Ende des Jahres soll die Waldeck als Republik ausgerufen werden, als echt demokratische Alternative, sozusagen als der einzige demokratische Staat auf deutschem Boden.

Nach der Zielsetzung legt die Projektgruppe die Aufgaben fest. Es bietet sich eine ganze Reihe thematischer Schwerpunkte an, die zu bestimmten Aufgabenfeldern führen. Als Beispiel greifen wir den Komplex "Medien" heraus, der sich in die beiden Abteilungen Pressewesen und Rundfunk aufteilen mag. Allein die Abteilung Hörfunk könnte eine Gruppe von 40 Leuten unterschiedlichster Fähigkeiten ein volles Jahr, wenn nicht sogar noch länger beschäftigen.

Es ist klar, daß jeder Staat sich das Recht nimmt, über einen eigenen Sender zu verfügen, nicht zuletzt, um ihn als Propagandainstrument noch außen hin zu nutzen. Die 'Freie Stimme Waldeck' wird also kräftig in die Ideologieschlachten im Kurzwellenäther eingreifen, um die Segnungen des Alternativvölkchens in die ganze Welt zu posaunen.

Ebenso klar ist, daß die Bonner Republik die Sezession des Waldecker Volkes nicht tatenlos hinnehmen wird. Der zukünftige Kurzwellensender wird also mobil sein müssen, um dem Zugriff außerstaatlicher, feindlicher Kräfte entgehen zu können. Zweifellos wird es zu einem langwierigen Sezessionskrieg zwischen beiden Staaten kommen, an dessen Ende aber -da sind wir ganz sicher- der Bonner Botschafter friedlich sein Zelt auf den Turmgelände beziehen wird.

Unsere Siegesgewissheit gründet sich auf keine Armee, im Gegenteil: wir werden der erste vollständig abgerüstete Staat der Welt sein( weder wollen wir die Bonner Republik erobern, noch kennen wir Staatsfeinde in diesem unsern Land. Wozu also eine Armee?). Unsere Siegesgewissheit gegen die kolossale Streitmacht unseres Nachbarstaates gründet sich auf eine Macht, die man weder erschießen noch niederknüppeln kann: auf F r e c h h e i t und H U M 0 R und dem nicht auffindbaren Kurzwellensender zur hellen Freude der Nation (an der deutschen Nation halten wir fest !) und dem grimm'gen Ärger ihrer Machteliten.

Da bleibt kein Auge trocken, wenn unsere Programme die Welt beglücken. Was brechen da für Zeiten an, wenn in der bundesrepublikanischen Medienlandschaft endlich eine freie, unzensierte Stimme erschallt, des Volkes niedere Stimme, Schalmeienklänge für das Ohr unserer Großmächtigen im großnachbarlichen Reiche: "Jetzt, liebe Hörer, wie jeden Freitagabend, das Ergebnis unserer Hörerumfragen im Ausland und die Wahl des größten Flachkopfs der Woche: die Hitliste führt nach wie vor... (hier darfst du denjenigen einsetzen, über den du bisher öffentlich nichts Schlechtes sagen durftest). "

Damit derartige literarische Träume umgesetzt werden, muß die Projektgruppe die Aufgaben entsprechend den Fähigkeiten und Lust der Teilnehmer aufteilen. Da wird es eine Gruppe geben, die den Sender selbst baut oder besorgt. Eine 2. Gruppe wird die Organisation des Senders erarbeiten. Eine 3.Gruppe textet und komponiert Waldecklieder. Eine 4. Gruppe stellt Programme her und zusammen. Eine 5. Gruppe baut einen Nachrichtendienst im bundesrepublikanische Ausland auf. Eine 6. Gruppe bemüht sich um Kontaktadressen und sucht z.B. noch Rundfunkleuten, die dem Projekt aufgeschlossen gegenüberstehen. Eine 7. Gruppe arbeitet eine Strategie aus, wie man dem Zugriff ausländischer Staatsmächte entgehen kann. Ein juristisches Expertenteam lotet aus, welche völkerrechtlichen Probleme mit der Proklamation eines Freistaates Waldeck entstehen und bereitet Petitionen an die UN-Menschenrechtskommission vor, etc. pp.... Der Phantasie sind hier keine Grenzen gesetzt.

Wie ernst die Projektgruppe ihr Thema nimmt, d.h., in welcher Wirklichkeitsebene sie den Sender 'Freie Stimme Waldeck' realisieren will, bleibt natürlich ihr überlassen. Sie kann es bei der abschließenden Jahresdokumentation als bloßes Planspiel denkbarer Lebensformen auf der Waldeck vorstellen, sie kann es als bloßes literarisches-künstlerisches Happening auffassen, als Ausdruck kreativen Gestaltens und Nachdenkens.

Sie kann natürlich weitergehen, die fiktional-literarische Ebene durchbrechen und das Planspiel in die Wirklichkeit umsetzen. Was dann passiert, würde eine einschneidende Veränderung unseres Tuns zur Folge haben: Wir würden das tun, was wir denken. Zur Schizophrenie unseres bürgerlichen Daseins gehört es aber gerade, nicht das zu tun, was die Vernunft uns gebietet. Unser bürgerliches Dasein erlaubt alternatives Denken, nicht aber alternatives Handeln. Alternatives Handeln im bürgerlichen Dasein ist Utopie. Handeln wir dennoch alternativ, so verändern wir unser bürgerliches Dasein.

Wir hoffen mit diesem Beispiel deutlich gemacht zu haben, welche Dimensionen die Projektarbeit für die Waldeck eröffnen kann.