Harald von Rappard

Die Kehrtwende von der deutschen Leitkultur zur Leitkultur in Deutschland

Wir wollen zufrieden sein, wenn die CDU ihren unseligen Begriff der deutschen Leitkultur durch den Begriff der Leitkultur in Deutschland ersetzt. Dass sie mit dieser semantischen Verschiebung eine 180 Grad Wende vollzogen hat, ist indes der Öffentlichkeit nicht bewusst und am wenigsten ihr selbst.

Was sollten wir gegen eine Leitkultur haben, die sich der Aufklärung und dem Humanismus, der Weisheit des Judentums und der Bergpredigt Jesu Christi verpflichtet fühlt? Vielleicht, dass Mohammed, Buddha und Laotse nicht erwähnt werden, eine Leitkultur für ein weltoffenes Land also globalen Charakter haben sollte. Wenn allerdings die europäische Aufklärung mit zur Leitkultur gehören soll, ist das universalistische Moment dieser Kultur schon implizit geboten: die Toleranz gegenüber anderen Kulturen bei gleichzeitiger Intoleranz gegenüber den Intoleranten. (Weder der islamische noch der christliche Fundamentalismus könnte sich auf eine derartig gefasste Leitkultur berufen.) Wir können also trotz der eurozentristischen Formulierung mit dem Begriff der Leitkultur leben, wenn er denn so verstanden wird, wie die CDU es neu formuliert hat.

Was der CDU allerdings in ihrer Neu-Formulierung entgeht, ist, dass sie nunmehr in den Widerspruch zur deutschen Leitkultur geraten ist. Denn die deutsche Leitkultur, zumindest die, die die deutsche Politik angeleitet hat, hat im Laufe ihrer Geschichte die abendländische Leitkultur gründlich verfehlt und ein großer Teil der deutschen Bevölkerung verfehlt diese auch noch heute. Wer von uns Deutschen lässt sich von einem humanistischen Weltbild leiten, wer handelt nach den Direktiven der Berg-Predigt oder nach dem kategorischen Imperativ eines Kants ?

Wenn also die CDU die einbürgerungswilligen Ausländer auf die neue Leitkultur verpflichten will, gilt das erst recht für uns Deutsche. Es geht schließlich nicht an, dass wir die Einbürgerungswilligen auf eine humanistische Haltung hin verpflichten wollen, die wir selbst noch nicht in der Lage sind einzunehmen.

An dieses Moment der Selbstverpflichtung hat die CDU natürlich nicht gedacht. Indem sie die bestehende deutsche Kultur mit der abendländisch christlich humanistischen Leitkultur gleichsetzt, entgeht ihr die Seins-Sollens-Differenz zwischen beiden. Durch diesen naturalistischen Fehlschluss suggeriert sie, dass das humanistische abendländische Leitbild schon in der deutschen Kultur verwirklicht ist, mithin nur die Ausländer und nicht auch wir Deutsche auf unsere Leitkultur hin verpflichtet werden müssen.

Ein Begriff von Leitkultur, der uns Deutsche zu einem moralischen Verhalten im Sinne der Kantischen Aufklärung verpflichtet, ist im übrigen der CDU zunehmend fremd geworden. Gerade der CDU-Fraktionsvorsitzende Merz, der den Begriff der deutschen Leitkultur ins Spiel gebracht hat, bemüht sich mit Teilen der Jungen Union das christliche C aus dem Namen der Partei zu eliminieren. Merz und CO haben nämlich realistisch erkannt, dass mit den Direktiven der Berg-Predigt nicht nur keine Politik zu machen ist, sondern, dass der Duktus der Berg-Predigt die Politik der CDU aufs tiefste desavouiert, weil jede Realpolitik den Grundsätzen der Bergpredigt und damit dem Wesen des Christentums zuwiderläuft. Zweifellos trifft Merz damit des Pudels Kern: die Politik der CDU lässt sich auf das christliche Leitbild nicht mehr ausrichten, wenn die Deutsche Bank und der freie Markt die eigentliche deutsche Leitkultur sind.

Der Kampf um die abendländisch christlich humanistischen Werte, die hier wider besseres Wissen von der CDU in die politische Arena getragen werden, ist die längst verlorene Schlacht von gestern: in der Raubtier- und Ellenbogen-Gesellschaft des Kapitalismus sind die kulturellen Leitideen des Abendlandes längst untergegangen und haben hier a priori keine Bedeutung. Dies zu verdecken, gehört zu den eigentlichen Funktionen der CDU. Merz wurde von Merkel wieder zurück gepfiffen. Das C bekommt wieder seinen alten Stellenwert und einen frischen Glanz neuer Verlogenheit. Auch die Stammtische sind's zufrieden: sie buchstabieren Merkels Leitkultur in Deutschland wie Merz als deutsche Leitkultur, die sich auf fremde Kultur nicht einlassen will.

So changiert der Begriff Leitkultur zwischen der konservativ konventionellen Binnenmoral und der emanzipatorisch nach-konventionellen Moral-Stufe hin und her, befriedet ein weites Feld politischer Meinungen und verdeckt ideologisch die wirkliche Herrschaft des einzig existierenden Gottes im Kapitalismus: Mammon, den wirklich herrschenden Leit-Wert unserer Gesellschaft.

Gäbe es einen Orden für politische Verlogenheit: Frau Merkel hätte ihn sicherlich verdient, wenn sie die ideologische Funktion der CDU durchschaute und wüsste, was sie bewirkt: die Aufrechterhaltung des bürgerlich-kapitalistischen Systems. Das ist aber nicht zu befürchten. Die CDU darf sich zu ihrem Coup beglückwünschen, die Angela, den Engel aus dem Ossiland, zu ihrem Vorsitzenden gekürt zu haben.