Harald v.Rappard (März2001)

Zur Pathologie unserer nationalen Identität

Fragen wir uns noch einmal ohne Empörung: was will der Deutsche von heute sagen, was meint er, wenn er sagt, er sei stolz ein Deutscher zu sein. Was bedeutet überhaupt der Satz im politischen Kontext der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Die entscheidende Schlüssel-Frage lautet: wer sagt den Satz zu wem und zu welchem Zweck.

Die Skinheads wenden sich mit diesem Satz gegen die Ausländer, um in der Abgrenzung von ihnen ihre eigene bedrohte Identität aufrecht erhalten zu können. Zur eigenen Identitätsfindung brauchen sie den Ausländer, um sich gegen ihn überhaupt erst als eigene Gruppe erfahren zu können. Ihr Deutschsein definiert sich also negativ durch Ausländerhass. Um ihr Deutschsein auch positiv zu bestimmen, muss das Deutsche rigoros von jeder Negativität bereinigt und befreit sein. Die Ungeheuerlichkeit der Nazi-Verbrechen muss deshalb verdrängt, relativiert, verharmlost oder gar als Auschwitz-Lüge geleugnet werden.

Der CDU-Mann wendet sich mit seiner Aussage zum Nationalstolz an die breite Bevölkerungsmehrheit und schwimmt im Mainstream des bürgerlichen Bewusstseins. Er will ihn gegen eine linksintellektuelle Gegenströmung mobilisieren, gegen die ewigen Miesepeter, Nörgler, Kritikaster und Nestbeschmutzer, die dem Volksempfinden seine robuste Gesundheit neiden. Das Volk soll endlich seine durch die Nazi-Verbrechen erschütterte und verlorengegangene Identität wiederfinden und sich nicht mehr irritieren lassen von den Moralaposteln, die mit erhobenem Finger auf Auschwitz weisen. Mit Auschwitz muss irgendwann einmal Schluss sein. Wir haben genug gebüßt und bezahlt. Wir wollen endlich wieder stolz sein können auf unser Land, auf unser Volk, wie alle Völker auch.

In beiden Verwendungsweisen des inkriminierten Satzes geht es um die nationale Identität und in beiden Fällen um die Verdrängung und Abspaltung der missliebigen Vergangenheit, um die Ausklammerung oder Verleugnung von Geschichte.

Zur nationalen Identität eines Volkes gehört nicht nur seine Sprache und seine Kultur, sondern gerade auch seine Geschichte. Auschwitz gehört zu unserer nationalen Identität, ob wir wollen oder nicht. Der Holocaust muss kollektiv in unserem Gedächtnis verankert bleiben. Ich erinnere an den Satz von Schorlemer: "Ein Volk, das seine Geschichte vergisst, ist verdammt sie zu wiederholen!"

Das heißt nun aber gerade nicht, im Büßerhemd weiterhin Buße zu tun. Die Nachkriegsgeneration ist am Holocaust unschuldig und deshalb auch nicht für die Kriegsverbrechen zur Verantwortung zu ziehen. Dennoch steht die Nachkriegsgeneration in der deutschen Tradition und muss sich bewusst werden, aus welcher Tradition sie kommt, gerade auch dann, wenn diese kritisch betrachtet wird. Wir können unserer nationalen Identität nur gerecht werden, indem wir sie annehmen und aus unserer Geschichte lernen. Wir werden ihr nur gerecht, wenn wir jeder Form eines völkischen Patriotismus widerstehen. Auschwitz ist und bleibt unser nationales Trauma und wir können unser Trauma nur dadurch bewältigen, dass wir kein Auschwitz dieser Welt mehr zulassen, nirgendwo.

Aber während ich diesen Satz hinschreibe, merke ich plötzlich, wie sich meine Feder zu sträuben beginnt. Was als Segen für die Welt ausschaut, verwandelt sich nämlich sehr schnell in einen Fluch, wenn, wie geschehen, Auschwitz zur Kriegskeule gegen die Bösewichter dieser Welt instrumentalisiert wird.

Dass es Fischer gelungen ist und gelingen konnte unter der Parole, ein zweites Auschwitz zu verhindern, ein ganzes Volk geschlossen in den Krieg gegen Milosevic zu treiben und die starke deutsche Friedensbewegung in eine Kriegspartei zu verwandeln, zeigt einmal mehr die zentrale Stellung des nationalen Traumas im Identitätsbewusstsein der Deutschen.

Die Instrumentalisierung von Auschwitz, die Walser bei der Vergangenheitsbewältigung der Deutschen beklagte und kritisierte und damit einen Sturm der Entrüstung in der liberalen Presse erzeugte, sie hat noch eine viel furchtbarere Rolle bei der Legitimation des Kosovo-Krieges gespielt.

Es drängt sich geradezu der Verdacht auf, dass unsere Politik in einem viel stärkeren Maß durch unsere nationale Identität geprägt wird, als es uns bewusst ist. Die zu erörternde Frage lautet gar nicht, ob wir Deutschen uns zu einer nationalen Identität bekennen dürfen, sollen oder müssen. Diese existiert unabhängig von unserem Wollen und bestimmt auf irrationale Weise unsere nationale Politik, so lange ihr Wirken uns nicht bewusst ist.

Vorrangig gilt es unsere nationale Identität aus dem kollektiven Unbewussten ins Bewusstsein zu heben.

Das uns kollektiv Unbewusste versuche ich in den folgenden Überlegungen in drei Politikfeldern zu beleuchten: in unserem Kosovo-Engagement, in der Wiedergutmachungsdebatte und in unserer moralischen Haltung zur Genforschung.

Der Kosovo-Krieg

Mit einer geradezu beängstigenden Geschlossenheit stand das deutsche Volk hinter seinem Außen- und seinem Kriegsminister, um im Kampf gegen die bösen Milosevics - in einem wahren Kreuzzug- endlich das nachzuholen, was die Vorväter schmählicher Weise gegen den bösen Hitler zu unterlassen vergaßen. Dass unser gesinnungsmoralischer Feldzug in einer physischen und moralischen Katastrophe endete und enden musste, ist zwar a priori klar gewesen, aber vom Volk fast in toto nicht begriffen worden (von wenigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen). Erst jetzt, wo Jugoslawien in Trümmern liegt, beginnt sich in einer breiteren Öffentlichkeit die Erkenntnis durchzusetzen, dass die NATO im Kosovo den Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben hat und zur Kriegspartei der UCK geworden ist. Deren Menschenrechtsverletzungen haben in keiner Weise denen der serbischen Paramilitärs nachgestanden.

Wenn wir nun hören müssen, dass die angeblichen serbischen Massaker an der albanischen Zivilbevölkerung, die die völkerrechtswidrige Kriegsintervention moralisch rechtfertigen sollte, gar nicht so stattgefunden haben, in Wahrheit uminszenierte Arrangements der UCK waren, mit dem erklärten Ziel, die NATO zur Intervention zu zwingen, wir darüber hinaus hören müssen, dass der Außenminister und der Verteidigungsminister die Wahrheit wussten und sie der Öffentlichkeit bewusst verschwiegen haben, um keine Zweifel an der militärischen Intervention aufkommen zu lassen, wenn wir erfahren müssen, dass das Damaskuserlebnis von Srebrenica, das Fischer von der Taube zum Falken mutieren ließ, auf völlig falschen und verzerrten Informationen beruht hat und Scharping in seiner Kriegsrhetorik die Hunnenrede des Kaisers übertraf, als er den Serben die Massenhinrichtung von 30 000 Moslems anlastete (in den Massengräbern von Srebrenica sind nach dem KONKRET-Autor Elsässer bisher nicht mehr als 300 Leichen nachgewiesen worden, was natürlich ebenso wenig schon Rückschlüsse auf das wahre Ausmaß der serbischen Verbrechen zulässt), dann wird deutlich, dass die deutsche Politik die Grenze zwischen Moral und Immoralität gar nicht mehr ziehen kann.

Ich will gar nicht in Abrede stellen, dass Fischer und Scharping an ihre Horrorgemälde geglaubt haben. Dort, wo sie bewusst logen, übertrieben oder trotz besseres Wissens schwiegen, haben sie dies in der festen Überzeugung getan, dass sie in der Gesamteinschätzung der Serben richtig lagen: brutale Aggressoren, deren erklärtes Ziel es ist, mit Hilfe ethnischer Vertreibung ihre imperialistische Politik durchzusetzen, gegen eine wehrlose Bevölkerung, die um ihren angestammten Besitz gebracht werden soll.

Genau in dieser Einschätzung legt das Problem, weil sie die Wirklichkeit auf völlig verzerrte Weise wahrnimmt. Die Serben werden einseitig zu Tätern gemacht, die Moslems dagegen einseitig zu Opfern. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Wer sich die Mühe macht, die Vorgänge z.B. in Srebrenica näher zu untersuchen, wird auf eine sehr widersprüchliche Gemengelage treffen, die es unmöglich macht, Kriegsverbrechen und Schuldzuweisungen einseitig einer Kriegspartei anzulasten (Hierzu die sehr detaillierten Untersuchungen von Elsässer). Die interessante Frage stellt sich, warum die deutsche Öffentlichkeit und mit ihr die deutsche Politik - ganz anders als die übrige europäische Öffentlichkeit - gleichsam in ein magisches Denken zurückfällt, das die Wirklichkeit nur noch wie Harry Potter wahrnimmt, als eine Schwarz-Weiß-Welt, in der das Gute nur noch gut und das Böse abgrundtief böse ist.

Meine These ist, dass diese unsere spezifisch deutsche Einsicht in unserer nationalen Identität begründet liegt, genauer gesagt in unserer geschichtlichen Erfahrung im Dritten Reich. Im Faschismus hat nämlich das deutsche Volk genau diese Regression ins magische Bewusstsein erfahren, das die Welt in gut und böse, in Freund und Feind, in gesund und krank aufteilt. Wenn das magische Bewusstsein, das die Welt der Kinder und Märchen bestimmt, zum politischen Bewusstsein der Erwachsenen wird, dann wird es gemeingefährlich.

Das magische Bewusstsein kommt nicht ohne Feinbild aus. Es erzeugt das Böse, um es auszurotten. Es hat Angst vor allem Abweichenden. Kranke, Schwache, Fremde ( Jude, Zigeuner, Ausländer) und Homosexuelle sind seine natürlichen Opfer. Und dann erfolgt der traumatische Zusammenbruch des Faschismus: die Erfahrung, dass der geliebte Führer, dem das Volk über seinen Tod hinaus bis zum bitteren Ende die Treue gehalten hat, der größte Verbrecher der Welt gewesen ist, der das gutwillige Volk verführt und in den Abgrund statt zum Licht geführt hat.

Die Demontage des Führers führt indes nicht zur Aufgabe des magischen Bewusstseins, sondern nur zur Umwertung aller Werte. Der gute Führer wird zum bösen Verführer, der Antisemit zum Philosemiten, der Nationalist zum Nationalistenhasser, der Rassist zum Antirassisten.

Zwischentöne, Differenzierungen gibt es nicht mehr. Genau dieser Mangel an Zwischentönen prägt auch unsere Wahrnehmung. (Allerdings gilt das für alle Menschen, die noch auf der Stufe des magischen Bewusstseins stehen. Das Hollywood-Bewusstsein der Amerikaner scheint mir auf fatale Weise noch mit der magischen Bewusstseinsstufe verbunden zu sein und aufgrund der Machtstellung der USA eine noch verhängnisvollere Rolle in der Weltpolitik zu spielen).

Indem wir Hitler als den Bösen schlechthin dämonisieren, spalten wir das eigene Böse von uns ab und übertragen es auf Hitler und schaffen uns dadurch Entlastung. Wir werden dadurch weder uns noch Hitler gerecht. Aber das kollektive Unbewusste der Deutschen entlastet sich erfolgreich von seinen Schuld- und Schamgefühlen, in dem es aus Hitler einen Teufel macht.

Wir all kranken an unserem Hitler. Indem wir dem in uns wohnenden Bösen im dämonisierten Hitler eine Externalisierung geben, können wir es auch bekämpfen. Wir tun es, in dem wir alle Hitler dieser Welt erkennen und erschlagen. Das ist unsere spezifisch deutsche Art mit dem Bösen in uns fertig zu werden. Jetzt wird vielleicht deutlicher, warum wir Deutsche Milosevic, Hussein. etc so hassen. Wir machen sie zu unseren Hitlern, zu unseren Feinden, die wir bekämpfen und erschlagen wollen. Milosevic ist unsere oder eine unserer Hitlerprojektionen. Auch hier machen wir wie schon bei Hitler unseren typischen Fehler: wir dämonisieren ihn, machen ihn zu einem teuflischen Verbrecher, statt in ihm das zu sehen, was er ist: ein ganz normaler Politiker, der glaubt, den Interessen seines Volkes zu dienen und sich damit wie alle Politiker nur einer Binnenmoral verpflichtet fühlt. Normal allerdings ist ein solcher Politiker nur in anormalen Situationen.

Die Mehrheit der Menschen denkt und fühlt in den binnenmoralischen Kategorien ihrer Kultur und ihres Volkes (Im 6.stufigen Kohlbergschema zur Moralentwicklung erreicht der durchschnittliche Erwachsene die 4.Stufe der konventionellen Moral und verlässt damit nicht die binnenmoralische Sicht seines Volkes und seiner Nation) und sie wählt in der Regel den Politiker zu ihrem Führer, der ihr binnenmoralisches Interesse am besten vertritt.

Hitler ist zweifellos der Repräsentant des deutschen Volkes, der dessen völkisches Interesse im Laufe seiner Geschichte am stärksten und am extremsten vertreten hat und vom Volk die größte Zustimmung bekommen hat. Mit Hitler hat das deutsche Volk seine größte territoriale Ausdehnung, seine gewaltigste Macht über andere Völker erreicht und ist zur Hegemonialmacht Europas geworden.

Aber wer, so muss man sich doch fragen, hat im Volk ein völkisches Interesse? Welches Volk hat überhaupt ein Interesse über andere Völker zu herrschen? Wenn, dann doch immer nur ein Volk, das sich von anderen Völkern gedemütigt, bedroht, an den Rand gedrückt oder gar unterdrückt fühlt! (Ist es denn ein Wunder, dass sich mehrheitlich die Serben einer großserbischen Reichsideologie und ihrem Promotor Milosevic ausgerechnet zu dem Zeitpunkt hingeben, als sie von der dalmatinischen Küste abgedrängt und ins wenig lukrative Hinterland verwiesen werden? Und wäre es ein Wunder, wenn jetzt nach der Einäscherung ihres Landes die Serben mehrheitlich Milosevic als Sündenbock ihrer eigenen Schuld nach Den Haag ausliefern wollen?)

Völker mit völkischem Interesse sind pathologisch beschreibbar, reagieren pathologisch und wählen pathologisch. Im Wahnsinn wählen sie den Wahnsinnigsten zu ihrem Führer. In einer pathologischen Situation wird der Wahn zur Norm und es schlägt die Stunde der Hitler und Milosevics. Nicht Hitler und Milosevic sind die eigentlichen Verantwortlichen für die Untaten, sondern die Mehrheit des Volkes, die sie zu ihren Führern gemacht hat. Dass dabei das Volk gar nicht im wohlverstandenen Eigeninteresse handelt, sondern das Klasseninteresse seiner Herrschaftseliten bedient - und das sehr zum eigenen Schaden - ist der tragische Clou der Geschichte. Wir Deutsche unter Hitler, die Serben unter Milosevic, die Kroaten unter Tudjman, und die Iraker unter Saddam Hussein können ein Lied davon singen.

Nicht den Hitlern dieser Welt gilt es das Handwerk zu legen, sondern den politischen Verhältnissen muss der Kampf angesagt werden, die die Hitler, Milosevics, Tudjmans, Izbegovics, Husseins und Sharons mit Automatismus produzieren. Das nicht verstanden zu haben gehört zu den wesentlichen Mankos deutscher Außenpolitik.

Unsere fast schon kollektive Blindheit - genauer gesagt die Blindheit des öffentlichen Mainstream, insofern die durchaus vorhandene Kritik von der Öffentlichkeit und der sie vertretenden Presse nicht wahrgenommen wird - hat offensichtlich (obwohl es niemand sieht) mit unserem nationalen Trauma zu tun und damit mit unserer nationalen Identität. Der Kosovo-Krieg aus dieser Perspektive betrachtet erhält plötzlich eine ganz andere Dimension.

Mit dem Kosovo-Krieg gelingt es der politischen Klasse das durch tiefe Schuldgefühle traumatisierte kollektive Unbewusste der Deutschen nachhaltig zu salvieren. Endlich sind wir Deutschen auf der moralisch richtigen Seite und können durch unser moralisches Eingreifen die Unmoral unserer faschistischen Vergangenheit wiedergutmachen. Nicht umsonst wird Fischer zum beliebtesten Politiker der Deutschen. Nur ein Friedensbewegter hat die deutsche Friedensbewegung in eine moralische Kriegspartei verwandeln können und dem Jugoslawien-Krieg dadurch seine moralische Legitimität gegeben. Dazu passt die Aussage der US-Außenministerin Albright, nach der die Kriegsintervention im Wesentlichen von den Deutschen und insbesondere durch Fischer getragen und vorangetrieben worden ist. Aber wie schon bei Hitler gilt auch hier: Es sind zwar die Politiker, die Geschichte machen, aber sie haben nur Erfolg, wenn sie gleichzeitig zum Sprachrohr des kollektiven Unbewussten des Volkes werden. Die desaströse Außenpolitik der Deutschen verantwortet also Fischer nicht allein.

Die Wiedergutmachung an den Zwangsarbeitern

Der durch das kollektive Schuldgefühl hervorgerufene Wiedergutmachungszwang bei gleichzeitigem Gefühl permanenter Erpressbarkeit bestimmt unser politisches Denken und Handeln.

Sinnfällig illustriert diesen Zusammenhang die gegenwärtige Debatte über die Entschädigungszahlungen an die Zwangsarbeiter. Der Staat und die politische Klasse wollen sich der Verantwortung stellen. Von der Wirtschaft zähneknirschend nur die Exportindustrie, die nur dadurch glaubt, den hohen Regressforderungen der US-Justiz zu entgehen. Ganz anders dagegen denkt der deutsche Stammtisch, an dem Volkes Stimme tönt: Warum müssen nur ewig wir Deutsche für unsere Untaten aufkommen, warum nicht auch die anderen für die ihrigen?

Was der Stammtisch überhaupt nicht sieht, ist, dass gar nicht der Deutsche kollektiv haftet, sondern wenn, dann überwiegend nur der Steuerzahler. Der nicht begriffene und in der Öffentlichkeit gar nicht diskutierte Skandal ist, dass nicht die zur Kasse gebeten werden, die sich an den Zwangsarbeitern und am Krieg bereichert haben, sondern nur die, die schon für den verlorenen Krieg aufkommen mussten: die noch Steuern zahlenden kleinen Leute. Es ist ein Witz, dass die Wirtschaft nur zur Hälfte die Entschädigungskosten tragen will, die sie darüber hinaus von den Steuern absetzen kann, sodass am Ende ¾ der Wiedergutmachung vom Steuerzahler geleistet wird.

Dass die politische Klasse und damit die Öffentlichkeit diese Unverschämtheit klaglos hinnimmt, ist nur verständlich vor dem oben dargelegten Hintergrund der nationalen Identität des Deutschen. Selbstverständlich lässt das tief sitzende Schuldgefühl der politischen Klasse gegenüber den Opfern des Dritten Reiches gar keine Empörung zu. Einhellige Empörung kommt dagegen im Bundestag auf, als ein CDU-Abgeordneter sich zum Sprachrohr des Volkes Stimme am Stammtisch macht und von jüdischen Erpressergruppen spricht. Der Philosemitismus der politischen Klasse als Reaktion auf ihren Antisemitismus zuvor kann einen solchen Anwurf nicht ertragen. Kritik an Juden ist im Nachkriegsdeutschland ein nicht zu durchbrechendes Tabu.

Aber wo es Tabus gibt, gibt es immer auch die Tabubrecher. Ein bestehendes Tabu fordert geradezu zum Tabubruch auf. Das kollektive Unbewusste der Deutschen schlägt zurück, wenn es zum Entsetzen der politischen Klasse wieder einmal jüdische Friedhöfe schändet und antisemitische Parolen schmiert. Die noch dazu jungen Leute, die das tun, kennen keine Juden und wissen nichts vom Judentum und seiner Geschichte und handeln noch nicht einmal aus einer antisemitischen Ideologie heraus. Sie wissen nur, dass sie durch ihr Tun in der Öffentlichkeit anecken und das ist der Grund, warum sie es tun.

So ist es die tabuisierende Moral der politischen Klasse, die die tabubrechende Unmoral des unpolitischen Volkes erzeugt. Ein Teufelskreis, der erst dann durchbrochen wird, wenn das kollektive Trauma der Deutschen nicht in ihrem kollektiven Unbewussten verbleibt oder dorthin verdrängt wird, sondern als geschichtliche Erfahrung im Wissen verankert wird. Wer weiß, unter welchen Bedingungen der Mensch zur Bestie wird, der ist davor gefeit, wieder zur Bestie zu werden. Wenn das unpolitische Volk wieder zur Bestie wird und auf den Straßen zu toben beginnt, dann ist das auch die Schuld der politischen Klasse, wenn sie statt Aufklärung Tabuisierung betreibt.

Natürlich ist die deutsche Wirtschaft zur Wiedergutmachung erpresst worden. Freiwillig hätte sie keinen einzigen Pfennig gezahlt Moralisch empörend ist nicht die Erpressung, sondern dass sie ohne diese Erpressung ihrer moralischen Pflicht auf Wiedergutmachung nicht nachgekommen wäre. Welche Bereicherungsmotive man den jüdischen Anwälten auch immer unterstellen will, ohne diese jüdischen Erpresser hätten die Zwangsarbeiter keine Mark gesehen. Zigeuner hätten die deutsche Wirtschaft vergeblich erpresst. Es konnten nur Juden sein, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihres großen Einflusses in der amerikanischen Justiz einen Druck auf die deutsche Wirtschaft ausüben konnten. Vor diesem Hintergrund ist die moralische Geste, mit der sich Staat und Wirtschaft zur Wiedergutmachung bereit erklärten, von Anfang an völlig verlogen gewesen und nicht erst durch das Verzögern der Wirtschaft peinsam verunglückt.

Dass der Staat letztlich die Hauptlast der Wiedergutmachung übernimmt, erfolgt ebenso wenig aus moralischen Motiven, sondern einzig und allein aus dem wirtschaftlichen Interesse, der deutschen Wirtschaft den amerikanischen Markt zu sichern. Mit den Milliarden der Steuerzahler nimmt die SPD-Regierung nur das Interesse des ideellen Gesamtkapitalisten wahr. Das hat natürlich nichts mit unserer nationalen Identität zu tun. Mit ihr aber um so mehr der moralische Gestus, hinter dem der Staat sein wirtschaftliches Interesse verbirgt und verbergen kann. Dass diesmal die moralische Inszenierung so völlig daneben ging und der Imageschaden der deutschen Wirtschaft durch ihre zögerliche Zahlungsmoral größer geworden ist als ihre Angst vor eventuellen Regressforderungen, steht auf einem anderen Blatt. Das moralische Feigenblatt ist allzu löchrig geworden, um erfolgreich die schandbare Blöße deutscher Handlungsmotive zu verdecken.

Die moralische Haltung zur Genforschung

Der Zusammenhang zwischen öffentlicher Moral und nationaler Identität lässt sich ebenso an der augenblicklich geführten Debatte zur präimplantativen Diagnostik demonstrieren. Aufgrund unserer Geschichte, der Euthanasie-Praxis im Dritten Reich, tun wir Deutsche uns besonders schwer. Anders als in den obigen Beispielen lässt sich unser im Vergleich zu anderen Nationen sensibleres Verhältnis zur Genforschung durchaus positiv bewerten. Das inhumane Weltbild, das das Designer-Baby ermöglicht und die Abweichung von der Norm nicht mehr zulässt, ist uns allen eine Horrorvision. Dennoch hat die speziell deutsche Sensibilität auch irrationale Züge.

Die akademische Frage, wann das menschliche Leben beginnt, ist bei uns zu einer metaphysischen Glaubensfrage auf Leben und Tod geworden. Dabei ist die Festlegung des menschlichen Lebensbeginns auf die befruchtete Eizelle eine rein willkürliche Entscheidung und lässt sich genau so gut begründen wie die Entscheidung der Engländer, das Leben erst 14 Tage nach der Befruchtung beginnen zu lassen. M.a.W. wissenschaftlich empirisch lässt sich der Beginn des Menschenlebens nicht feststellen. Die metaphysischen Entscheidungen, die hier die Rolle spielen, zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie wissenschaftlich nicht begründbar sind.

Natürlich ist die Aussage richtig, dass aus der befruchteten Eizelle potentiell ein Mensch werden kann. Aber potentiell gilt das auch für jede weibliche Eizelle und für jeden männlichen Samen, sodass jede Verhinderung der Befruchtung konsequenterweise als Verbrechen gewertet werden müsste. Das Alte Testament der Bibel ist in diesem Punkt sehr klar: Onan wird von Gott mit dem Tode bestraft, als er seinen Samen in den Sand vergeudet und ebenso klar ist der Papst, wenn er das Benutzen von Kondomen für verwerflich hält.

Aus der befruchteten Eizelle kann zwar ein Mensch entstehen, aber ist sie deshalb schon ein Mensch? Genau so wenig, wie aus dem Samen allein schon ein Mensch wird, genau so wenig wird schon aus der befruchteten Eizelle allein ein Mensch. Wenn nicht der gezeugte Chromosomensatz, sondern das eigenständige Wesen zum Kriterium des menschlichen Lebensbeginns gemacht wird, dann ist die befruchtete Eizelle sicherlich noch kein Mensch, auch nicht der sich aus ihr entwickelnde Zellhaufen. Aus diesem Zellhaufen entwickelt sich erst der Embryo, der Fötus und schließlich der Mensch nach dem Prinzip zunehmender Eigenständigkeit. Nach dieser Vorstellung existiert nicht der Mensch ab einem bestimmten Zeitpunkt, sondern graduell als allmählicher Übergang von anfangs nicht Menschsein zu immer mehr Menschsein. Der Mensch ist nicht schon mit seiner Zeugung da, sondern er reift erst zum Menschen nach seiner Zeugung, indem er sich schrittweise vom mütterlichen Körper zu einem eigenständigen Wesen emanzipiert. Am Anfang ist er noch nicht eigener Mensch, sondern ganz und gar Teil des mütterlichen Körpers, insofern auch noch kein eigenes Rechtssubjekt, dem Anspruch auf staatlichen Schutz zukommt. Abtreibung zu Beginn der Schwangerschaft kann nach dieser Vorstellung niemals ein Tötungsdelikt sein, geschweige denn Mord, den die katholische Kirche beschreit. Zweifellos liegt hier eine ganz andere Metaphysik des Menschen vor, die der christlich fundamentalistischen diametral entgegensteht. Aber was berechtigt uns zur Annahme, diese sei weniger moralisch als die christliche?

Warum wir Deutsche uns gerade auf die katholische Metaphysik in dieser Frage festlegen sollen -und das Bundesverfassungsgericht hat uns in seiner Entscheidung gegen die Fristenlösung auf diese festgelegt -, ist rational gar nicht zu begründen, zumal sie in einer bemerkenswerten Diskrepanz zur Sorglosigkeit steht, die sie dem geborenen Leben gegenüber an den Tag legt. Das Feldgeschrei, das in der Genetikdebatte über eine eventuell möglich gewordene pränatale Selektion erhoben wird, steht in einem merkwürdigen Kontrast zur Stille, mit der über die postnatale Selektion hinweg gegangen wird. Nun wird bei uns nicht mehr wie im Dritten Reich physisch selektiert, dafür findet aber um so mehr eine soziale Selektion statt, die die Schwachen unserer Gesellschaft marginalisiert. Dieser Menschengruppe fällt es in unserer durch Konkurrenz geprägten Gesellschaft zunehmend schwerer, noch ein menschenwürdiges Leben zu führen. Die allenthalben stattfindende Entsolidarisierung, die vom Bundespräsidenten bis zu den Bischöfen beklagt wird, ist zwangsläufiges Produkt einer darwinistischen Konkurrenzgesellschaft, in der sich die Starken auf Kosten der Schwachen durchsetzen und die ganz Schwachen sogar auf der Strecke bleiben. Dies zu beklagen reicht nicht und moralische Appelle helfen nicht. Der Systemfehler lässt sich nur durch die Beseitigung des Konkurrenzsystems beheben. Aber davor scheuen Politik und Kirche zurück.

Eine Gesellschaft, die die pränatale Selektion verbieten will, muss zumindest dafür sorgen, dass keine postnatale Selektion stattfindet und die Geborenen auf menschenwürdige Weise leben können. Alles andere wäre schizophren. Aber genau diese Schizophrenie kennzeichnet die deutsche Diskussion. Das Problem ist nicht die Diskrepanz, die zwischen der christlichen Metaphysik und der kapitalistischen Wirtschaftsordnung besteht, sondern die Blindheit, mit der die Deutschen christliche Moralansprüche stellen, ohne zu sehen, dass die von ihnen hochgehaltene Marktwirtschaft tagtäglich mit den christlichen Grundsätzen kollidiert.

Es ist schon wahr: bei uns Deutschen spielt die Moral, die unsere politischen Handlungen begründen sollen, eine größere Rolle als bei unseren Nachbarn. Die Engländer, Franzosen, Amerikaner, Russen etc begründen ihr politisches Handeln schlicht und einfach mit ihren Interessen. Bei uns dagegen ist es höchst anrüchig, das politische Wollen auf nacktes Interesse zu gründen. Wir brauchen immer noch die moralische Legitimation. Es ist klar, dass der moraline Aspekt unserer Politik eine Reaktion auf unsere Vergangenheit ist, in der die Deutschen ihre Interessen brutal und rücksichtslos gegen andere Völker durchgesetzt haben. Dass Moralität, die über die völkische und staatliche Binnenmoral hinausgeht, erstmalig die deutsche Politik bestimmt, ist ein nicht hoch genug zu bewertendes Positivum. Zum Ideologem wird sie allerdings, wenn sie die wirklichen Interessen nur verschleiert. Ich will nun nicht behaupten, dass die CDU, die GRÜNEN und die Kirchen die Debatte um die pränatale Selektion führen, um von der postnatalen Selektion abzulenken. Ein derartiger Vorwurf würde voraussetzen, dass die politische Klasse längst erkannt hat, dass die stattfindende postnatale Selektion ein Systemfehler ist, der verschleiert werden muss. Moralität funktioniert nur, wenn sie glaubhaft ist. Je mehr die Moralisten an ihre Moralität glauben, desto größer ist ihre objektiv verschleiernde Wirkung, sodass am Ende tatsächlich der Eindruck entsteht, Moral und nicht Interessen würden unsere Politik bestimmen.

Dass dieser Eindruck trügt, ist a priori klar. Die Genforschung leitet nicht die Moral, sondern der Profit. Zu dieser Erkenntnis bedarf es keiner Marxschen Brille. Klar ist ebenso, dass die von Bundeskanzler Schröder einberufene Ethikkommission die Aufgabe hat, die Weiterentwicklung der Genforschung moralisch zu begründen. Um so peinlicher war ihm das Vorpreschen von Clement, der das erwünschte Resultat der Kommission schon für alle sichtbar vorweggenommen hat. Entlarvend ist hier die Aussage des Bundeskanzlers, der neben der Pflicht, die Menschenwürde zu beachten, ein moralisches Recht der Deutschen auf Wohlstand reklamiert. Die hier angestrebte Kommunion zwischen Moral und Nutzen kommt der Quadratur des Kreises gleich. Eine derartige Verbindung ist für uns Deutsche obszön und selbst schon ein moralisches Skandalon (Bush hätte hier sicherlich weniger Probleme bei seinen Landsleuten).

In die moralische Bredouille kommen wir Deutschen allerdings nur, wenn wir an der katholisch-fundamentalistischen Metaphysik festhalten. Diese verbietet uns in der Tat die Stammzellenforschung an den Embryonen. Die spannende Frage stellt sich nun, ob es der katholischen Metaphysik gelingt, Deutschland daran zu hindern, sich an der internationalen Embryonenforschung zu beteiligen, um ein riesiges vielversprechendes Profitfeld anderen Ländern zu überlassen. Wenn dieser Fall eintreten sollte, dann hätten wir erstmalig ein Beispiel, wo die Moral über das Kapital siegt. Es gehört keine große Prophetiegabe dazu vorauszusagen, dass dieser Fall sehr unwahrscheinlich ist. Ich sehe eher voraus, dass die christliche Metaphysik als inkompatibel mit der freien Marktwirtschaft erkannt und ihre herrschende durch das Bundesverfassungsgericht festgeschriebene Rolle verlieren wird. Andere Metaphysiken wie die oben beschriebene werden an die Stelle der christlichen treten, nicht, weil sie moralischer wären, sondern weil sie kompatibler zur kapitalistischen Ordnung sind.

Ihre Kompatibilität zum Kapitalismus macht sie anderseits auch nicht unmoralischer. Die Unmoralität der Genforschung entsteht erst durch den kapitalistischen Markt und nicht durch die Metaphysik, die sie zulässt. Die Entscheidung der Engländer ist sicherlich viel pragmatischer, weil durch sie Stammzellenforschung an Embryonen a priori kein moralisches Problem mehr darstellen. Sie ist aber nicht deshalb schon unmoralischer.

Wenn die deutsche Moralhaltung wenigstens den bösen Anfängen wehren würde, die eine unbegrenzte Genforschung eröffnet! Das ist aber leider nicht zu erhoffen. Der Pragmatiker Clement hat hier völlig recht. Die deutsche Sondermoral wird den internationalen Forschungszug nicht aufhalten können, selbst wenn die Moral, die Clement als deutsche Sondermoral denunzieren will, einem universalistischen Maßstab folgt. Das beweist allerdings noch einen ganz anderen Lehrsatz: nicht die Moral, auch nicht die sie bestimmende nationale Identität, bestimmen letztlich unsere politischen Handlungen, sondern das Kapital. Aber mit dieser Einsicht wären wir wieder bei Marx und von dem wollen wir Deutsche endgültig nichts mehr wissen.

Ehe ich jetzt ein viertes Politikfeld eröffne und den Antikommunismuskomplex der Deutschen an ihrer nationalen Identität festzumachen versuche, breche ich die Darstellung ab. Was die nationale Identität eines Volkes ist, definiert die politische Klasse. So hat die politische Kaste der DDR die nationale Identität sicherlich anders definiert als die der BRD die ihrige. Mein Aufsatz wollte aber zeigen, dass die nationale Identität eines Volkes über jede Definitionsmacht hinausgeht und kollektiv nicht nur dem Volk, sondern auch seiner politischen Klasse verborgen bleibt, und zwar in einem viel größeren Ausmaß, als uns lieb sein kann. Denn was kollektiv unbewusst ist, hat gerade dadurch kausaldeterminierende Wirkung auf unsere politischen Handlungen. Damit uns unsere nationale Identität nicht zum ewigen Kreuz wird und wir an Handlungskompetenz gewinnen, gilt es das uns kollektiv Unbewusste ins Licht der Aufklärung zu bringen, selbst wenn es schmerzt.