Harald v. Rappard

Eine notwendige Bemerkung zum Moral- und Geschichtsverständnis von St. Just, das offensichtlich auch das von Büchner ist ( der historische St. Just hat diese Rede nie gehalten ).

St. Just leugnet nicht die Moralität des einzelnen Menschen. Aber weder die Natur noch die Geschichte der Menschheit nimmt Rücksicht auf die individuelle Moral des Einzelnen. So kann auch der beste Charakter ein Opfer der Geschichte werden, wie er ein Opfer einer Naturkatastrophe sein kann. Das heißt aber nicht, dass die Geschichte selbst unmoralisch ist. St. Just unterstellt der Geschichte teleologisch ein moralisches Ziel: nämlich die Erschaffung einer Gesellschaft, in der die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verwirklicht sind. Der Weltgeist bedient sich der Arme der Menschen, diese geistigen und moralischen Grundsätze in der Körperwelt durchzusetzen. In revolutionären Phasen beschleunigt sich dieser Verwirklichungsprozess auf fast explosive Weise, wofür in normalen Phasen der Geschichte riesige Zeiträume nötig sind. Wer in dieser revolutionären Geschichtsphase nicht mitkommt, aus dem Prozess ausschert oder sich ihm gar entgegenstellt, über den geht die Geschichte rücksichtslos hinweg. Die Revolution geht deshalb zwangsläufig über die Leichen derer, die sich dem Verwirklichungsprozess der Moral verweigern. St. Just weiß sich also im Einklang mit der Moral des Weltgeistes, wenn er den Tod für alle fordert, die aus der Revolution aussteigen wollen. Er sieht sich als Vehikel des moralischen Weltgeistes, der die Geschichte lenkt.

Es ist also ganz und gar unrichtig, St. Just Amoralität oder Zynismus vorzuwerfen. Er ist zutiefst von seiner moralischen Mission durchdrungen. Hartherzig und mitleidslos ist er aus Moralität und nicht, weil er unfähig zu Mitleid und Tränen wäre.

Zynisch und amoralisch ist dagegen Danton. Für ihn gibt es keinen moralischen Weltgeist, der die Geschichte lenkt. Für ihn ist die Revolution ein kausaldeterminierter Naturprozess ohne Sinn und Vernunft. Auch er sieht sich als Vehikel, aber nicht wie St. Just eines lenkenden Weltgeistes, sondern als funktionierendes Rädchen innerhalb eines selbst sinnlosen Getriebes. Zu dem, was er tat, hat es für ihn keine Alternative gegeben. Die monarchistische Opposition im Inneren musste angesichts der Bedrohung von außen durch die Monarchien Europas liquidiert werden. Er fühlt sich nicht schuldig, weil zur Schuld die Freiheit gehört, anders gehandelt haben zu können. Diese Freiheit sieht Danton nicht, auch nicht im Nachhinein. Gleichzeitig leidet Danton unter seinen Taten. Seine Humanität revoltiert gegen die Guillotine. Er leidet unter dem Terror, den er ausüben muss, aber nicht will. Er sieht, wie in der Revolution die Menschlichkeit zugrunde geht. Dieser Widerspruch paralysiert ihn und macht ihn handlungsunfähig. So flieht er in den Lebensgenuss, sucht Entspannung bei Wein, Weib und Gesang und wird aus Verzweiflung zum Epikuräer. Aber auch die Lust wird ihm zur Last und so sein ganzes Leben, weil er sich in seinem Tun nicht mehr mit sich selbst identifizieren kann. In der Position des Nihilismus, in der der Glaube an jeden Sinn der Geschichte und des Lebens verloren gegangen ist, bleibt Danton nur noch der Zynismus, mit dem er sich und die Welt betrachtet. Der Zynismus ist die Haltung des Moralisten, der den Glauben an die Moral verloren hat und als Reaktion eine amoralische Position einnimmt.

Vergleichen wir die moralische Position Dantons mit der von St. Just, so ist die letztere zweifellos die entwickeltere. Dantons Moralbegriff ist auf den bürgerlichen Horizont beschränkt. Für ihn gibt es nur eine Privatmoral, die sich jeder nach seinem Geschmack auswählen darf. Was der eine für moralisch hält, mag der andere durchaus für unmoralisch halten. Die bürgerliche Republik hat sich in die Privatmoral des Individuums nicht einzumischen. Das bürgerliche Individuum hat die Freiheit, zu tun und zu lassen, was es will. Die Freiheit des Einzelnen endet nur dort, wo es die Freiheit des anderen beschränkt. Nur dort, wo die Bürger sich in ihren Interessen gegenseitig ins Gehege kommen, regeln Gesetze das bürgerliche Zusammenleben. Deshalb muss für Danton die bürgerliche Republik ein Rechtsstaat sein. Das Recht sichert dem bürgerlichen Individuum seine größtmögliche Freiheit, vor allem seine moralische Freiheit, zu. Das Recht soll an die Stelle der Gesinnung treten, die bisher die französische Revolution bestimmt. Danton strebt also genau die Republik an, die sich erst im 20 Jh. verwirklichen wird und unser gegenwärtiges Staats- und Rechtsverständnis ausmacht ( in der BRD ).

Robespierre und St. Just dagegen halten an einer allgemein verbindlichen universalistischen Moral fest, der sich kein Mensch entziehen darf. Recht ist bei ihnen nur die richtige Gesinnung. Falsche Gesinnung ist zur Zeit der Revolution, wo die junge Republik von außen und innen bedroht ist, Hochverrat und muss mit Hilfe der Guillotine eliminiert werden.

Dantons Horizont geht nicht über die französische Republik hinaus. Was er tut oder getan hat, tut oder tat er für Frankreich. Der Politik der Guillotine wirft er vor, dass sie Frankreich innen so schwäche, dass es zur leichten Beute ausländischer Mächte wird. Danton denkt und handelt als Nationalist und bleibt daher in einer binnenmoralischen Sicht stehen. St. Justs Moralhorizont ist dagegen eindeutig universalistisch. Er begreift sich als Instrument des Weltgeistes und nicht eines borniert nationalen Volksgeistes. In St. Just zeichnet Büchner den Prototyp eines Politikers, der Weltpolitik auf eine universalistischen Moral hin ausrichten und gestalten will. Auch dieser politische Ansatz wird erst im 20 Jh. virulent, als der Kommunismus unter Lenin die Weltrevolution anstrebt.

Die Modernität von Büchner liegt darin begründet, dass sein Drama die Problemlage des 20Jh.'s vorwegnimmt und skizziert.

Büchners eigene Haltung schwankt zwischen der von St. Just und der von Danton. Obwohl er im Drama den Verlauf der Revolution aus der Perspektive Dantons kritisiert und in der Reflexion eher sein geschichtspessimistisches Weltbild teilt, ist er im Leben mit Leib und Seele Revolutionär und betet angesichts der politisch reaktionären Verhältnisse in Deutschland " jeden Tag zum Hanf und zu den Laternen" ( Brief an August Stoeber) „Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll , so ist es Gewalt " ( Brief an seine Eltern, 1833) Als Moralist ist Büchner Befürworter der Revolution, als enttäuschter Moralist ist er der Zyniker Danton. Die nähere Beschäftigung mit der anfangs noch idealisierten Revolution raubt Büchner die Illusion, dass Geschichte nach moralischen Kriterien voranschreitet. Diese Einsicht hält ihn aber nicht davon ab, sich politisch zu organisieren, Partei zu ergreifen und sogar konspirativ gegen die Herrschenden tätig zu werden. Der Verhaftung kann er sich nur durch Flucht nach Frankreich entziehen. Das Drama zumindest gestaltet mehr als nur e i n e persönliche Sicht des Dichters und genau das macht seine Komplexität und seine in der Literatur bis dato unerreichte Nähe zur Wirklichkeit aus. Literaturgeschichtlich nimmt Büchner das moderne Dokumentartheater vorweg.

Ideengeschichtlich markiert es eine deutliche Abkehr vom Idealismus der Schillerschen Dramen. Schillers Helden setzen die Freiheit des Handelns voraus. Nur weil sie frei sind, können sie auch schuldig werden. Im bürgerlichen Trauerspiel gewinnt der Protagonist seine ständig bedrohte Freiheit zurück, in dem er den Tod auf sich nimmt und dadurch seine Moralität erhält. ( Dasselbe Muster haben wir auch in Goethes Briefroman Werther kennen gelernt ). Der Protagonist wird dadurch zum Helden und Vorbild für den Zuschauer.

Diese Art von idealistischer Verklärung findet für Büchner nur in wirklichkeitsfremder Literatur statt. Die Wirklichkeit sieht für Büchner anders aus. Die Handlungsfreiheit des einzelnen Menschen besteht nur in der Fiktion. Vor allem sind es nicht moralische Motive, die die Handlungen der Menschen vorantreiben. Eigennutz, Angst und Überlebenswille sind die Haupttriebfedern menschlicher Handlungen und sein Verhalten wird durch die Triebe bestimmt. Vernunft und Moral sind damit nur noch Ideologeme, die die egoistischen Handlungen verdecken sollen. Der Mensch ist in der Wirklichkeit ein kausaldeterminiertes Wesen und ist Zwängen ausgesetzt, die er selbst nicht zu verantworten hat . Keine Figur im Drama von Büchner handelt deshalb nach Beweggründen, die nur durch die Vernunft gesetzt sind. Selbst die Apologeten der Vernunft und Moral wie Robespierre und St. Just, die die Moral zur Grundlage ihrer Politik erklären, handeln aus dem Zwang heraus, nur so an der Spitze der Bewegung bleiben zu können, um nicht von ihr begraben zu werden. Aber auch ihre Versuche die Revolution durch deren Beschleunigung noch lenken zu können misslingt. Auch sie werden wie Danton von der Bewegung eingeholt und überrollt.

Der Tod, in den Danton geht, hat nichts Erhabenes, Heroisches mehr an sich. Das bürgerliche Trauerspiel hat ausgespielt. Die Tragik in Büchners Danton erinnert eher an die griechische Tragödie der Antike. Der Mensch ist sich der Bösartigkeit seiner Handlungen durchaus bewusst, ist aber einem blinden Schicksal unterworfen, das er selbst nicht mehr beeinflussen oder gar bestimmen kann und das ihn zur bösen Handlung zwingt.