Harald von Rappard (Mai 2003)

Zur Rolle des Staates als Arbeitgeber

Antwort auf die Kritiker meines Gesellschaftsmodells, einen staatlichen Arbeitsektors zu schaffen

Vielen meiner Kritiker scheint entgangen zu sein, dass ich eine Lanze für das von allen Zwängen befreite Unternehmertum breche. Schließlich kann nur das prosperierende Unternehmertum den von mir vorgeschlagenen staatlichen Arbeitssektor finanzieren. Es geht nicht mehr um die Marxsche Forderung nach Expropriation der Exproprieure, die ich mitnichten im Schilde führe. Mir geht es auch nicht um die genuin sozialdemokratische Forderung nach gerechter Umverteilung des Reichtums von oben nach unten. Nach meinem Vorschlag bleibt die Klassengesellschaft bestehen und damit die höchst unterschiedliche Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, sei dies nun gerecht, wie die Leistungsträger unserer Gesellschaft glauben, oder höchst ungerecht, wie die vom Reichtum Ausgeschlossenen es sehen.

Mir geht es darum, einen vom Kapital und Profitabilität befreiten Raum zu schaffen, der gesellschaftlich nützliche Arbeit denen verschafft, die der kapitalistische Markt nicht mehr absorbieren kann und zunehmend weniger absorbiert, mit der positiven Folge, dass die Qualität des gesellschaftlichen Lebens für alle steigt und jedem Mitglied der Gesellschaft - und nicht nur einer privilegierten Schicht - ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Es geht darum, dass das zunehmende Heer der Arbeitslosen nicht in die Verelendung abstürzt.

Genau zu dieser Verelendung führt das neoliberale Konzept, wenn - wie geplant - die Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe zusammenfallen soll, um den Anreiz auf Arbeit zu erhöhen, gleichzeitig aber immer weniger Arbeitsplätze auf dem freien Markt angeboten werden. Unrühmlich voran geht der Staat, der durch seine Privatisierung Tausende von Arbeitsplätzen vernichtet. Selbst der arbeitswillige und flexible Arbeitslose wird  auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft kaum noch Arbeit finden.

Nach den Vorstellungen der CDU/CSU soll  die Arbeitslosenhilfe um 25% für die Arbeitsunwilligen gekürzt werden. Als wenn die Arbeitsunwilligkeit das Problem wäre! Es ist nicht nur moralisch empörend, dass die Politik sich weigert, den wirklichen Problemen ins Auge zu sehen, es ist auch ökonomisch kurzsichtig. Selbst wenn die Zweidrittelgesellschaft ein Drittel abschreibt und dadurch noch nicht ihre demokratische Mehrheit verliert, so kann sie die Verelendung eines Drittels der Gesellschaft weder politisch noch ökonomisch durchhalten. Politisch riskiert sie den Klassenkampf, die Besitzenden werden immer weniger sorgenfrei leben können, und ökonomisch den Zusammenbruch der Binnennachfrage und damit den Zusammenbruch des Kapitals, das sich auf dem Binnenmarkt nicht mehr verwerten kann. Wer anschaulich illustriert haben möchte, auf welche gesellschaftlichen Zustände wir zutreiben bzw. in welche Zustände uns die neoliberale Politik treibt, schaue sich die brasilianischen Favelas und den Film "City of God" an. Mord und Totschlag auf offener Straße sind dort zur alltäglichen Gewohnheit geworden.

Das von mir vorgeschlagene Denkmodell fordert nicht nur die Verwirklichung dessen, was im ideologischen Horizont des Bürgertums a priori gilt (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit), es zeigt auch einen Weg auf, wie die Postulate der bürgerlichen Aufklärung weitgehend verwirklicht werden können. Darüber hinaus erfüllt es genau die Funktion des ideellen Gesamtkapitalisten, der gegen das Interesse der Einzelkapitalisten das Klasseninteresse der Kapitalisten wahrzunehmen hat: die  Existenzsicherung der kapitalistischen Produktionsweise und damit des Kapitals selbst.

Es zeigt sich immer wieder, dass die Klasse der Kapitalisten ihr eigenes Klasseninteresse nicht wahrnehmen kann. Der logische Grund ist, dass der einzelne Unternehmer nur seinen Profit im Auge hat und die gewerkschaftlichen Forderungen der Arbeitnehmer nur als Beschränkung seines Profits wahrnehmen kann. Der Unternehmer würde die Macht der Gewerkschaften am liebsten radikal beschneiden und den Lohn unter das Existenzminimum des Arbeiters drücken, wenn der Markt es zuließe. Ohne Gewerkschaften würde die Verelendung der Arbeiterklasse nicht mehr zu verhindern sein. Die Verelendung der Arbeiterklasse liegt nun aber nicht im Klasseninteresse der Unternehmer, denn ohne die Arbeiterklasse gäbe es auch kein Kapital. Eine starke Gewerkschaft liegt deshalb im Interesse des Gesamtkapitals. Da es auf dem freien Markt keinen Gesamtkapitalisten gibt, sondern nur konkurrierende Einzelkapitale, muss der Staat die Funktion des nichtvorhandenen und damit  wie Marx formuliert "ideellen Gesamtkapitalisten" übernehmen.

Der Sozialstaat, den die Gewerkschaften gegen den Widerstand des Arbeitgeberlagers erfochten haben, liegt also im wohlverstandenen Interesse des Gesamtkapitals. Der von den Arbeitgebern geforderte Abbau des Sozialstaats verstößt gegen ihr eigenes Klasseninteresse. Nur der Staat und die staatstragende Mittelklasse kann das Klasseninteresse der Kapitalisten wahrnehmen und durchsetzen. Weil das so ist, trennt sich im Laufe der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft die politische staatstragende Klasse von der ökonomisch herrschenden Klasse (was Marx vor 150 Jahren so hat noch nicht sehen können).

Im Augenblick erleben wir nun, wie die politische Klasse versagt und das neoliberale Konzept der ökonomischen Klasse zum politischen Konzept macht und damit die Funktion des ideellen Gesamtkapitalisten immer weniger erfüllt. Das bleibt nicht ohne negative Konsequenz gerade auch für die ökonomisch herrschende Klasse. Mit der Verschlechterung der Einkommensverhältnisse der Arbeiterklasse (und die verschlechtern sich auch im holländischen Modell, wo alle Arbeit haben, dafür aber weniger verdienen) verschlechtern sich auch die Verwertungsbedingungen des Kapitals.

Langer Rede kurzer Sinn: mein Konzept rettet den Kapitalismus, das neoliberale Konzept der Kapitalisten vernichtet dagegen die Produktionsbedingungen des Kapitals und damit den Kapitalismus selbst. Das ist paradox, aber nicht deshalb schon unwahr und spiegelt nur die Tatsache wider, dass das Klasseninteresse der Kapitalisten im Widerspruch steht zum Interesse des einzelnen Kapitalisten.

Ebenso paradox, aber gleichzeitig wahr ist es, dass der funktionierende Kapitalismus als die höchste und absolute Form entfremdeter Arbeit erst den staatlichen Raum nichtentfremdeter Arbeit ermöglicht. Mein Gesellschaftsmodell ist im wohlverstandenen Interesse des Gesamtkapitals, aber auch im wohlverstandenen Interesse der arbeitenden Menschen (für den marxistischen Kritiker eine fast obszöne Vorstellung).

Das Klasseninteresse der Arbeitenden ist die Aufhebung der entfremdeten Arbeit und nicht die gewerkschaftliche Forderung nach gerechter Entlohnung. Auch hier müssen wir wie schon oben zwischen Klassenbewusstsein und Klasseninteresse unterscheiden. Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften können nicht ihr Klasseninteresse durchsetzen, weil es in ihrem Klassenbewusstsein nicht vorkommt. Das Klasseninteresse ist nicht die Summe der Einzelinteressen innerhalb der Klasse. Das Klasseninteresse wird erst sichtbar unter einem transzendentalen Blickwinkel, der die gesamte Klassengesellschaft überblickt.

In meinem Modell wird die entfremdete Arbeit nicht aufgehoben. Sie existiert weiterhin im privaten Arbeitssektor auf dem freien Markt. Es schafft indes im öffentlichen Arbeitssektor einen Raum für nicht entfremdete Arbeit. Wenn der Arbeitssuchende auf dem Arbeitsmarkt wählen kann zwischen hochbezahlter entfremdeter Arbeit (und noch höher bezahlter Spezialistenarbeit) und nur ausreichend besoldeter nichtentfremdeter Tätigkeit, dann ist er nicht mehr der zur Arbeitsfron verurteilte Lohnsklave, dann hat er seine Freiheit erlangt, die ihm die freie Marktwirtschaft nur ideologisch zusichert, aber nicht wirklich. Der Kapitalattraktor verliert seine absolutistische Macht, wenn neben ihm ein Attraktor sinnvoller, selbstbestimmter Tätigkeit eröffnet wird.

Natürlich initiiert mein Gesellschaftsmodell einen Wertewandel, da jetzt das Wertvollste nicht mehr durch Geld aufgewogen wird und Geld nicht mehr der höchste Wert ist. Geld soll jetzt nur noch kompensatorisch den Verlust an Lebensqualität wettmachen, der durch entfremdete Arbeit entsteht. Es steht also wirklich in Frage, ob - wie einige meiner Kritiker annehmen -der Staatsbesoldete, der einer selbstbestimmten Tätigkeit nachgehen darf, noch neidisch auf den entfremdet Arbeitenden ist, nur weil dieser dreimal so viel verdient wie er. Ich denke, es wird eher umgekehrt sein: der viel Verdienende wird neidisch auf den sein, für den Geld keine entscheidende Rolle mehr spielt, weil dieser geistigen und nicht mehr materiellen Werten folgt.

Geistigen Werten kann natürlich nur derjenige folgen, der nicht mehr in materieller Not ist. Wir leben aber nicht mehr in der Antike, wo die Muße zur Philosophie nur eine von der Arbeit befreite Oberschicht hatte. Immerhin hat die Dynamik des kapitalistischen Wirtschaftssystem die Industriegesellschaft so weit fortentwickelt, dass niemand mehr in Not zu leben bräuchte. Dass die kapitalistische Überflussgesellschaft dennoch die Verarmung des größten Teils der Weltbevölkerung erst erzeugt, ist ein Systemfehler, der immerhin durch mein Modell beseitigt werden kann. Heißt es bei Brecht noch: erst kommt das Fressen, dann die Moral, so kann sich eine Gesellschaft, die genügend Essen für alle hat, durchaus wieder die Moral als Primat gesellschaftlichen Handelns erlauben.

Kurz und gut: mein Gesellschaftsmodell ist nicht nur im Interesse des Gesamtkapitals, es gibt darüber hinaus der christlich-abendländischen Wertvorstellung und dem Humanismus der Aufklärung erst den Boden, auf dem beide wachsen können, genau den Boden nämlich, den der bisher allein regierende Kapitalattraktor permanent zerstört und unseren Wertehimmel zur bloßen Ideologie verkommen lässt.

Wenn die CDU/CSU ihrem Namen und ihrer Wertvorstellung gerecht werden wollte und sie das realisieren möchte, was sie eigentlich immer schon wollte und will, dann müsste sie mein Gesellschaftsmodell zu ihrem Parteiprogramm machen. Statt dessen setzt sie auf das neoliberale Programm und zerstört ihre Wertvorstellung, für die sie nur noch ideologisch eintritt.

Die Kritiker meines Modells sagen wie alle Neoliberalen, der Sozialstaat sei nicht mehr zu bezahlen. Ich bezweifle das angesichts der horrenden Summen, die jährlich dem Fiskus durch Steuerhinterziehung verloren gehen und angesichts der immer noch florierenden Exportindustrie und angesichts der Tatsache, dass die Wirtschaft von Staaten ohne Sozialstaat nicht besser florieren. Selbst die gänzliche Abschaffung des Sozialstaats wird unsere Wirtschaft nicht zum boomen bringen. Die Einschränkung des Sozialstaats hat nur die unmittelbare Folge, dass die Binnennachfrage noch weiter absackt. Unbezahlbar ist deshalb nicht die Beibehaltung des Sozialstaats, sondern dessen Einschränkung oder gar Abschaffung.