Ist der Untergang der Titanic unvermeidlich?


Eine Antwort an meinen antimarxistischen Kritiker und Apologeten der kapitalistischen Gesellschaft


Mein lieber kontrahent gerd r.

es ist erfreulich zu hören und zu lesen, dass der eisberg unter wasser allmählich auch für dich an konturen gewinnt, selbst wenn du fälschlicher weise glaubst, dich um ihn herum bewegen zu können, wo in wahrheit du trotz frei zappelnder extremitäten, was ich dir gern zugestehen will, fest mit dem rücken im eisberg hineinkristalisiert bist, was du auf natürliche weise natürlich nicht sehen kannst. Immerhin spürst du seine kälte.

Unmetaphorisch gesprochen: du siehst die fratze und die nachteile des kapitalismus, aber mehr noch seine vorteile und sein mildes antlitz. Von diesem aber lässt du dich gewaltig täuschen. Fratze ist er nämlich auch dort oder gerade dort, wo sein antlitz mild erscheint.

Dein toyota-beispiel illustriert diese verkehrung von wesen und erscheinung doch sehr vortrefflich: wie wunderbar erscheint die japanische industrie, in der die entfremdende tätigkeit von industrierobotern übernommen wird und die menschen von dieser fron der arbeit befreit sind. Von den 100 000 menschen, die ihren arbeitsplatz verloren haben, hört und liest man aber nichts. Dass hier ein problem besteht, leugnest du sogar.

Ich weiß nicht, von welchen 100000 japanischen Toyota-Arbeitern du sprichst. Wenn ich gelesen und weitergegeben habe, dass 66 Japaner heute jährlich 100000 Fahrzeuge herstellen, so lässt dies in der Tat vermuten, dass durch Maschinen und Rationalisierung Menschen ihre Arbeitsplätze verloren haben. Aber sie werden von anderen Markt-Sparten und von neu entstehenden Märkten aufgefangen. Ich war in Japan. Es ist ein fleißiges und ein reiches Land. Und sauber. So richtig was für mich.

Du wiederholst hier nur die formel, die der neoliberalismus gebetsmühlenhaft täglich herunterleiert, aber dadurch nicht wahrer wird." Die wegrationalisierung traditioneller arbeitsplätze lässt sich kompensieren durch schaffung neuer arbeitsplätze in innovativen branchen", so lautet sein credo. Zweifellos werden dort neue arbeitsplätze geschaffen wie jetzt in dresden, wo für 2,5 milliarden euro eine neue chipfabrik gebaut werden soll, aber die große lüge ist, dass in der summe die anzahl der arbeitsplätze gleichbleibt. Die anzahl der neuen arbeitsplätze ist ungleich geringer als die anzahl der arbeitsplätze, die durch die neuen technologien vernichtet werden, was ich in meinem aufsatz Die große Lüge habe deutlich machen wollen.

So wird auch im reichen und fleißigen japan - wie in der ganzen welt - die anzahl der arbeitsplätze mit fortschreitender produktivität geringer werden und das heer der arbeitslosen wird wachsen. Sie werden eben nicht mehr von anderen Markt-Sparten und von neu entstehenden Märkten aufgefangen. Sie werden vom reichtum japans ausgeschlossen, was ja ein erhellendes licht auf die verschleiernde phrase vom reichen japan wirft. Wer ist reich im reichen japan und vor allem, wie viele bleiben arm im reichen japan?! Und wächst mit dem reichtum japans etwa nicht gleichzeitig auch die armut in japan? Und wie lange noch kann der japanische sozialstaat den absturz der arbeitslosen in das elend verhindern? Im übrigen ist dein japan, was du vor jahren besucht hast, nicht mehr das japan von heute, das aus der langanhaltenden rezession nicht mehr herauszufinden scheint, und schon gar nicht das japan von morgen.

Aber an die verelendungstheorie von marx willst du ja nicht glauben.

Ich behaupte, dass der Marxsche Pauperismus nicht (wie prophezeit) eingetreten ist. Auch die "Akkumulation des Reichtums in wenigen Händen" finde ich in der Wirklichkeit nicht wieder. Ich sehe da eher so eine Pyramide des Reichtums. Selbst wenn ganz oben ganz wenige ganz Reiche sind, sind die Begüterten darunter auch noch nicht so schlecht dran. Auch der Reichtum gibt sich weniger schwarz weiß als dies bei dir ausschaut.

Ich bin sprachlos über deine verdrängungsleistung von wirklichkeit, die du aufbringen musst, um eine derart evident falsche behauptung für wahr zu halten. Die von marx prophezeite verelendung fände - global betrachtet - nicht statt? Nicht stattgefunden hat sie doch bisher nur in den wenigen europäischen staaten, die einen sozialstaat entwickelt haben, bei denen sich gerade jetzt die frage stellt, wie lange sie noch den sozialstaat bezahlen können, der sie vor der verelendung schützt. Global dagegen hat sich in den letzten jahrzehnten eine rasante entwicklung vollzogen, in der die reichen immer reicher und die armen immer ärmer geworden sind. Ich erinnere dich an das zitat aus der monde diplomatique, das ich in meinem aufsatz zur marxschen dialektik 1998 (in: Das System Titanic: das unerstandene Paradigma gegenwärtiger Politik ) schon verwandt habe:

Der Besitz der drei reichsten Menschen der Welt übersteigt zusammengenommen das kumulierte Bruttoinlandsprodukt (BIP) der achtundvierzig ärmsten Länder der Welt (ein Viertel aller Staaten). Dieses drastische Mißverhältnis wird selten registriert, auch wenn jeder weiß, daß sich der Graben der sozialen Ungleichheit im Laufe der beiden letzten - ultraliberalen - Jahrzehnte vertieft hat. "1960 verfügten die 20 Prozent der Weltbevölkerung, die in den reichsten Ländern lebten, über ein dreißigmal höheres Einkommen als die ärmsten 20 Prozent; 1995 war ihr Einkommen bereits zweiundachtzigmal höher." In mehr als siebzig Ländern ist das Pro-Kopf-Einkommen in den letzten zwanzig Jahren gesunken. Weltweit leben drei Milliarden Menschen - die Hälfte der Menschheit - mit weniger als eineinhalb Dollar pro Tag. Noch nie gab es einen derartigen Warenüberschuß, doch die Zahl derer, die kein Dach über dem Kopf, keine Arbeit und nicht genug zu Essen haben, steigt unablässig. Ein Drittel der 4,5 Milliarden Menschen, die in den Entwicklungsländern leben, haben keinen Zugang zu Trinkwasser; ein Fünftel aller Kinder nehmen nicht genügend Kalorien und Proteine zu sich; und zwei Milliarden Menschen - ein Drittel der Menschheit- leiden unter Blutarmut. Schicksal? Keineswegs. Wenn man den 225 reichsten Menschen der Welt vier Prozent ihres Vermögens nähme, könnte man mit dieser Summe laut UN-Angaben problemlos den Grundbedarf der Weltbevölkerung an Nahrung, Trinkwasser, Bildung und Gesundheit sichern. Die allgemeine Befriedigung der Gesundheits- und Nahrungsbedürfnisse würde jährlich nur 13 Milliarden Dollar kosten, das ist knapp so viel, wie die Einwohner der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union pro Jahr für Parfüm ausgeben . Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, deren 50. Jahrestag im Dezember dieses Jahres gefeiert wird, behauptet in Artikel 25: "Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen (...)." Doch für einen Großteil der Menschheit werden diese Rechte immer unerreichbarer. Nehmen wir zum Beispiel das Recht auf Nahrung. An Nahrung fehlt es nicht. Nie zuvor waren Lebensmittel in solchem Überfluß vorhanden, und eigentlich sollte es möglich sein, jedem einzelnen der 6 Milliarden Menschen, die die Erde bevölkern, mindestens 2 700 Kalorien am Tag zur Verfügung zu stellen. Es genügt jedoch nicht, Lebensmittel zu produzieren, wenn diejenigen, die sie benötigen, nicht über die Mittel verfügen, die vorhandenen Lebensmittel auch zu kaufen. Und diese Mittel haben bei weitem nicht alle. Jahr für Jahr verhungern weltweit 30 Millionen Menschen; 800 Millionen leiden an chronischer Unterernährung. Auch diese Fakten könnten vermieden werden, denn klimabedingte Ernteausfälle sind oft vorhersehbar. Humanitäre Organisationen wie die "Action contre la faim" können eine entstehende Hungersnot innerhalb weniger Wochen eindämmen - wenn man sie läßt. Und dennoch rafft der Hunger weiter ganze Bevölkerungsgruppen dahin. (Textauszug aus: Ignacio Ramonet, Den Hunger planen, in: Le Monde diplomatique, 13.11.98 )

Es fällt mir schwer zu verstehen, wie man angesichts dieser daten noch den von marx prophezeiten pauperismus und die akkumulation des kapitals in wenigen händen leugnen kann.

Deine reichtumspyramide ist hier völlig abwegig, weil sie die reichtumsverteilung nur quantitativ erfasst (der reichtum wächst umgekehrt proportional zur anzahl der reichen, was sicherlich richtig ist), die qualitative differenz aber zwischen reichtum und armut verwischt und verwischen will. Auch hier hilft dir das bild des eisbergs weiter: nur die spitze des eisbergs wird von der sonne beschienen (deine reichtumspyramide), neunzehntel des eisbergs dagegen liegen unter wasser, so wie die mehrheit der weltbevölkerung unterhalb der armutsgrenze dahinvegitiert. Frei nach brecht fallen mir hier nur die verse ein:

      Die einen stehn im Dunklen, die andern stehn im Licht
      Nur die im Dunklen stehen, die sieht der Bürger nicht

Die höchst ungleich geteilte welt in licht und schatten ist resultat des kapitalistischen wirtschaftssystems und gerade nicht das ergebnis eines polarisierenden schwarz-weiß-denkens, das die grautöne weglässt, was du mir unterstellen möchtest.

Dein haupteinwand gegen meine sichtweise ist die unausweichlichkeit, mit der ich die titanic auf den eisberg krachen lasse, bzw. unmetaphorisch gesagt unser kapitalistisches system samt menschheit in den abgrund driften sehe. Warum - so scheinst du fragen zu wollen - soll die titanic dem eisberg nicht ausweichen können, wenn sie ihn rechtzeitig bemerkt? Die titanic ist doch bloß auf grund eines unglücklichen zufalls, aber nicht mit notwendigkeit untergegangen. Gut, lassen wir es zu, dass die titanic dem einen eisberg hätte ausweichen können. Wenn aber der kurs der titanic der nordpol ist, so tendiert die wahrscheinlichkeit, nicht mit einem eisberg zu kollidieren, gegen null. Aber muss denn unsere titanic auf den nordpol zusteuern, muss denn unser gesellschaftliches system ausschließlich nur vom kapitalattraktor, vom profitgesetz determiniert sein?

Ich sage nein. Deine antwort dagegen ist sehr widerssprüchlich. Auf der einen seite leugnest du, dass der kapitalattraktor der einzige wirksame gesellschaftsattraktor sei.

Du hattest selbst auf Gysi hingewiesen, der neben der Herrschaft der Sachen bzw. des Marktes noch andere Attraktoren in der Gesellschaft glaubte ausfindig machen zu können. Dem habe ich (nicht ganz ohne Magengrimmen) beigepflichtet. Deine Sicht ist mir zu eng. Auch in Sachen Freiheit bist du ungerecht.

Auf der anderen seite streitest du die wirksamkeit eines jeden attraktors ab, der nicht vom profitgesetz bestimmt wird.

Ich habe bereits früher zu bedenken gegeben, dass so eine nicht nach den Gesetzen des Profits schielende Alternative einfach illusorisch ist - keine Chance hat. Dieses Rousseau'sche Zurück zur Natur ist nicht zurückholbar. Eher fährt die ganze Geschichte vor die Wand. Da folge ich dir bzw. deiner Darstellung bzw. Analyse.

Ich bestreite gar nicht die existenz gesellschaftlicher attraktoren, die nicht vom profitgesetz bestimmt werden. Ich bestreite nur, dass sie sich gegen den kapitalattraktor durchsetzen werden, so lange er der determinierende attraktor in der politik ist. Dem scheinst du ja jetzt auch folgen zu können. Das heißt aber nun doch auch für dich, dass es außer dem kapitalattraktor keine anderen relevant wirksamen gesellschaftsattraktoren gibt und diese nur illusionär sind. Wenn aber nun alle alternativen, die gegen das gesetz der profitmaximierung verstoßen, illusionär sind, dann weicht unser gesellschaftssystem nicht vom kurs ab, dann bleibt der nordpol das kursziel der titanic und dann seh ich in der tat nicht, wie die katastrophe verhindert werden kann.

Die unausweichlichkeit der katastrophe ist allerdings immer noch eine selbstgewählte und damit selbst verschuldete. Es ist ja nicht wahr, dass wir den kurs der titanic nicht ändern könnten. Wir halten nur kurs, weil wir an eine alternative nicht glauben wollen.

Es ist nicht ohne witz, wenn du dir darüber klar wirst, dass ich und nicht du an der freiheit des menschen festhalte und sie immer wieder einfordere. Ich mache mir allerdings keine illusionen darüber, ob der mensch diese seine freiheit auch nutzt. Solange wenigstens der mensch glaubt, den sachgesetzen des marktes folgen zu müssen, macht er sich zur sache und verhält sich wie eine sache, statt selbstbestimmt zu handeln. Der mensch hat natürlich die freiheit sich zur sache zu machen, aber dann braucht er sich nicht zu wundern, wenn sein verhalten durch sachgesetze determiniert und prognostizierbar wird. Letztlich sind es also nicht die sachgesetze, sondern immer nur selbst auferlegte zwänge, denen der Mensch folgt. Der mensch ist und bleibt seiner substanz nach ein freies wesen, was ihn potentiell vom tier und der sache unterscheidet, aber nur potentiell: er kann sich auch zum tier oder zur sache machen, was weder das tier noch die sache kann.

Merkwürdigerweise hältst du an dieser freiheit des menschen nicht fest, wenn du jede alternative zum profitgesetz leugnest und die gesellschaft auf ein gleis setzt, in der sie nur noch in eine richtung fahren kann. Wer restringiert denn hier die freiheitsgrade des handlungsspielraum auf einen schmalen handlungskorridor, wenn nicht du, der du nur noch den zug mit kapitalistischer richtung akzeptierst und alle anderen züge mit anderen richtungen aus deinem fahrplan streichst? Das wahrhaft tolle aber ist deine weigerung anzuerkennen, dass das kapitalistische gleis in den untergang führt bzw. die titanic am eisberg zerschellt, lange bevor sie den nordpol erreicht.

Klar, dich schreckt das kapitalistische gleis in die zukunft nicht. Am ende des von dir gewiesenen tunnels siehst du ja nicht die wand, den abgrund, sondern wundersamerweise immer noch das licht, durchaus in chiliastischer tradition, das licht dorthin zu projizieren, wo keins ist. Zwar wirfst du nicht wie der chilialist das licht in die zukunft, weil er in der gegenwart keines findet, du nimmst vielmehr das noch gegenwärtige licht und wirfst es in eine dunkle zukunft, ohne dabei begreifen zu wollen, dass dem kapitalismus eine destruktive dynamik innewohnt, die keine lichte zukunft mehr zuläßt und zwar für niemanden mehr, auch nicht für den kapitalisten.

Der grund deiner blindheit: du siehst die fratze des kapitalismus nicht in ihrem ganzen ausmaß, siehst neben unschönen seiten des kapitalismus auch gute seiten, die die unschönen relativieren, siehst nicht, dass auch die guten seiten nur züge ein und derselben fratze sind (siehe oben) und siehst vor allem nur die erscheinung und nicht das wesen, nicht die entwicklungslogik, in der das wesen des kapitals zur erscheinung gelangt.

Wie willst du auch das wesen einer sache erkennen können, wenn du dich nur auf die augen stützt? Ohne eine theorie, die die erscheinungen aus einer entwicklungslogik ableitet oder erklärt, bleiben die erscheinungen unbegriffen. Es gibt viele theorien über den kapitalismus, aber bisher nur eine, die von marx nämlich, die den kapitalismus in seiner entwicklungslogik zu begreifen sucht. Ob die marxsche theorie ihrem erklärungsanspruch gerecht wird, sei einmal dahingestellt. Immerhin bietet uns die marxsche theorie eine brille an, in der die historische entwicklung des kapitalismus nicht nur eine logik bekommt, sondern darüberhinaus noch prognostizierbar wird. Ich finde es nun sehr bemerkenswert, dass global gesehen sich alle prognosen der marxschen theorie zu bewahrheiten beginnen. Dein gegenteiliger eindruck rührt ja nur daher, dass du die europäische sonderentwicklung zum sozialstaat vor augen hast, die aber - wie wir jetzt alle am eigenem leib erfahren - im zuge der globalisierung wieder zurückgenommen wird, so dass auch in europa die von marx prognostizierten verhältnisse eintreten werden. Ohne die marxsche brille sähe ich das allerdings nicht und du musst sie schon aufsetzen, um einen einblick in die zukünftige entwicklung zu bekommen.

Es ist doch einfach nur noch blöd, deshalb auf erkenntnis verzichten zu wollen, weil der ungeliebte marx uns die brille zur verfügung gestellt hat. Die marxsche brille benutzen heißt vor allem nicht, alles für sakrosankt zu erklären, was marx von sich gegeben hat. So sehe ich durch seine brille die europäischen sonderentwicklung zum sozialstaat durchaus anders und differenzierter, als sie noch marx in seinem zeithorizont hat wahrnehmen können (was ich in meinem paper zur dialektik der geschichte (Das System Titanic: das unverstandene Paradigma gegenwärtiger Politik) ausführlich dargelegt habe). Eben sowenig glaube ich an das revolutionäre subjekt des proletariats, das seine ketten zerreißt und in selbstbestimmung sein leben in der nachkapitalistischen gesellschaft zu organisieren beginnt, schon gar nicht an die avantgarden des proletariats, die als kommunistische parteien in seinem namen zu agieren und zu agitieren versuchen. Das global-historische entstehen der kp's und deren erfolglosigkeit gerade dort, wo sie an die macht gekommen sind, müssen ja einen objektiven logischen grund haben, der im übrigen in der marxschen theorie selbst seine erklärung findet (auch das habe ich in dem oben genannten essai näher ausgeführt). Dazu passt auch ein schöner satz von heiner müller: „Der Versuch Marx zu widerlegen begann mit Lenin und endete 70 Jahre später mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion.“ Gegen den kapitalismus gibt es nur einen ernst zu nehmenden gegner und der ist der kapitalismus selbst. Alle historischen versuche, ihn zu stoppen, bevor er sich global entwickelt hat, sind illusionär und zum scheitern verurteilt. Dem kapitalismus ist sein expansionsdrang inhärent - keine schranke kann ihn aufhalten - und er blüht, solange er expandieren kann. Der globalisierungszug des kapitals lässt sich also nicht mehr aufhalten. Da hast du völlig recht.

Globaler als global kann sich der kapitalismus aber nicht mehr ausdehnen und kann sich das kapital nicht mehr ausdehnen, dann gerät das kapitalistische system in die ultimative krise. (Das kapital ist ja nur dadurch kapital, dass es sich ausdehnt und nach jeder verwertung zunimmt. Das unterscheidet es vom bloßen geld, das dagobert im schatzhaus hortet.) Es ist nicht die verelendung, die das kapital schreckt, sondern seine mangelnde verwertungsmöglichkeit, denn diese führt zum zusammenbruch des kapitalismus, egal, ob die verelendeten massen gegen den kapitalismus revoltieren oder nicht.

Wenn der markt seine maximale, globale ausdehnung erreicht hat und keine zusätzlichen käuferschichten mehr erworben werden können (die masse der pauperisierten wird wegen mangel an kaufkraft nie dazugehören), dann ist profit für das einzelne unternehmen nur noch durch rationalisierung der produktion erreichbar. Der profit kann nur durch steigerung der produktivität aufrecht erhalten werden, die die lohnkosten senkt und das unternehmen konkurrenzfähig hält. Die schmerzlichen folgen erleben wir ja nun alltäglich. Hunderttausende von arbeitsplätzen gehen verloren. Immer mehr menschen fallen aus der arbeitsgesellschaft heraus und dem sozialstaat zur last, der zunehmend weniger in der lage ist, diese noch zu alimentieren. Die armut nimmt nun auch in deutschland zu. Das ist ein fakt. Und ganz im gegensatz zu deiner reichtumspyramide werden nicht nur auch hier die armen immer ärmer und die reichen immer reicher, darüber hinaus wird auch der breite potentielle kreis der käufer aus der mittelschicht immer kleiner, wie ja der einbruch des weihnachtsgeschäfts deutlich zeigt (siehe oben).

Es nützt dir nun gar nichts, wenn du gegen diese sicht momentaufnahmen des noch existierenden sozialstaats ins feld führst, um zu zeigen, dass bei uns noch humane verhältnisse herrschen und vom pauperismus noch keine rede sein kann. Aus der einzelnen momentaufnahme lässt sich prinzipiell keine entwicklung ablesen. Erst wenn mehrere zeitlich versetzte momentaufnahmen hintereinander geschaltet werden, lässt sich eine positive oder negative entwicklung ablesen und eine logik erkennen, die den übergang von zustand a in den zustand b erklärt.

Nun will ich dir ja gern zugestehen, dass die marxsche theorie nicht die einzig richtige sein muss, um den zukünftigen globalen und jetzt schon empirisch wahrnehmbaren pauperismus logisch aus dem kapitalismus herzuleiten. Es haben sich neuere ökonomische theorien wie die lehre vom grenznutzen völlig von der arbeit-wert-lehre der klassischen nationalökonomie gelöst, in denen sich die marxschen kategorien des mehrwerts und der ausbeutung gar nicht mehr denken lassen. Aber alle diese theorien sind -in anlehnung an das vokabular der sprachwissenschaft - nur syntagmatische theorien und keine diachronen, die die historische entwicklung zum ausdruck bringen können, was übrigens von den vertretern der grenznutzenlehre (J.Robinson) zugegeben wird. Die singularität der marxschen theorie besteht darin, dass marx in seiner dialektik das syntagmatische und das diachrone miteinander verknüpft. Aber, wie gesagt, richtig muss sie deshalb noch nicht sein, genau so wenig wie die newtonsche theorie schon deshalb richtig ist, weil sie die zukünftige sonnenfinsternis richtig berechnen und voraussagen kann. Aber warum soll sie als nutzlos verworfen werden, wenn sie bis heute noch dazu als einzige die richtigen prognosen liefert?

Nun gut, du siehst ja die richtigkeit der marxschen prognosen nicht ein und nicht nur du. Die politische klasse, die sich dem neoliberalismus verschrieben hat, sieht es eben sowenig. Was empirisch wahrgenommen wird, entscheidet der selbst unverstandene vorbegriff und nicht das empirische faktum. Die neoliberalen sehen die favelas, wenn sie denn diese sehen, als marginalisierbaren rand unseres gesunden systems, sehen sie gar schwinden bei florierender wirtschaft. Die profiteure des systems dagegen fürchten den abseitigen rand und glauben ihn aber durch polizeigewalt vom leibe halten zu können: das paradigmatische parteiprogramm der konservativen. Ich hingegen sehe, wie das zentrum den faulenden rand erst produziert und wie sich die favelas krebsgeschwürartig ins zentrum hineinfressen - durch keine polizeigewalt mehr aufhaltbar - bis das system kollabiert.

Meine kassandrarufe kommen zu früh? Seit wann erschallen kassandrarufe rechtzeitig? Sie kommen für den hörer immer zu früh und damit immer zu spät, weil sie zu keinem zeitpunkt geglaubt werden.

Ich frage mich die ganze zeit, worin eigentlich deine schwierigkeit begründet ist, die marxsche sichtweise einzunehmen. Dein widerwille gegen marx muss doch noch in anderem begründet liegen als in der bloßen tatsache, dass kommunisten stalinistischer provenienz ihn zur ikone erhoben haben.

Ich denke, du teilst den wesentlichen einwand der philosophie gegen die marxsche theorie. Wenn nämlich marx recht hat, dass das handeln der menschen prognostizierbar und damit ökonomischen gesetzen unterworfen ist, dann gibt es keine freiheit mehr, der mensch hätte seine einzigartige stellung im kosmos verloren und wäre wie alle anderen naturdinge auch zu einem bloßen kausaldeterminierten objekt geworden. Der philosophie wird damit ihr eigentlicher boden entzogen (der kölner philosoph schulz nennt deshalb den marxismus neben dem darwinismus und der psychoanalyse als eine der drei großen kränkungen der philosophie, weil sie die freiheit und damit die vernunft und die autonomie des geistes in frage stellen).

Ich halte den einwand der philosophie gegen marx für ein missverständnis. Marx gibt ja gerade nicht die freiheit des menschen auf. Sie bleibt sein philosophisches ziel und seine philosophische forderung. Die freiheit lässt sich nach marx nur nicht in einer klassengesellschaft realisieren, auch nicht in einer kapitalistischen gesellschaft, wo alle menschen unabhängig von ihrer klassenlage sich den sachgesetzen des marktes unterwerfen. Selbst in der unterwerfung ist die potentielle freiheit ja nicht aufgehoben. Die menschen könnten, wenn sie wollten, jederzeit ihre unterwerfung beenden. Dass sie es nicht tun, ist zwar kein akt der freiheit, sondern nur ein nichtwahrnehmen der freiheit und sie nehmen die freiheit nicht wahr, so lange die befriedigung materieller bedürfnisse wichtiger ist als das interesse nach freiheit (erst kommt das fressen, dann die moral). Der arbeiter kann seine freiheit nicht wahrnehmen, weil er zur arbeitsfron verurteilt ist, um leben zu können. Der kapitalist, der von der arbeitsfron befreit ist, weil er von der arbeit anderer lebt, kann ebensowenig seine freiheit wahrnehmen. Er muss sein kapital vergrößern, um in der konkurrenz überleben zu können. Verprasst er den gewinn, gerät er ins hintertreffen. So verselbständigt sich unser ökonomisches system und bekommt eine eigendynamik. Nicht mehr die mächtigen lenken das system, sondern das system lenkt die mächtigen, und macht sie, obwohl sie im lichte stehen, gleichermaßen ohnmächtig wie die, die im schatten vegitieren und dafür sorgen, dass die anderen wenigstens im lichte leben.

Für hegel waren es noch männer, heroen, die die geschichte machten: alexander, caesar, napoleon, in dem hegel gar den weltgeist zu pferde erblickte, männer, die durchaus auch von eigensüchtigen trieben gelenkt gewesen sein mögen, aber deshalb zu den heroen der weltgeschichte wurden, weil sie bornierte verhältnisse aufbrachen und der freiheit einen neuen politischen raum gegeben haben. Sie haben nach hegel die geschichte zu mehr freiheit vorangetrieben.

Heute sind die männer und frauen, die geschichte oder politik machen, nur noch die hampelmänner des systems und beliebig gegeneinander austauschbar, mögen sie bei uns schröder, merkel, stoiber und fischer heißen oder woanders bush, gore, reagan, clinton, gorbachow, jelzin oder putin. Wenn das system regiert, ist es völlig bedeutungslos geworden, wer regiert. Die demokratische wahl und damit die demokratie selbst wird zur farce. Der unterschied zwischen regierung und opposition ist nur noch ein rhetorischer und in der sache so minimal geworden, dass immer mehr wähler die flinte ins korn werfen und gar nicht mehr wählen gehen. Der rapide vertrauensverfall der wähler gegenüber ihren politikern wird auch dir nicht verborgen geblieben sein.

Der freiheit eine bresche schlagen! Jawohl! Aber wo du im goldenen antlitz des kapitalismus durchweg schon die freiheit verwirklicht siehst, die sogar seine schäbigen züge relativiert, da sehe ich nur hemmungslose abhängigkeit von nie zu befriedigenden trieben. Freiheit im kapitalismus heißt ja immer nur ungehemmte triebbefriedigung. Ich verstehe ja, dass du als gehemmter nach ihr gierst. Aber was hat diese freiheit mit vernunft zu tun? Frei ist im philosophischem sinne nur der, der dem diktat der universellen vernunft folgt. Eben das macht die freiheit des menschen aus, seine autonomie, dass er sich nicht heteronom wie das tier von seinen trieben lenken lässt, sondern nur von dem, was er als vernünftig eingesehen hat. Dass diese freiheit zwangscharakter hat und mitunter gar nicht so angenehm ist, wird dir als pflichtmenschen wohl nicht unbekannt sein und es ist nicht ohne witz, dass gerade ich, als der von dir so verschrieene hedonist, dich daran erinnern muss.

Ich gebe allerdings zu, mit diesem philosophischen begriff von freiheit, der in diametraler opposition zum geläufigen freiheitsbegriff steht, schon meine schüler zur weissglut gebracht zu haben. Von der freiheit, zu tun und zu lassen, zu was man lust hat, will niemand lassen, selbst wenn die philosophische einsicht sie als unfreiheit brandmarkt. Auf den freiheitsbegriff der aufklärung eine gesellschaft aufbauen zu wollen, ist illusionär. Da gebe ich dir und marx recht. Die menschen werden eben nicht von der vernunft, sondern von ihren interessen gelenkt. Das zu leugnen fällt nur ideologen ein. Deshalb verwirft ja marx alle gesellschaftsmodelle als utopien, die auf gerechtigkeit und moral setzen, ohne dabei die materiellen interessen der menschen zu berücksichtigen. Die sogenannten real existierenden sozialistischen staaten sind schlicht und einfach nur deshalb zusammengebrochen, weil sie die materiellen interessen der menschen kaum noch befriedigen konnten, und nicht am mangel der freiheit.

Die beschneidung der freiheit, die zweifellos zum wesen der sozialistischen diktatur gehört, ist im kapitalismus kontraproduktiv und kann wenn vorhanden nur als periphäre vorübergehende erscheinung gedeutet werden. Wenn du schreibst:

Noch sind Kneipen und Kinos und Theater und Opernhäuser und Verlage und Redaktionen erlaubt - und werden z.T. sogar bezuschusst - nicht nur zum Wohle des ideellen Gesamtkapitalisten bzw. zum Nutzen des nationalen Profits, behaupte ich.

so beweist du hier ein fundamentales missverstehen des kapitalistischen systems. Im kapitalismus wird nichts verboten. Verboten sind hier nur verbote, weil jedes verbot die verwertungsmöglichkeit des kapitals einschränkt. Warum auch sollen kneipen, kinos und theater verboten werden, wenn dort viel geld zu verdienen ist? Hollywood ist eine riesige gelddruckmaschine, ein kapitaler zweig des kapitalismus, durchaus also zu nutz und frommen des kapitals.

Schwierig wird es im kapitalismus immer nur dort, wo das kapital sich nicht verwerten kann, wo institutionen wie das theater und insbesondere die oper vom staat oder der kommune bezuschusst werden müssen, weil das kapitalaufkommem durch die einnahmen der konsumenten nicht mehr gedeckt werden kann. Zu verbieten braucht man die oper nicht, sie würde von alleine vom markt des kulturangebots verschwinden, wenn nicht die staatstragende mittelklasse an ihr so interessiert wäre, die sich ihr ästhetisches vergnügen von allen steuerzahlern finanzieren lässt, also auch gerade von der arbeiterklasse, die mit der oper nichts am hut hat.

Gerecht ist das nicht, aber dafür schön. Ich liebe die oper und bin glücklich, dass die arbeiterklasse mir mein vergnügen ermöglicht (unbezuschusst kostete ein platz in der bonner oper 350 DM, habe ich läuten hören). Im augenblick allerdings hat das große jammern angefangen. Die kommunen haben kein geld mehr. Die kulturetats werden erbarmungslos zusammengestrichen. Die bonner oper hat 100 angestellte entlassen und landauf und landab werden noch bestehende theater aufgelöst. Selbst die steckenpferde der staatstragenden klasse werden zum schlachter gebracht, was illustrativ zeigt, dass einzig der kapitalattraktor in unserem land regiert. Die feigenblätter, die ihn notdürftig verborgen haben, werden welk und welker. Die nackte schande wird offenbar: unser staat wird mehr und mehr zur hure des kapitals, ohne seine funktion als ideeller gesamtkapitalist noch erfüllen zu können: die verelendung der arbeiterklasse nämlich zu verhindern.

Dein einwand gegen meine sichtweise ist deren einseitigkeit. Du wirst ja gerne zugeben wollen, dass der staat auch die funktion des ideellen gesamtkapitalisten zu erfüllen hat, aber - und darauf bestehst du - eben nicht nur. Seine funktion in der aufrechterhaltung und förderung des rechts, der gesundheit, der wissenschaft, der bildung, der kunst, der kultur ist von ethischen und ästhetischen kriterien bestimmt und gerade nicht vom kapital. Ich will dir ja gerne recht geben, zumal ich in meinem modell genau diese funktion für den staat reklamiere.

Die empirische wirklichkeit sieht aber leider anders aus. Die einseitigkeit, die du kritisierst, ist nicht meiner sichtweise geschuldet, sondern einer wirklich stattfindenden entwicklung. Solange die wirtschaft prosperierte und die steuern flossen, konnte der staat es sich leisten, seine kulturpolitik nach ethischen und ästhetischen kriterien zu gestalten. Jetzt aber, wo die steuern nicht mehr so üppig fließen, wird ja für jeden deutlich, wo der staat zuerst spart, mit welcher einseitigkeit er spart und vor allem, wo er nicht spart und wen er steuerlich sogar begünstigt. So sachlich zwingend diese politik auch immer sein mag, so zeigt der eklatante bruch mit dem prinzip der gerechtigkeit deutlich, dass der staat nicht mehr nach ethischen kriterien seine politik betreibt und im kapitalistischem system auch gar nicht betreiben kann. Selbst der moralische überbau der gesellschaft, der sich nicht nach den kriterien der profitabilität definiert, wird getragen und erhalten von der kapitalistischen wirtschaft und stirbt als erster, wenn der kapitalismus in die krise gerät.

Du aber glaubst an den moralischen attraktor in der politik, so wie der christ, der jude und der moslem an gott glauben, nach dem prinzip: credo quia absurdum!

Ich behaupte, dass z.B. in Sachen Ökologie (Katalysator, Abschaltung der AKW's) und Bioethik bzw. Genetik der Staat (die Politik) Moral und damit Rückgrat bewiesen hat.

Deine behauptung ist mehr als kühn. Beim ersten einführungsversuch der katalysatorpflicht ist der staat eingeknickt und hat sich gegen das interesse der nationalen autoindustrie nicht durchsetzen können. Die katalysatorpflicht wurde erst dann eingeführt, als die ausländische konkurrenz autos mit katalysator auf den markt geworfen hat und die deutsche autoindustrie mitziehen musste. Die moralisch gebotene abschaltung der akw’s erfolgt nicht gegen das interesse der stromkonzerne. Die gewährte 30 jährige restlaufzeit ist nämlich gerade so lang, wie die weltweit vorhandenen uranvorräte noch reichen.

Eine moralisch gebotene ökologische politik, die der kapitalistischen ökonomie widerspricht, hat die regierung gerade nicht durchsetzen können. Die sogenannte ökologische steuer hat keine ökologische funktion. Sie will erklärtermaßen nur die lohnnebenkosten senken. Und wie die ökologischen vereinbarungen von kyoto weltweit durchgesetzt werden können, wenn nun neben den usa auch russland ausscheren will, bleibt ein geheimnis.

Was im übrigen von der moralischen atompolitik der regierung zu halten ist, zeigt sich jetzt im verkauf der hanauer plutoniumsanlage an china. Mich wundert nicht, wenn sich hier schröder gegen die grünen durchsetzt.

Wenigstens in der bioethik habe der staat moral und rückgrat gezeigt, sagst du. Selbst wenn das wahr ist und ich davon absehe, wie schröder, zypries und clement bemüht sind die moralische schranke für das kapital durchlässig zu machen, so bedeutungslos ist letztlich diese moralische grenzsetzung für das kapital. Wenn die embryonenforschung in deutschland nicht mehr möglich ist, dann geht sie eben ins ausland. Das kapital, auch das nationale kapital, lässt sich die enorme verwertungsmöglichkeit der genforschung nicht entgehen und wird dort hinfließen, wo die unmoralische forschung stattfinden kann. Schon jetzt sehen wir, dass die moralisch integre position des deutschen staates in europa auf widerstand trifft und die europäische kommission zu keiner einheitlichen regelung des embryonenschutzes gelangt. Selbst wenn also der staat einmal moralisch handelt, so bleibt diese seine moralische handlung bedeutungs- und wirkungslos, wenn sie nicht gleichzeitig auch im interesse des kapitals ist. Der nationalstaat zumindest ist nicht mehr in der lage, dem grenzenlos agierenden kapital moralische standards zu setzen. Deshalb kann er es ebenso bleiben lassen. Es ist nicht ohne logik, wenn schröder und co. die moralische schranke wieder einreißen wollen, weil sie mit ihr einen standortnachteil für deutschland befürchten. Vielleicht schließen profit und moral sich nicht immer gegenseitig aus. Aber wenn sie miteinander in konflikt geraten, was ja häufig genug vorkommt, dann spielt die moral keine rolle mehr. Das – so scheint mir – ist eines der ehernen gesetze im kapitalistischem system.

Mir kommen die tränen, wenn ich unsere politische elite über den sich nun auch hier ausbreitenden raubtierkapitalismus jammern höre. So klagt helmut schmidt in der jüngsten ausgabe der ZEIT über die zunehmende unmoralität deutscher konzernmanager, die verantwortungslos nur an ihren profit denkend die deutsche industrie an die wand fahren lassen und fordert allen ernstes einen moralischen kapitalismus, der in deutschland existiert habe und deutschland erst groß gemacht habe. Seit wann hat es in deutschland oder anderswo je einen moralischen kapitalismus gegeben? Wird der kanonenbauer krupp dadurch moralisch, dass er für seine arbeiter lichte wohnungen baute? Hatte krupp nicht auch interesse an gesunden und loyalen arbeitern, die ihm die guten kanonen bauten? Was man doch bestenfalls sagen kann, ist, dass krupp seine profitinteressen mit den Interessen seiner arbeiter nach guten lebensbedingungen aufs trefflichste hat verbinden können. Die von schmidt so schmerzlich vermisste verantwortung des unternehmers für die gesamte belegschaft, die der heutige managertypus nicht mehr hat, weil er nicht mehr der eigentümer des betriebes ist, ist nie eine frage der moral gewesen, sondern immer schon eine optimierungsstrategie für den profit gewesen. Und genau dieselbe optimierungsstrategie führt unter den heutigen produktionsbedingungen dazu, sich von möglichst vielen teuren mitarbeitern zu trennen und sie nicht an den betrieb zu binden, was vormals unter anderen arbeitsmarktbedingungen opportun war. Sicherlich wird der unternehmer, der noch eigentümer des betriebes ist, größere skrupel beim abbau der belegschaft haben als der für den betrieb eingekaufte managertypus, der in der regel keine persönliche beziehung zum betrieb hat. Aber notfalls wird auch er eher seine belegschaft opfern als sein kapital dezimieren. Der heutige unternehmensführer ist nicht unmoralischer, sondern nur bindungsloser seinem betrieb gegenüber als der noch persönlich haftende eigentümer, der noch seinen betrieb persönlich führt. Sein verantwortungsbereich ist nur noch auf die profitmaximierung des betriebes beschränkt. Nicht der belegschaft muss er rede und antwort stehen, sondern einer gruppe von aktienbesitzern, die ebenso wenig eine beziehung zum betrieb und nur interesse am profit haben. Den mannesmannaktienbesitzern war der konzern mannesmann völlig egal. Ausschlaggebend war bei ihnen der gewinn, den sie durch den tausch ihrer aktien in vodaphoneaktien erzielen konnten. Ebenso konsequent handelte der konzernchef esser. Wenn er schon durch die feindliche übernahme von mannesmann durch vodaphone gehen musste, dann zu dem höchst möglichen preis, den er durch einen deal mit vodaphone erreichen konnte. Natürlich ist die exorbitante abfindungssumme von 30 Millionen € unerträglich, insbesondere angesichts der vielen mannesmänner, die durch die übernahme den arbeitsplatz verloren haben. Aber ist hier die unmoralität der person esser zu beklagen oder die unmoralität des systems, das zwangsläufig derartiges verhalten produziert? Der paternalistisch geführte betrieb, den schmidt mit moralischem kapitalismus verwechselt, gehört längst der vergangenheit an. Das großkapital hat sich von der beziehung zum persönlichen eigentümer gelöst und damit auch von dessen moralischen skrupeln. Es ist, wie marx sagt, quasi zu einem eigenen subjekt geworden, das die menschen zu objekten macht. Welch ungeheure beklagenswerte verblendung hat unsere politische elite befallen, dass sie diesen sachverhalt nicht mehr zu durchschauen vermag und stattdessen dort moral einfordert, wo a priori moral keinen bestand hat.

Ich bin ja durchaus dafür die universalistische moral der aufklärung zu einem wirksamen gesellschaftlichen attraktor zu machen und nicht zu einem bloß ideologischen attraktor, der keine politische wirksamkeit entfaltet. Dieser kann aber nicht im feld der kaptalistischen wirtschaft installiert werden, wie schmidt es will. Im gegenteil: die wirtschaft sollte von allen fesseln befreit werden, wie der neoliberalismus es will. Deshalb fordere ich in meinem modell, dass der staat neben der wirtschaft ein tätigkeitsfeld eröffnet, das ausschließlich von der vernunft bestimmt wird, in dem also der moralische attraktor seine wirksamkeit entfalten kann. Tätig werden können in diesem feld alle, für die der kapitalistische markt keine verwendung mehr findet, denn zur moral gehört, dass jedem staatsbürger die möglichkeit gegeben wird, sich einen ausreichenden lebensstandard zu erarbeiten. Die vollbeschäftigung, die der kapitalistische markt nicht mehr erreichen kann, wäre damit wieder möglich. Unbezahlbar höre ich die neoliberalen schreien. Aber warum unbezahlbar?

Die wertschöpfung erfolgt im eigentlichen sinne durch jede sinnvolle tätigkeit, die dem allgemeinwohl dient und nicht nur durch arbeit, die auf dem markt verwertbar ist und kann deshalb auch durch lohn abgegolten werden. Die staatliche oder kommunale tätigkeit ist sinnvoll und sogar für die existenz der gemeinschaft und teilweise auch des kapitals notwendig, aber sie ist keine ware auf dem kapitalistischen markt. Das problem des kapitalistischen marktes ist, dass er nur einen teil der arbeitsteiligen gesellschaft absorbieren kann. Nur ein kleiner teil der gesellschaftlichen arbeitsteilung, die sich im staatlichen feld fortsetzt, ist auch für die existenz des kapitals notwendig. Ein großer teil sinnvoller tätigkeit, die erst die qualität des gesellschaftlichen lebens ausmacht, ist aber für die existenz des kapitals nutzlos, purer luxus quasi, der deshalb jetzt in der wirtschaftskrise dem rotstift zum opfer fällt. Aber was für das kapital nutzlos ist, ist noch lange nicht nutzlos für das wohlergehen der gemeinschaft. Was für alle notwendig ist, muss auch von allen getragen werden. Nicht die steuer muss erhöht werden, sondern die steuer muss von allen entrichtet werden. Wusstest du schon, dass die ärmsten kommunen die villenvororte von frankfurt sind, wo massiert nur reiche wohnen? Es ist ein jammer, mitansehen zu müssen, wie hier unsere politische klasse versagt und sich zur hure des kapitals degradiert. Klar, auch mein modell braucht die kapitalistische kuh, deren milch den staatlichen sektor nährt. Aber die hirten sollen ihr genügend weidegras zur verfügung stellen und sie nicht mit der milch mästen, die sie produziert und dabei die menschen verhungern lassen!

Das credo der neoliberalen lautet: man darf die kuh nicht schlachten, wenn man sich von ihr ernähren will. Schön, was aber, wenn die kapitalistische kuh uns die milch vorenthält und sie selber säuft? Dann brauchen wir die kuh nicht mehr und werden sie in unserem hunger schlachten!

Aha! Schreist du. Jetzt zeigt er sich endlich, der schlächter, der blutige bärtige revolutionär! Ja, aber der blutige revolutionär bin nicht ich, sondern das kapital, das sich und die menschheit zu fall bringt und in die verelendung stürzt, wenn die politik weiterhin so ohnmächtig dem kapital hinterher rennt.

In meinem modell zeige ich einen weg, wie sich der kapitalismus bis zur erschöpfung austoben kann, ohne dabei die gesellschaft in den abgrund zu reißen. Mein modell wäre dann der zweite versuch nach lenin, die marxsche theorie zu widerlegen. An dieser widerlegung ist dir doch gelegen, oder?

Mit kapitalem gruß     harald