Harald von Rappard (Mai 2002)

Des Pudels Kern ist der ganz gewöhnliche bürgerliche Hund

Ideologiekritische Anmerkungen zum Abiturtext mit echtem Gymnasialniveau

These des Autors:

Die Kritiker, die die Gewalt der Straße zwar bedauern, aber sie aus den gesellschaftlichen Bedingungen zu erklären versuchen, unterminieren die öffentliche Moral, mit der Folge, dass die jugendlichen Straftäter immer weniger zur Rechenschaft gezogen und damit zu weiteren Straftaten ermuntert werden.

Prämisse des Autors:

Nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse, nicht die Armut, nicht die Depravation, nicht gesellschaftliche Ungleichheit, sondern einzig die intakte Moral sorgt dafür, dass der Mensch keine Straftat begeht.

Forderung des Autors:

Es gilt deshalb die moralische Verurteilung der Gewalt zu stärken und jede gesetzwidrige Gewaltausübung als Tabubruch zu sanktionieren und mit Strafverfolgung zu belegen, und zwar ohne Wenn und Aber. Jedes Bemühen die Straftat aus dem gesellschaftlichen Kontext her begreifen zu wollen, ist deshalb kontraproduktiv, weil sie Verständnis für die Straftat statt Verurteilung der Straftat erzeugt.

Das Axiom des Autors (das er selbst nicht hinterfragt):

Der Mensch ist Subjekt seines Handelns und damit voll verantwortlich für sein Handeln. Ob ein Mensch über Moral verfügt oder nicht, ist keine Klassenfrage, sondern eine Charakterfrage und eine Erziehungsfrage. Wer über kein moralisches Gewissen verfügt, kann nur durch drakonische Strafandrohung von der Straftat abgehalten werden (nach dem Prinzip timor poenae)

Ideologiekritische Anmerkungen:

Der Autor vertritt paradigmatisch die Ideologie des Bürgertums und ist sich der bürgerlichen Beschränktheit seines Horizontes nicht bewusst.

1. Die völlige Überbewertung der Moral
Es ist ein bürgerliches Vorurteil zu glauben, der Mensch würde seine Handlungen nach moralischen Grundsätzen ausrichten. Primär werden seine Handlungen durch Interessen bestimmt. Die moralische Rechtfertigung erfolgt in der Regel erst im Nachhinein (Brechts Lehrsatz: Erst kommt das Fressen, dann die Moral).

2. Die bürgerliche Moral geht in der Praxis nicht über den Nutzen hinaus. Gut ist nur, was nützt, und schlecht ist, was schadet. Eine über den Nutzen hinausgehende universalistische Moral, die z B. Kant einfordert, existiert nur im Kopf des Bürgers, nicht in seinen Handlungen.

3. Die herrschende Moral ist immer die Moral der Herrschenden. An das moralische Gebot "Du sollst nicht stehlen!" hat sich nur der Besitzlose zu halten, nicht aber der herrschende Eroberer, der Broker, der Kapitalist. Als unmoralisch gilt im bürgerlichen Horizont der Einbruch in die Bank, nicht aber die tagtäglich stattfindende Enteignung Tausender von Menschen durch die Bank (sic! Herr Deppe!) Die Zerschlagung von Eigentum ist für jeden Eigentümer ein unmoralischer Akt, wieso aber für diejenigen, die vom Eigentum ausgeschlossen sind? Welches moralische Interesse haben die Habenichtse am Bestand fremden Eigentums? Den jugendlichen Straftätern fehlt nicht die Moral, sondern die bürgerliche Moral ist nicht mehr die ihre.

4. Verkehrung von Schein und Wesen, von Ursache und Wirkung. Nicht die Moral bestimmt die gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmen die "gängigen", d.h. praktizierten Moralvorstellungen, die durchaus im Widerspruch zur geltenden Moral stehen können.

5. Eine Klassengesellschaft, die auf der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beruht und damit ein Gewaltverhältnis zwischen den Menschen begründet, erzeugt mit Automatismus die Moral der Ellbogengesellschaft, in der der Schwächere zugunsten des Stärkeren entrechtet wird. Die Moral der Fürsorge, des Mitleids, der Solidarität wird zwangsläufig in der Ellbogengesellschaft erodiert und zu einem kaum noch wirksamen gesellschaftlichen Attraktor.

6. Wer die mangelhafte Moral in der Gesellschaft beklagt, der muss also die mangelhaften gesellschaftlichen Verhältnisse verändern, die zu einer mangelhaften Moral geführt haben und führen.

7. Im bürgerlichen Horizont dagegen erscheinen nicht mehr die gesellschaftlichen Verhältnisse als die eigentliche Ursache mangelhafter Moral, sondern der mangelhafte Charakter des einzelnen Menschen und sein mangelhafter Wille. In der Ideologie des Bürgertums bestimmt der Mensch seine Moralität und nicht die Gesellschaft. In Freiheit - und nicht in Abhängigkeit von moralischen Konventionen - gibt er sich das moralische Gesetz , an das er sich halten will. Genau das macht seine Autonomie, seine Selbstbestimmung aus, und damit auch seine Verantwortlichkeit. Er ist sich sein eigener Gesetzgeber. Das moralische Gesetz hat er nicht aus der Tradition übernommen. Er hat es durch eigenes Nachdenken aus der Vernunft abgeleitet. Da die Vernunft universalistisch ist und jeder Mensch nach Kant ein Vernunftwesen ist, kommt jeder Mensch durch Nachdenken zum selben Resultat: zu einem einzigen moralischen Gesetz mit universaler Gültigkeit, das durch Kant als Kategorischer Imperativ formuliert worden ist. Der Mensch als Vernunftwesen weiß also a priori, was gut und böse ist. Weicht er im Handeln vom moralischen Gesetz ab, so kann er keinen anderen als nur sich selbst dafür verantwortlich machen.

8. Kein Zweifel: die jugendlichen Straftäter verstoßen mit ihrer praktizierten Moral - so sie denn eine haben - gegen das universalistische Moralgesetz und wissen, dass sie in ihren Gewalttaten gegen die geltende Moral verstoßen. Ebenso unstrittig ist, dass sie die Freiheit haben, die böse Tat zu unterlassen. Kein gesellschaftliches Verhältnis zwingt sie zur bösen Tat. Soweit sie absichtlich handeln, sind sie voll verantwortlich für ihr Handeln.

9. Dennoch greift der Strafansatz zu kurz. Die Frage, die sich der Autor nicht stellen will, ist, warum sich die Jugendlichen so verhalten, wie sie sich verhalten und warum das moralische Gesetz keinen Einfluss auf ihre Handlungen hat. Die Antwort ist ganz einfach. Das moralische Handeln im Sinne des Moralgesetzes bringt in der Ellbogengesellschaft keinen Nutzen. Wer nach dem kategorischen Imperativ handelt, hat in der Ellbogengesellschaft das Nachsehen. Durchsetzen kann sich hier nur der, der sein Handeln dem Nützlichkeitsprinzip unterwirft. Eine moralische Handlung bleibt im System der Konkurrenz bestenfalls folgenlos. Der Spaßfaktor bei der unmoralischen Handlung hat für den Depravierten offensichtlich einen höheren Nutzeffekt als der angedrohte Schadenseffekt durch die Strafverfolgung, die umgekehrt sogar den Spaßfaktor ungemein erhöht. Deshalb führt die von den Konservativen immer wieder beschworene und angestrebte Strafverschärfung keineswegs zur erwünschten Eindämmung der Straftaten, sondern potenziert diese gar. Die Länder mit der schärfsten Strafverfolgung sind bemerkenswerter Weise die Länder mit den meisten Verbrechen, was die USA beispielhaft demonstrieren. Natürlich sind dies die Länder mit der größten sozialen Kluft zwischen arm und reich. Die Schärfe der Strafverfolgung ist immer auch ein Indikator für die Größe des Bevölkerungsteils, der vom gesellschaftlichen Reichtum ausgeschlossen ist. Je egalitärer eine Gesellschaft ist, desto weniger Straftaten kommen vor.


Es zeugt von unglaublicher bürgerlicher Beschränktheit, den kausalen Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Depravation und Verbrechensrate nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen. Diese Beschränktheit und ideologische Verblendung folgt allerdings zwangsläufig aus dem bürgerlichen Horizont. Der Bürger sieht nur die Motive seines Handelns, die er sich bewusst machen kann, die er begründen und verwerfen kann. Er sieht aber nicht die kausalen Ursachen seines Verhaltens, die gerade nicht durch sein Bewusstsein bestimmt, sondern durch die kapitalistischen Konkurrenzverhältnisse bedingt sind, die seinem Bewusstsein als Bürger transzendent bleiben. In seinem Bewusstsein ist er ja der frei agierende Mensch, der sein Handeln bestimmt. Dass dies bloße Ideologie ist, die sein wirkliches kausaldeterminiertes Verhalten verschleiert, durchschaut er nicht. Er weiß nicht, dass die Moral, die er naturwüchsig in sich vorzufinden meint, eine längst vergangene Klassenmoral ist, nämlich die des Bürgertums des 18.Jahrhunderts, des Jahrhunderts der Aufklärung, die gar nicht mehr mit den kapitalistischen Verhältnissen kompatibel ist. Dass nicht er, sondern das Profitgesetz sein Handeln und Verhalten bestimmt, erfährt er tagtäglich, ohne es zu begreifen. Eben sowenig begreift er, dass die gesellschaftliche Depravation Resultat seines eigenen Handelns ist. In seinem ideologischen Bewusstsein sind die Depravierten für ihre Lage selbst verantwortlich und nicht das von ihm selbst tagtäglich erzeugte Gesellschaftssystem, das in seinem ideologischen Bewusstsein kein Profil gewinnt und deshalb unerkannt bleibt.

Dass nun allerdings in der Schule diese ideologische Borniertheit nicht mehr durchschaut wird, ist mehr als ein Ärgernis. Zeigt sie doch den Verfall der Reflexionsfähigkeit und ein derart mangelhaftes Reflexionsniveau, das vor 30 Jahren noch nicht vorstellbar gewesen ist. Und dieser bürgerliche Dünnschiss soll nun als musterhafter Abiturtext, von der Schulbehörde kritiklos genehmigt, den Eleven zur geistigen Nahrung dienen! So sind dann die deutschen Studienräte nach ihrem 30jährigen Marsch durch die Institution endlich dort angekommen, worauf sie immer schon gekommen sind: auf den bürgerlichen Hund.